Karl Bleibtreu
Der Aufgang des Abendlandes
Karl Bleibtreu

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II

Ein mechanisch erzeugtes All aus zufälligem Zusammenstoß der Atome bedeutet: Aus absoluter Unvernunft ging absolute Vernunft der Planetenordnung hervor. Wenn jemand beim Kegeln immer alle neune wirft und beim Würfeln immer nur Treffer erzielt – was niemals vorkommt, es sei denn durch Betrug – so sagt sich der Dümmste, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen kann, daß es Glück des Zufalls nicht dauernd gibt. Der Natur aber mutet man das Unnatürlichste zu, daß ihre Gesetze lauter Zufallstreffer waren und sind, daß zufällig entstandene Mechanik sich mit launischem Glück in unaufhörlich treuer Ehe verschmilzt, daß die Welt täglich ins Chaos auseinanderfiele, wenn nicht die Zufallsordnung dauernd aus sich selbst unbegreiflich begünstigt würde. Materialismus ist die Lehre der Weltunvernunft. Sie hatte aber dabei den köstlichen Einfall, den armen Menschen mit Vernunft zu begaben!

Rückzugskanonaden wie Boules »progressive Modifizierung« der Hirnsubstanz sind hohle Böllerschüsse, denn das wäre wieder wunderbare Zweckmäßigkeit. Uns verwirrt die unabsehbare Reihe von Beziehungen. So begleichnist Mill den Tau, warum er kälter sei als das von ihm berostete Eisen, doch jede Wärmetheorie führt wieder in unendliche Bewegungsferne unerkannter Beziehung. Wenn man z.+B. aus Loch im Helm auf Kugeldurchschlag schließt, kann man allenfalls aus Einschlagwinkel die Tragweite des Geschosses vermuten und die Distanz berechnen, aus dem es abgefeuert, was schon erhebliche Forschung wäre. Doch vom Schützen und seinen Motiven wissen wir gar nichts, so auch nichts von letzten Ursachen eines Naturvorgangs. Geschossen wird ja viel, z.+B. unter patriotischer Janitscharenmusik, doch »nicht jeder, der bei Waterloo focht, ist ein Held« (Wellington an Scott), auch Carlyles Heldenverehrung verengt moralinsauer unklar den Begriff, denn Held ist jeder, der des Geistes Befreiungskrieg gegen die Menschheit mitmacht, Cervantes braucht nicht bei Lepanto zu fechten, erst sein Don Quixote macht ihn zum Helden. Von unbekannten Schützen der Weltordnung spüren wir nur hier und da eine Kugel, die ins Schwarze trifft.

Newton erkannte, daß Gesetze in der Natur nur Formeln für unser Begriffsvermögen seien, Philosophenformeln sind so wenig gesetzmäßig, daß von Descartes so grundverschiedene Systeme ausgingen wie das von Leibniz und Locke. Für die Substanz, die er nur als unsichtbaren Begriff seines eigenen Intellekts kennt, und die Natur, von der er nur die Außenseite im Sichtbaren kennt, kann der Mensch keine passende Formel finden. Pantheismus ist entweder verschleierter Deismus, so daß man keine neue Formel dafür braucht, oder verschleierter Atheismus, wonach man auch ein Krokodü als Naturgott anbeten könnte. Kant, der im Grunde zu Augustins »de libero arbitrio« zurückkehrte, wurde von Fichtes Wissenschaftslehre fortgesetzt: »Die lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott, wir bedürfen keines andern und können keinen andern erfassen.« Da Existenz ein sinnlicher Begriff, so existiert Gott nicht? Wer sagt denn, daß für Transzendentales der Existenzbegriff sinnlich zu fassen sei? Der moralischen Ordnung läßt sich gleichfalls sinnlich nicht beikommen, denn ihre praktische Auswirkung im Materieleben scheint äußerlich so fragwürdig, wie es Fichtes verzweifelter Brief vom 22. Mai 1799 dartut. Daß sie trotzdem auch im Einzelleben waltet, sofern man geduldig aufpaßt, mußte Fichte später selber freudig gewahr werden und Anweisung zum »seligen Leben« erteilen. Schelling sprang 1802 von Spinoza zu Giordano über, womit der eigentliche Pantheismus sich schon verabschiedete. Denn wo ausgleichende Gerechtigkeit in ewiger Transformation der Seelenmonade gelehrt wird, hat Pan keine Macht mehr, das Seelische mit seinem Bocksfuß zu zertreten. Schellings Sehnen, das Absolute intellektueller anzuschauen, verfing ihn bald in solche Schlingen, daß er bußfertig zum Katholizismus abschwenkte. Auch Kants kritischer Terror und Fichtes napoleonisches Ich sänftigten sich. Identitäts- und Naturphilosophie läßt sich praktisch auslegen, wie man will, sie wurden in Oken freiheitlich, in Adam Müller und Görres ultrareaktionär. Dann spielte Hegel den Ödipus, indem er sich selber selbstkonstruierte Rätsel mit der dazu gehörigen Lösung aufgab, ohne die wahre Sphinx zu fragen, was sie dazu meine, zu seiner Vernunftharmonie sagt die äußere Wirklichkeit nein. Die Sphinx der Einheit des Transzendentalen mit dem scheinbar zerklüfteten Individualismus stürzt sich nicht in den Abgrund der Abstraktion, weil man ihr Sprüchel aufsagt. Die Kirche schmeichelt sich, die Zunftphilosophie überlebt zu haben, heute aber wird angeborener Materialismus dem Durchschnittsmenschen obendrein noch anerzogen, nur neue Erkenntnis kann dies Ungeheuer in seinem eigenen Lager anfallen und mit dem Strahlenpfeil der Intuition erlegen wie Phöbus die Pyton. Die Naturwissenschaft gibt sich selber Blößen, wo wie in Schillers Ballade die Rüden des Logos sie in die Weiche packen, ihre eigenen Entdeckungen sind die schneidigsten Lanzen, die man ihrer bösen Absicht in den Rachen stoßen kann.

