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Die Tage vergingen, nutzlos, der eine wie der andere. Jeden Morgen fragte ich mich selbst: warum stehst du eigentlich auf?
Stundenlang konnte ich untätig dasitzen, den Kopf in meinen Händen, durch die Fensterluke über die blaue Lagune stierend, ohne Gedanken, ohne Willen.
Toko blickte mich verstohlen an und grübelte darüber, was er mit mir anfangen sollte. Er machte sich hin und wieder einen Weg zur Stadt, um mir Neuigkeiten zu berichten und seufzte tief, wenn ich ihm nicht antwortete.
Ich nahm meine Büchse, die ich lange nicht in der Hand gehabt hatte, und schlenderte hinaus.
Ich kam an Matofas Haus vorbei und sah einen Schimmer von seinen Zwillingen, die sich auf dem weißen Korallensand tummelten. So groß waren sie also schon, daß sie allein herumlaufen konnten. –
Ich erinnerte mich des Tages, als sie auf den Stein im Wasser hinausgekrochen waren; sie hatten sich von dem Band, mit dem sie am Fußgelenk festgebunden waren, befreit.
Die Lagune war voll von Booten – der Ausguck hatte am Morgen den Tatloischwarm gemeldet – alle Boote waren draußen, um dem Schwarm den Rückweg abzuschneiden, und die Kinder wollten zu ihren Eltern hinaus.
Da sah ich eine Frau vom Waldsaum her angelaufen kommen, als gälte es das Leben. Im Fernrohr sah ich, daß es Lea, Talaos unglückliche Tochter war, die, weil sie kinderlos blieb, eine ›freudlose Witwe‹Über Lea und ihr Schicksal ist in ›Der freudlosen Witwe‹ berichtet worden. geworden war. Und tatsächlich galt es das Leben, denn niemand draußen bei den Booten achtete der Kleinen. Wenn die Flutwelle der Kanus sie erreichte, würden sie von dem Stein heruntergespült werden, und bei dem Lärm, mit dem der Schwarm geschreckt wurde, würde niemand ihr Geschrei hören.
Ich feuerte meinen Revolver ab, um die Aufmerksamkeit der Eltern draußen im Boot auf den Strand zu lenken; ich selbst war zu weit fort, um zu helfen.
Ich sah, wie Matofa sich aufrichtete und zum Strande blickte, sah, wie er entsetzt die Arme schwenkte und ins Wasser sprang.
Die Kleinen wurden gerettet. Lea bezahlte mit ihrem Leben für das Leben der Kleinen, die aus der Ehe ihres Geliebten mit einer anderen Frau entsprossen waren.
Arme Lea! – Ich hatte sie schon als Kind gekannt; am Tage ihrer Jungfraueinweihung schenkte ich ihr eine Kette von bunten Glasperlen. Später, als sie von Kummer heimgesucht worden war, bot ihr Vater sie mir als Ersatz für Ali.
Lea aber war keine Ali. Was in Alis Herzen wie ein brausender Glücksstrom war, der sich nicht beruhigte, bevor er zu einem Kind unter ihrem Herzen wurde, war bei Lea eine still brennende Flamme, unter der keimendes Leben nicht gedeihen wollte.
Wie wäre es auch möglich gewesen, daß sie mir – einem Altersgenossen ihres Vaters – eine neue ›kleine Sonne‹ geschenkt, ihn mir jubelnd wie Ali entgegengehalten haben könnte: »Sieh, er ist du!« – Sie, die sogar in den Armen ihres Geliebten unfruchtbar geblieben war?
In solchen Gedanken schlenderte ich längs des Pfades durch den Kokoshain. Da hörte ich Hühner gackern, Ferkel grunzen; hinter dem hohen Bambuszaun sah ich das Dach von Talaos sauberer Hütte.
Ich war im Begriff, um die Ecke zu biegen, da Talao aus der Tür seines Zaunes kam. Er sah mich und rief mich an.
In seinem Blick konnte ich deutlich lesen, wie sehr ich mich verändert hatte, seit wir uns zuletzt gesehen. Unwillkürlich raffte ich mich auf. Er berührte meinen Arm zum Gruß, und wir gingen lange schweigend nebeneinander her.
Schließlich begann er:
»Man sieht dich ja gar nicht mehr. Auf dem Marktplatz wird von dir gesprochen. Einige meinen, daß du krank bist. Ich aber kenne dich und sage, daß du noch immer der Frau und dem Kinde nachtrauerst, daß die Geister dir genommen haben. Einsam bist du wie der fliegende Hund, dessen Weibchen mitsamt dem Jungen, das sich an seine Brust klammerte, vom Pfeil getroffen wurde.«
Ich schwieg. Er schritt kräftig aus, um mit mir Schritt zu halten. Als wir zur Stelle kamen, wo der Weg zum Marktplatz abbog, blieb er stehen, denn an meiner Büchse sah er, daß ich zum Walde wollte.
