Laurids Bruun
Van Zantens wundersame Reise
Laurids Bruun

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10. Unter dem lebendigen Licht

Als ich erwachte, war es tiefe Nacht. Ich lag am Fuße einer steilen Treppe, die in den nackten Felsen eingehauen war.

Am Ende der Treppe war die weiße Mauer, die ich schon lange in der Ferne gesehen hatte. Ich eilte zu ihr hinauf.

Der Aufstieg über die roh ausgehauenen Stufen war beschwerlich, und ich geriet ganz außer Atem, bevor ich die Terrasse vor der Mauer erreicht hatte. Darüber wölbte sich die dunkle Kuppel, und darüber wiederum flammten die sieben großen Fackeln auf jeder Seite des Ständers.

Eine dunkle Tür war in der weißen Mauer, die dem Flügel eines Klosters glich.

Hier wohnt ein Mönch, dachte ich, und da ich Licht hinter einem Guckloch hoch oben sah, klopfte ich an.

Die Tür wurde geöffnet, und eine Hand zog mich über die Schwelle.

Es war kein Greis mit klugen Augen in einem kindlich milden Gesicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, sondern ein Mann in seinen besten Jahren in einem langen, weißen Talar.

Indem sein Blick auf mir ruhte, mußte ich mich der Worte der Königin erinnern, als ich sie nach dem Aussehen des Fremden gefragt hatte: »Ich weiß nicht, ich sah nur seine Augen.«

Ja, ich sah nur seine Augen, und ich wußte, daß ich vor ihm stand, den ich suchte.

»Du bist bei der Königin der Nebelinsel gewesen,« sagte ich, »du bist der ›Zünder‹. Und nun sehe ich, daß du der Wächter des Lichtes bist.«

»Komm!« antwortete er, nahm wieder meine Hand und führte mich über die Terrasse zu der Seite des Gipfels, die der Insel zugewandt war.

Unter uns lag der Nebel wie eine Mondlandschaft mit helleren und dunkleren Schatten zwischen ausgebrannten Kratern. An einer Stelle war eine runde Dämmerung, als ob der Vollmond darunter stände und sein Licht hindurchzwänge. Und ich begriff, daß es die Stelle war, wo die Turmsonne hoch über der Stadt ihr künstliches Licht gegen die Nebeldecke sandte.

Er führte mich durch eine dunkle Wölbung und über mehrere Stufen eine Wendeltreppe hinauf. Dann öffnete er eine schmale Tür, und wir traten auf eine Galerie, die um die Innenseite der Kuppel führte.

Über uns verlor die hohe Wölbung sich in Dunkelheit, und unter uns war ein Kirchenraum, dessen Boden wie ein Garten aussah. Da waren Beete in regelmäßigen Vierecken, durch schmale Wege voneinander getrennt: in den Beeten aber wuchsen statt Blumen Lichter.

Ein Windhauch strich über die Beete, und die Flammen flackerten. Dort verlöschte eine Flamme wie eine Blume, die gebrochen wird und stirbt, hier wurde eine Flamme niedergehalten wie eine Seele, die vom Leben gebeugt ist. Kaum aber legte der Wind sich, als auch die Flamme sich wieder zur vollen Höhe aufrichtete.

Ergeht es einer Seele ebenso? dachte ich, oder kann sie so lange niedergehalten werden, bis sie sich nicht mehr aufzurichten vermag?

Ich sah den Mann, der sich ›Zünder‹ nannte, fragend an.

»Für jeden,« sagte er, »der sich durch Arbeit und Gebet zur Zinne hinaufkämpft, wird eine Flamme entzündet. Das sind die Lichter, die du hier im Kuppelgarten siehst; aber auch aus der eigenen Zinne des Menschen bricht Licht hervor, – das ist die Flamme, die du auf seiner Stirn siehst. Jeder, dessen Licht hier brennt, kann sich ein brennendes Scheit davon holen und zum Dach seines Hauses tragen, damit es über seinem Heim, seiner Arbeit und seinen Kindern leuchtet. Es sind Flammen des lebendigen Lichtes.«

»Und wo befindet sich dieses Licht?«

»Komm!« sagte er und zeigte mir den Weg.

Wir gingen längs der Galerie, bis wir zu einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite kamen. Durch diese traten wir auf den äußeren Rundgang der Kuppel hinaus. Im selben Augenblick aber wurde ich so geblendet, daß ich meinen Kopf tief senken mußte. Lange dauerte es, bevor ich, die Hände vor den Augen, meinen Blick zu heben wagte.

