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Betrüge deinen Nächsten wie dich selbst! scheint die sittliche Forderung, die allein einkassiert wird. Spinoza betrügt sich selbst wie die andern, die er zu abstrakter Ethik bekehren will. Er verneint nicht an sich ein Jenseits, doch unser Wissen sei vom lieben und nicht vom Tode und, wo Wissen aufhöre, ende auch Denken. Das klingt wie Buddhas Verbot, mit endlichen Vorstellungen über das Unendliche nachzusinnen, ist aber nicht das Nämliche. Zunächst ist wieder nur Voraussetzung, daß wir vom Leben etwas wissen und vom Dasein nach dem Tode nichts. Nähme man Aussagen der »Geister« als Tatsachen, so wüßten wir vom Jenseits eigentlich mehr als vom Diesseits, von welchem wir nur physisch sichtbare Vorgänge sehr unvollkommen kennen. Auch ist bemerkenswert, daß erst modernster Materialismus von »Jenseitswahn« plapperte und wegen Körperzerfall Nichtexistenz lehrt. »Heiden« jeder Art glaubten entweder fest an Fortdauer oder wenigstens wie die Antike an Schattenhades, was sich in mancher Hinsicht kaum vom Geisterglauben unterscheidet. Selbst wenn Buddha je wirklich Fortdauer geleugnet hätte – Nirwana ist nur ein anderer Ausdruck für »ewige Seeligkeit« – so würde die von ihm unterstrichene Wiedergeburt schon betonen, daß es ein vereinzeltes Diesseits überhaupt nicht geben kann. Spinoza aber lehrt keineswegs Niederkämpfung körperlichen Lebenstriebs, einsame Abkehr und Abtötung, sondern verherrlicht Gemeinsinn und Staat, wobei er ihnen Ideale unterschiebt, die jeder Erfahrung spotten. Die von ihm gebilligte Selbsterhaltung wird stets nur Selbstsucht zulassen, solange sie sich nicht in Beziehung zum Unsichtbaren setzt.
Daß Gott in allen Dingen ist, scheint irreführende Formel, richtig nur, daß er in allem waltet, etwas wesentlich anderes. Deshalb darf man alles als seine Emanation achten, doch das Böse und Geistlose zu »lieben« wäre unpsychlogische Überspannung. Denn die am stärksten hassen und verachten, haben vorher am meisten Gutes erwartet und Wohlwollen gefühlt. Überwindet man diesen Zorn, der nicht selbstisch zu sein braucht – Entrüstungspessimismus richtet sich nicht gegen einzelne, sondern abstrakt gegen das Weltböse –, so kann hohe Gerechtigkeit, aus unzerstörbarem Wohlwollen geboren, nur vom höchsten Erkennen gefordert werden. Wie darf man aber diesen Ausnahmezustand, wie er in Jesus schon als gottähnlich aufragt, als Grundlage einer Menschheitsethik vorschützen, sobald man sich in reiner Abstraktion bewegt ohne konkrete Anknüpfung an Überirdisches! Die »Diebe« wird dann unbewußte Selbsttäuschung, sie reicht gegenüber dem Erbärmlichen nicht aus, wäre nutzlos weggeworfen, Schwäche aus Kraft- und Mutlosigkeit. Sein Leben einsetzen, um den Drachen zu töten, ist sicher ethischer, als sich passiv von ihm fressen lassen, und ist solch unsinnige Diebe nicht Selbstliebe, die sich übermenschlich erhöhen will? Wer dazu fähig, wohl ihm! Doch in solcher Selbstachtung liegt ein Stolz, in dem eher Verachtung als Diebe steckt. Auch werden wir das Gefühl nicht los, daß Spinozisten, wie der warmherzige Auerbach, der freilich im Deben mehr Weisheit in Worten als Werken trieb, durch keine lange harte Schule gingen. Wer menschliche Gemeinheit gründlich schmeckte und die Heuchelei