Feine Ironie könnte sogar bemerken, daß der Materialist sich doch eigentlich nur mit einer sinnfälligen Materialisierung Gottes befreunden und mit einem Abstraktum »Naturgesetz« (Schöpfung seines eigenen Verlehrtenhirns) nicht begnügen dürfte. Denn einem Materiegläubigen liegt es doch besser, sich ein sinnlich greifbares Ungeheuer vorzustellen als eine »Idee«, was sein Materiebegriff nur sein kann! Es ist ja wahr, daß selbst das semitische »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen« sich würdiger zu Allah verhielt als das Kirchenchristentum mit seiner Götzenbilderei. Der Inder vollends schaudert vor der Vermessenheit, sich vom höchsten Wesen überhaupt eine Vorstellung zu machen. Gott als Person anbeten ist Blasphemie, »höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit«, aber je höher ein Mahatma wie Prospero-Shakespeare steigt, desto unpersönlicher fühlt er! Immerhin wird man gerade dem Übermenschen (Genie) Persönlichkeit nicht absprechen und in einem über Menschenbegriff erhabenen Sinn muß man den Inbegriff von Allmacht und Allweisheit wohl als Persönlichkeit (nur nicht Person) auffassen, All-Persönlichkeit, welche alles Nieder-Persönliche des organischen Lebens gleichzeitig umfaßt. Das theosophische Mysterium (lange vor »Christus« entstanden) von Menschwerdung und Kreuzigung läßt sich nur mit dieser Auffassung vereinen: Gott-im-Menschen muß durch Selbstentäußerung und Opfer die angehäufte Karmaschuld entsühnen. Denn da die Weltseele sich materialisierte und ihr Licht in zahllosen Lebensspiegeln brach, muß erneut diese scheinbare Vielheit in Einheit zusammengefaßt werden, indem »des Menschen Sohn« den göttlichen Lichtursprung in sich zum Ausdruck und den umdunkelten Ichen zum Bewußtsein bringt, daß sie »Söhne des Lichts«, »Gottes Kinder« sein sollten. Die unsinnige und geradezu blasphemisch anmutende Vorstellung, daß Gott sich buchstäblich in einen Menschen verwandeln und durch dessen Blut die gesamte Erbsünde abwaschen könne – der atheistische Pfarrer Roß-Saladin schoß mit schweren Kanonen gegen solche Spatzen des Aberglaubens –, verzerrt nur eine tiefe Symbolistik, deren letzter Grund sich menschlichem Begriffsvermögen verhüllt. Denn wie könnten wir begreifen, warum die unendliche Schöpferkraft zum Schaffen, d.+h. Materialisieren gezwungen ist, in ihren Selbst-Werken sich aber unter das Karma der Notwendigkeit beugen, daher den Sündenfall an sich selber vollstrecken, in den Geschöpfen mitleiden muß? Gott stirbt und wird wiedergeboren in jeder Kreatur, kreuzigt sich selbst und tilgt die Erbschuld seiner Lebensgebilde in eigener Erlebung. Daß man Priester und Opfer zugleich sein könne, scheint ekstatischem Fühlen so wenig fremd, daß Orpheus- und Bacchuskult es voraussetzten. Einerseits erweist sich so der Christenmythos als bloße Fortführung uralter Vorstellungen (Übertragung des Isaakopfers auf Übermenschliches), andererseits liegt ihm gerade deshalb unheimliche Wahrheitsahnung zugrunde.

