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Die Königin gab dem Polizeichef zu verstehen, daß sie fertig sei, und überantwortete ihm Toko mit einer Handbewegung.
Wie aus der Erde gewachsen, standen plötzlich die beiden Sekretäre aus dem Untersuchungszimmer an Tokos Seite.
Toko sah sich hilfeflehend nach mir um, denn er verstand, um was es sich handelte. Ich beruhigte ihn, so gut ich es vermochte, indem ich ihm sagte, es sei nur eine vorläufige Inhaftnahme. Dennoch sah ich ihn schweren Herzens im Fahrstuhl verschwinden.
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als die Königin eigenhändig eine andere Tür öffnete und mich eintreten hieß, indem sie mir zu verstehen gab, daß ich in ihrer unmittelbaren Nähe verwahrt werden sollte, damit sie mich persönlich beobachten könne.
Der Raum, in den ich trat, war lang und schmal, die Außenwand ganz aus Glas, er war ein Teil von dem Rundkreis des Turmes. Das Zimmer der Königin bildete die eine Hälfte des Kreises, während eine Reihe schmaler Kammern, der Fahrstuhlraum, der Schrankraum und dergleichen die andere Hälfte des Turmzimmers bildeten.
Eine von diesen Kammern war mein Gefängnis.
Der Lärm der Stadt drang nicht bis hier herauf. Wie hoch ich mich befand, konnte ich unmöglich bestimmen; doch glaube ich, daß kein Kirchturm noch ein Wolkenkratzer, von denen ich gelesen habe, sich mit diesem Königinturm messen konnten.
Den ganzen Tag lang hörte ich das leise Sausen des Fahrstuhles. Nachts wurde die totale Stille hin und wieder von einem seltsamen Geräusch unterbrochen, von einförmigen, kurzatmigen Klagelauten, die dumpf und trostlos wie aus einer fernen Nebelsirene zu mir heraufklangen.
Ich stand auf und suchte bei dem starken Lichtschein, der aus dem Turmhut drang; ich meinte, es müßte irgendein Notsignal sein; aber ich konnte nichts entdecken. Nur der obere Teil der Häuserreihen, die von dem Turm in Radien ausstrahlten, wurde von dem Turmlicht erhellt, denn der Nebel war des Nachts noch stärker als am Tage.
Eines Nachts, während ich schlaflos lag, merkte ich, daß die Sirenenklange ihren Standpunkt veränderten, bald klangen sie aus Osten, bald aus Westen. Feiner entdeckte ich, daß sie mit den Gruppen kleiner, unruhiger Lichtflecke in Verbindung standen, die ebenfalls bald hier, bald dort, tief unten im Nebel, hinter der Stadtmauer auftauchten.
Ich erinnerte mich der ›Nebelsänger‹ und nahm an, daß es ihr Klagegesang sei, der herausdrang, wenn die kleinen grauen Tiere geblendet in das sehnsüchtig begehrte Licht flogen, das ihr Tod war, und zur Ernährung der Inselbewohner, von der auch ich jetzt meinen täglichen Anteil bekam, beitrug.
Eine Schale mit Eßstangen stand immer auf meinem Tisch, und ich söhnte mich bald mit dieser Ernährung aus, denn sie war wohlschmeckend, würzig und setzte sich fast umgehend in Krafterneuerung um.
Auch tagsüber brannte die Nebelsonne des Turmes, doch nur mit halber Kraft. Dieses Halblicht in der grauen Dämmerung warf einen toten, fahlen Schein auf den emsigen Ameisenhaufen in der Tiefe; das Licht aber wirkte derartig verstimmend auf mein Gemüt, daß ich die Nacht vorzog, mit ihren zahllosen, in Nebelgewebe verhüllten Lichtpunkten, die über den Straßenbrücken und Plattformen, den Mauern in der Stadt, und der hohen Mauer, die die Stadt vom Berge trennte, schwebten.
Das Spiel zwischen all den Lichtblitzen und dem großen Licht des Turmhutes unterbrachen die Einförmigkeit der Laut- und Lebensöde hier oben, wo die Wolkendecke des Nebelmeeres geradeswegs über meinem Kopfe zu hängen schien.
Mein stummer Gefängniswärter hatte ein Zementgesicht von unbestimmbarem Alter und einen Kopf, den er nur mühsam auf seinen dünnen Halswirbeln zu tragen schien.
Jeden Morgen, in der Sekunde, wo die Turmsonne den Anbruch des Tages durch halbe Lichtstärke ankündigte, trat er herein. Er zog mich so lange am Arm, bis ich das Bett verließ. Darauf war es die Sache eines Augenblickes für ihn, das Bett zu machen und automatisch in die Wand zu schieben, ohne daß ich je feststellen konnte, wie er es machte.