Plötzlich faßte er mich am Arm, – eine Eingebung trieb ihm das Blut in die großen hervortretenden Augen:
»Meine Jüngste – du weißt, Wanda – soll bei Neumond zur Jungfrau geweiht werden. – Sieh sie dir an! Sie ähnelt ihrer Schwester auf ein Haar! Und die Halskette, die du Lea geschenkt hast, bekommt sie beim Fest als Erbteil. – Ich will dir Wanda geben, damit sie dir ein neues Leben gebären kann.«
Ich schüttelte den Kopf, seufzte und berührte seinen Arm, indem ich ihm damit für seine Teilnahme dankte.
»Es ist ja nicht möglich, daß solch ein junges Ding mich Alten in ihr Herz schließen und mir ein kleines neues Leben geben könnte,« sagte ich. »Und wenn es auch möglich wäre, so fürchte ich, daß die Geister mit uns allen Dreien leichtes Spiel haben würden,« fügte ich hinzu, denn ich wußte, daß er diese Bedenken verstehen würde.
Er blickte nachdenklich vor sich hin. Darauf seufzte auch er.
»Hol' deinen Bogen,« sagte ich, um ihm eine Freude zu machen, »und komm mit auf die Jagd.«
Einen Augenblick zögerte er und blickte in die Richtung des Marktplatzes, wo die Pflicht ihn rief. Dann aber richtete er sich höher auf und lief mit einem freudigen Grunzen nach Hause, um seinen Bogen zu holen.
Wir gingen schnell durch den Hain, quer über das Tarofeld und gelangten in den ›Wald unserer Väter‹.
In der Stille unter den hohen Kronen, in dem kühlen Schatten, gewann Talao seine Ruhe wieder. Er spähte unter dem Laubdach nach schwirrenden Vogelflügeln aus, er lauschte dem Klopfen des Spechtes gegen hohle Stämme, seine Äugen blickten fern, er vergaß zu reden.
Wir erreichten die Lichtung, die den ›Wald unserer Väter‹ vom ›wilden Gebüsch‹ trennt. Dorthin wollte ich – in den großen Wald, der früher Wattiwua gehört hatte, jetzt aber, seit dem Sieg Pa-Limbos, des ›großen Jägers‹, dem Stamme Mahura zugehörig ist.
Ich fand den alten Pfad, der durch die Wildnis führt. Wir kamen zu den Riesenbäumen, die in einer Gruppe stehen –
Da ergriff Talao meinen Arm, und ich folgte der Richtung seines Blickes –
Unter dem höchsten Baum, den Kopf gegen den alten Stamm gelehnt, lag ein junges schlafendes Weib, die Arme zur Seite gestreckt, und in ihrem Schoß lag ein nackter, lallender Knabe.
Der Kleine spielte mit ihrem Tapa, versuchte die langen, schmalen Blätter in den Mund zu stecken. Zu ihren Füßen stand eine große langhalsige Kalebasse,Kalebassen – Wasserbehälter, die aus der Furcht der Crescentia verfertigt werden; sie ähneln dem Kürbis. worin die Trägerweiber Wasser aus dem Fluß zu holen pflegen.
»Das ist Tarusa!« flüsterte Talao, um die Schlafende nicht zu wecken.
Ich erinnerte mich: es war das Mädchen, dessen Augen Pa-Limbo,Von Tarusa und Pa-Limbo wurde in ›Van Zantens Abenteuer‹ berichtet. der große Jäger, an demselben Tage gestohlen hatte, als er auf dem Marktplatz für vogelfrei erklärt wurde und von den Männern des Königs aus der Stadt gejagt worden war. Nachts hatte sie sich hinter ihm hergeschlichen, bis sie ihn hier im ›wilden Gebüsch‹ gefunden hatte. Auf dem höchsten Baum hatte er ihr und sich ein Nest gebaut, und niemand wagte, dem Baum zu nah zu kommen, denn Pa-Limbos Pfeil verfehlte nie sein Ziel.
Tarusa hatte dem Verbannten einen Knaben geboren, aber sie mußte ihn gegen seinen eigenen Vater beschützen, Pa-Limbo wollte ihn nicht in seinem Baum dulden, denn er fürchtete, daß sein Geschrei oder Lachen den Unterschlupf des Verbannten verraten würde.
Da hatte Tarusa ihn mit dem Knaben verlassen und streifte allein durch den Wald; denn Weib und Kind des Verbannten sind ebenso vogelfrei wie er selbst. Sie hätte sich Frieden und Rettung verschaffen können, indem sie Pa-Limbos Aufenthalt verriet, das aber wollte sie nicht.
Da geschah es, daß der große Jäger auf seinen nächtlichen Streifzügen erfuhr, daß der Stamm der Wattiwua die Männer von Mahura überlisten wollte. In der Dunkelheit schlich er sich zu der Stadt des Königs, alarmierte die Einwohner und führte die jungen Männer bei Nacht durch die trennenden Wälder und überfiel den Feind in seiner eigenen Stadt, bevor er noch Zeit gefunden hatte, auszurücken.