Da sah ich, daß der Lichtständer über der Kuppel, den ich von unten gesehen hatte, ein Kreuz war, ein einfaches Holzkreuz, von dessen Seitenarmen sieben Riesenflammen in den dunklen Himmel züngelten.

Mir schwindelte, ich griff durch die Luft, um nicht zu fallen, und meine Hand traf die des ›Zünders‹, der neben mir auf den Knien lag.

Ich fühlte mich zu ihm hinabgezogen und blieb in Angst und Beben neben ihm liegen; schließlich erhob er sich.

Wir kehrten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, bis wir wieder auf der inneren Galerie standen und über den Kirchengarten blickten.

»Entzünde auch mir ein Licht,« bat ich.

Er betrachtete mich lange aufmerksam, führte mich darauf in den Kirchenraum hinunter zu einer der Säulen, die die Kuppel trugen.

Ich hielt sein Schweigen für Ablehnung und mußte mir selbst mit einem Seufzer gestehen, daß ich eigentlich kein Licht verdient hatte. Hatte ich mir meine Arbeit je sauer werden lassen, und wie stand es mit Gebeten?!

Da beugte er sich herab, öffnete eine Luke am Fuß der Säule und sagte:

»Steige diese Treppe hinab, so weit du kommen kannst.

Wenn du unten kein Licht findest, dann ist keines für dich da.«

Es war eine Wendeltreppe, und es war sehr dunkel. Kaum war ich unten, als die Luke über meinem Kopfe zugeschlagen wurde; und ich erschauderte wieder wie am vorhergehenden Abend an der Stadtmauer.

Meine Lampe wagte ich nicht anzuzünden, weil ich fürchtete, daß ich das Licht übersehen könnte; denn davon war ich überzeugt, wenn überhaupt ein Licht für mich brennen würde, dann konnte es nur ganz klein sein.

Immer weiter nach unten, beständig im Wendelgang, und noch immer kein Licht.

Endlich hatte die Treppe ein Ende. Als ich mich aber mit dem Fuße vorwärtsfühlte, fand ich eine Öffnung daneben wie einen Schacht, an dessen Seite Stufen ausgehauen waren. Ich rief »Hallo!« und bekam Antwort von so tief unten, daß mir der Mut sank. Nach einigen Minuten des Zögerns aber setzte ich dennoch den Abstieg fort, und nachdem ich noch ein gutes Stück hinabgestiegen war, tauchte wirklich eine Dämmerung unter mir auf.

Mein Herz klopfte so laut, daß ich es in der großen Stille hören konnte. Die Hoffnung gab mir frische Kräfte. Noch ein Stück, und die Dämmerung wurde zu einem kleinen blanken Lichtreflex, den ich für den Spiegel eines Grundwassers hielt, der von irgendeiner Öffnung, die ich finden mußte, Licht bekam.

Noch ein Stück – und das Blut erstarrte mir in den Adern! Denn was ich dort unten sah, war kein Wasserspiegel, sondern ein blankes Auge, das mir entgegenblickte –

»Ali!« rief ich, im Innersten tief ergriffen.

Alles drehte sich vor meinem Blick. Ich klammerte mich mit Händen und Füßen an die kahlen Stufen, um nicht zu fallen. Dann weiß ich nichts mehr. –

Als ich wieder zu mir kam, saß ich noch immer gebeugt auf der Stufe, das Licht aber war entschwunden.

Ich arbeitete mich nach oben, so schnell meine Kräfte es erlaubten. Schließlich stand ich wieder auf dem Absatz vor dem Schacht, ließ mir aber keine Zeit zum Ausruhen.

Als ich das letzte Ende der Wendeltreppe erreicht hatte, schimmerte ein Lichtstrahl von oben herab. Es war der dämmernde Tag, der durch die Ritzen der Luke zu mir herab drang.

Ich überlegte nicht, ob ich das Licht, von dem der Wächter gesprochen, gefunden hatte, – die Freude, den Tag wiederzusehen, das Leben in mir aufrechterhalten und fortgesetzt zu fühlen, erfüllte mich ganz.

Kurz darauf stand ich neben der Säule im Sonnenschein, der durch die langen Fensterscheiben der Kuppel flutete.

Ich hörte Schritte. Es war der Wächter, der aus seiner Zelle zu mir trat.

»Ich starrte in einen tiefen Schacht,« flüsterte ich –

»Es war der Brunnen deines eigenen Herzens, in den du hinabgesehen hast.«

»Habe ich ein Licht bekommen?« fragte ich zaghaft.

Er schien meine Worte nicht gehört zu haben und führte mich zu einer Zelle. Dort bot er mir sein Lager zum Schlafen an.


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