Er wusch mich, half mir in den Kittel, sorgte für alle morgendlichen Bedürfnisse, als sei ich ein kleines Kind, das er in Pflege hatte, während ein Ventilator, dessen Ursprung ich nirgends entdecken konnte, mit saugendem Geräusch meine Kammer von der verbrauchten Luft reinigte.
Darauf überließ er mich wieder meiner Einsamkeit, ohne Gruß, ebenso stumm und lautlos, wie er gekommen war.
Eines Morgens aber, nachdem er mich fertiggemacht hatte, verschwand er nicht wie gewöhnlich durch eine dunkle Paneeltür, die offenbar geradeswegs zu dem nächsten Fahrstuhl führte, sondern er öffnete, ohne ein Wort zu sagen, die Tür zum Königinzimmer, die sonst verschlossen war, und gab mir zu verstehen, indem er beiseite trat, daß ich hindurchgehen sollte.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloß, und ich stand der Königin Aug' in Auge gegenüber.
Ein fast unmerkliches Neigen des schlanken Vogelhalses. Darauf nahm sie den Bilderapparat und befestigte ihn eigenhändig auf meinem Kopf.
Ich merkte, daß ihre wundervollen Hände keine Wärme ausstrahlten. Eher wirkte die Nähe ihres Körpers wie ein kühlender Luftzug.
Das hängt wahrscheinlich mit der konzentrierten Nahrung zusammen, dachte ich bei mir; sie mag wohl die Kräfte aufrechterhalten, mehr als die notwendigste Wärme aber wird sie nicht entwickeln können. Wie soll es mir ergehen, wenn ich längere Zeit von diesen Eßstangen leben muß?
Auch ihren eigenen Kopf schmückte sie, denn dieser kombinierte Seh- und Hörapparat wirkte wirklich wie ein märchenhaftes Diadem auf ihrem kleinen runden Kopfe.
Und dann begann sie die Unterhaltung.
Sie sprach mit ihren kleinen melodischen Lauten; Bilder glitten lebendig an meinen Augen vorbei, und in meinem Kopfe wurde das Verständnis dafür sofort in der gewohnten Sprache meiner Gedanken geboren.
Daß tatsächlich die Arbeit in meinem Kopfe vor sich ging, ohne meinen Willen und meine Kontrolle, konnte ich daran merken, daß sich nach einer Weile zwischen den Ohren ein Schmerz meldete.
»Woher kommst du?« fragte sie.
Ich erkühnte mich, mit gemachter Treuherzigkeit zu antworten:
»Bin ich nicht eine Neubildung, Königin? Ein explosives Wachstumprodukt aus Klippe, Meer und Nebel?«
Sie antwortete weder durch Worte noch durch Bilder. Eine ungeduldige Kopfbewegung aber schien, in meine Sprache übersetzt, zu sagen: »Unsinn.«
»Wenn ich keine Neubildung bin,« fuhr ich fort, »muß ich wohl vom Berge stammen, wie ich bereits früher erklärt habe, da es ja außerdem nichts auf der Welt gibt. Denn daß ich kein Nebelbewohner bin, o Königin, das weißt du.«
»Bist du auf dem Gipfel des Berges gewesen?« fragte sie.
Ich erkannte die Gefahr und antwortete nach einem Augenblick der Überlegung:
»Nicht ganz oben.«
Da geschah etwas Merkwürdiges. Durch den außerordentlich feinfühligen Apparat konnte ich an den Atemzügen hören, daß ihr Gemüt in Aufruhr war. Schließlich hörte ich sie sagen:
»Wenn du vom Berge stammst, bist du wohl ihm begegnet, der sich ›Zünder‹ nennt?«
Was sollte ich antworten?
Ich verdeckte mein Zögern durch Husten, während ich ihren Blick auf mir fühlte. Schließlich nickte ich ganz schwach, so daß ich es später ableugnen konnte.
»Erzähle mir von ihm.«
Eine glückliche Eingebung ließ mich antworten:
»Ich wage es nicht.«
Wieder geschah etwas Merkwürdiges. Diese stolze, auf Erkenntnis allein eingestellte, von Verstandesgrenzen gebundene, bis zur Trockenheit eingeengte Frauenseele kam in Bewegung, diesmal so heftig, daß sie mit erregter Stimme antwortete:
»Dann werde ich dir etwas erzählen.«
Ich erwartete einen Ausbruch, sie aber faßte sich, erhob sich aus ihrem niedrigen Stuhl, winkte mir mit der Hand und sagte:
»Komm!«