Mit diesem Sieg rächte er sich an denen, die ihn in die Wälder gejagt hatten. Als Eroberer kehrte er zurück und wurde zu Wahujas Nachfolger ernannt, der in derselben Nacht vor Angst und Altersschwäche gestorben war.
Dies alles hatte ich natürlich erfahren, gemeinsam mit den anderen erlebt, und was ich nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, war mir von Toko erzählt worden. Aber es war nicht mehr wie in alten Zeiten, da ich Sorgen und Freuden des Mahurastammes teilte, als seien sie meine eigenen. Was ich hörte und sah, berührte mich nicht mehr persönlich, und ich vergaß es schnell.
»Pa-Limbo verstieß Tarusa,« erzählte Talao mir, »er verbannte sie aus seiner Nähe und heiratete die jüngste Tochter des alten geistesschwachen Königs, um sich nach seinem Tode die Königsaxt anzueignen, wie er auch dem toten Wahuja den Ring vom Arm gezogen hatte – das Zeichen, daß er der erste Beamte des Königs sei.
Die Geister haben ihren Verstand genommen,« erklärte Talao, »jetzt geht sie von Tür zu Tür und trägt Wasser, schleppt Kind und Kalebasse, die beide zu schwer für sie sind. – Sieh nur, wie müde sie ist! Und dennoch singt sie, während sie ihrer Arbeit nachgeht, als ob sie noch nie bessere Tage gehabt habe. Denn folgendes ist ihr geschehen, – sie erzählt es jedem, der es hören will: Nadi-Nado der Weise ist eines Nachts im Traume zu ihr gekommen und hat ihr gesagt: ›Der Knabe gehört mir. Ich bin eines Nachts, als du in der Krone des Baumes an Pa-Limbos Seite schliefst, in der Gestalt eines Himmelsvogels zu dir gekommen. Nicht Pa-Limbo, sondern ich bin der Vater deines Knaben. Hüte ihn gut! Denn eines Tages werde ich kommen und ihn von dir fordern. Dort, wo Tulas Tochter lachend über Korallblöcke springt, um sich in die offenen Arme der Lagune zu stürzen, dort werde ich in meinem strahlenden Boot auf den Strand laufen und dich und den Knaben mit mir in den höchsten Baum nehmen. Dort oben will ich uns eine Hütte bauen, von wo ich die Insel und meine Heimat im Himmel überschauen kann.‹
Morgen, Mittag und Abend geht sie zu der Stelle,« schloß Talao, »um zu sehen, ob er gekommen ist. Die Geister haben ihr noch so viel Verstand gelassen, daß sie Wasser aus dem Fluß schöpft, um es zu den Einwohnern der Stadt zu tragen, die ihr dafür geben, was sie für sich und ihr Kind gebraucht.«
Als der Knabe unser ansichtig wurde, äugte er wie ein Rehkitz im Walde mit großen dunklen Augen. Plötzlich streckte er die Arme nach mir aus und lachte und plapperte.
Es war ein Herzensjunge – eine wahre ›kleine Sonne‹. Ach – ›Oasu‹.
Durch das Geräusch erwachte Tarusa, richtete sich auf und breitete die Arme über ihr Kind. Sie erkannte uns nicht.
Sie stand auf, glättete ihren Tapa und wickelte den Knaben in das Tragtuch auf ihrer Brust. Dann griff sie nach der leeren Kalebasse und kam auf uns zu.
»Kommt ihr vom Strande?« fragte sie, mit blanken, erwartungsvollen Augen.
Talao nickte.
Indem sie ihre freie Hand auf seinen Arm legte, sagte sie bittend:
»Hast du sein strahlendes Kanu gesehen?«
Talao schüttelte bekümmert den Kopf.
»Ich habe geschlafen,« sagte sie und strich sich über die Augen, »jetzt muß ich mich eilen, denn heute abend wird er sicher kommen: es ist Vollmond.«
Ihr Gesicht erstrahlte aus einem schimmernden Lächeln:
»Oasu, kleine Sonne,« sie küßte zärtlich seinen Kopf, »wir müssen uns eilen.«
Indem sie uns mit großen, erwartungsvollen Augen grüßte, eilte sie über den Pfad, den wir soeben gegangen waren.
Nach einer Weile drehte sie sich um und sagte flehentlich:
»Wenn ihr ihm begegnet, dann sagt ihm, daß Tarusa eingeschlafen war, sie sei so müde gewesen; jetzt aber eile sie sich sehr. Was ihr Gutes an Tarusa und ihrem Knaben tut, das wird Nadi-Nado euch vergelten.«
Sie nickte zuversichtlich und fing an zu laufen, so daß der Knabe auf ihrer Brust hüpfte und jubelte. Und während sie lief, plauderte sie mit dem Kleinen. Das letzte, das ich sah, waren die kleinen Hände der ›kleinen Sonne‹. Tarusas dunkle treuherzige Stimme klang aber noch in meinen Ohren, als wir sie nicht mehr sehen konnten.