Wir schätzen zwar Mark Twain nur als literarischen Rooseveld, doch seine Hinterwäldlerhumore verulken in »Stomfields Himmelfahrt« nicht übel des Christenhimmels Unzulänglichkeit, holen aus dem Himmel den Gedanken: irdisch Unerfülltes geht jenseits in Erfüllung. Ein Schneider wird als Ebenbürtiger Shakespeares empfangen, weü er etwas Dichterisches in sich als verhöhnter Verkannter nicht zum Vorschein bringen durfte, jetzt darf er dichten nach Herzenslust. In so paradoxer Übertreibung wird die Einheit aller geistiger Bewegung veranschaulicht.

Laut Poincaré trachtet alle Wissenschaft nach Einheit. Dann ist müßige Spielerei, Eigenschaften eines unbekannten Agens getrennt untersuchen zu wollen. Eis, Wasser, Dampf oder Licht, Wärme, Elektrizität sind nur jeweüige Formen des Gleichen. Richtig verstanden, hat freilich ein letzter zureichender Grund so wenig wie Zeit, Raum, Ursache, Wirkung in der Gottwelt Platz. Sie ist, das ist ihr einziger Inbegriff, »Naturgesetze« erscheinen nur als gleichmäßiges Ein- und Ausatmen des göttlichen Odems, unveränderlich, unverbindlich für Zwecke! Nun ist aber Kausalität nicht nur ein Vernunftregulativ, ohne das wir nicht denken könnten, sondern empirisch beweisbar innerhalb aller Materie, auch als Determiniertheit im Menschen- und Völkerleben, wobei sogar Vorbestimmung alles Psychischen unumstößlich erscheint. Ichvernunft kann nichts innerlich anschauen, was nicht irgendwie im Weltganzen steckt, ihre Ideen entstehen in Wechselwirkung aus einer transzendenten Ursache, die sich ihnen anschmiegt und auf welche sich die menschlichen Vorstellungen Kausalität und Zweckmäßigkeit übertragen. So wird Gott, selber allem Kausalen entrückt, Leiter einer zielsetzenden Kausalität, die sich, obschon nur ein menschlicher Vernunftbegriff, offenkundig im Weltbild gestaltet, nicht nur im Sichtbaren der Begebnisse, sondern auch im Unsichtbaren der Transzendentalevolution. Für Menschenerkenntnis gibt es nur einen Gott der Kausalität, der sich herabläßt, unserem Verständnis entgegen zu kommen und als »Vorsehung« eine moralische Ordnung mit Gut und Böse, Lohn und Strafe im Erdenleben zu veranschaulichen. Solche an sich naive Anschauung zur Würde einer transzendenten Wahrheit erhoben zu haben, bei welcher Vergeltung, alles beschränkt menschliche Urteil abstreifend, als einfache Kausalfolge erscheint, dies leistet eben das Indische Karmagesetz. Die Unfreiheit alles irdischen Willens erniedrigt hier nicht zum blinden Sklaven der Materie, denn das unentrinnbare »Karma«, die jedem Ich anhaftende Urschuld (Erbsünde) stellt in steten Wiedergeburten das Ich so lange auf die Probe, bis zunehmende Erfahrung ihm das Tor zur transzendentalen Freiheit öffnet.

Dagegen ist Freiheit des kategorischen Imperativs als sittliche Autonomie allgemeiner Menschenvernunft ein zauberkünstlerisches Taschenspiel Kants. »Persönlichkeit ist die Freiheit vom Mechanismus der ganzen Natur«? Man kann also aus seiner werten Haut springen? »Die Wirklichkeit der (sittlichen) Freiheit beweist die Möglichkeit Gottes«? Die Gottesidee habe nur deshalb »die größte praktische Realität«, weil der angeblich selbstbestimmte Wille der freien Vernunft eine Ethik vorschreibt, die sich am praktischsten auf Gott beruft? Bei diesem Saltomortale macht Kant den weiteren Sprung: Die Ethik handle so, als ob sie göttlichen Geboten gehorche, während Goethe schon weiter erkennt, daß wir dafür den Unsterblichkeitsglauben »nicht entbehren können«. Das heißt: Weil sonst Wert jeder Persönlichkeit hinfällig, jede Ethik zwecklos wäre.


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