rührseliger Humanität durchschaute, die doch nie Opfer bringen möchte, weist alles Diebesgerede ab. Mitleid, das man allenfalls dem Nichtswürdigen gewähren mag, ist nicht Diebe. Das Gesetz der Individualität verbietet gleichmäßige Ethik, am schwersten an der Menschenniedrigkeit tragen die Schöpferischen, sie haben auch keine Zeit; sich um elende Mitmenschen zu kümmern. Und doch sind gerade sie es oft, siehe Byron und Leonardo, die den stärksten Instinkt von Mitleid und Güte empfinden und betätigen, während ihr Mund von Verachtung überfließt, selbstverständlich belohnt mit Verleumdung und Niedertracht. Bewegt diesen Elan großer Seelen etwa »Liebe zu Gott«? Keineswegs, sondern unwiderstehlich angeborener Trieb ihres Edelsinns. Nur aus diesen wenigen Elitemenschen, Jesus obenan, konnte der Mensch sich den Begriff bilden, daß Öott die Liebe sei und sich für unliebenswerte Geschöpfe kreuzigen lasse. Mit vollem Recht findet jeder Betrachter des Sichtbaren diesen Liebeswahn absurd. Denn wenn Gott, wie Spinoza selbst erkannte, vor allem die Gerechtigkeit der Notwendigkeit ist, dann bleibt ihm für Affenliebe für alles Schlechte und Nichtige nichts übrig, das wäre Ungerechtigkeit. Ein Gott, der sich in allem Schlechten und Niedrigen wiedererkennt und selbstliebt, wäre alles eher als ethisch, so daß solcher Pantheistengott auch keine Liebe für seine ohnmächtige Zerflossenheit verlangen darf.
Erheben wir mit Bruno den Blick zum gestirnten Himmel, zur Unendlichkeit des Entstehens und Vergehens, so erkennen wir im ursächlichen Gesamtzusammenhang ein ur anfängliches intuitives Schöpferlicht. Doch die Weltsubstanz, obwohl in sich monistisch eins, kann unmöglich mit Gott konkret identisch sein. Denn äußerlich sichtbar triumphiert die Bestie, und diese fortwährend zu vertreiben, obschon sie in sichtbarer Materie immer wiederkehrt, ist der Zweck ewigen Diesseitskampfs: »Spaccio della bestia trionfante.« Alles Sichtbare hat einen Januskopf, halb schön, halb häßlich, nach dem Gesetz ewigen Wechsels, auch im Schicksal des einzelnen. Napoleon empfing als Triumphator die Schlüssel von Mailand, Madrid, Wien, Berlin, Moskau, doch wog auch die von Elba verlegen in seiner Hand und hörte St. Helenas Kerkerschlüssel rasseln. Aber so wechselvoll seine Kometenbahn, so stirbt doch nie das Einheitliche seiner großen Persönlichkeit in unvertilgbar hinterlassenen Spuren. Wenn die zusammengefügten Einzelteile der Einzelmonade sich scheiden, bleibt die individuelle Psychesubstanz vom Tode unberührt, verschwindendes Hinschmelzen in die Allheit wird nicht so leicht gewährt, Daseinsbedingung wurzelt auf tieferem Urgrund, als daß »Liebe zu Gott« schon Einswerden mit Gott ermöglichte, das Fahrwasser ins Nirwana ist nicht so glatt, daß Spinozasubstanz sich darin flott erhalten könnte.
In Auerbachs Briefen an seinen Vetter Jakob 1884 heißt es Teil 2, S. 290: »Als wir von der Großprotzigkeit der Professoren gegen uns freie Schriftsteller sprachen« sagte Gregorovius: »Wenn Moses und Christus heute kämen, würden sie von den Professoren über die Achsel angesehen, wenn sie nicht wenigstens das Kandidatenexamen gemacht hätten.« So urteilten ein wahrer Gelehrter wie der geniale Gregorovius und ein gelernter Fachphilosoph wie Auerbach über den bornierten Dünkel der Kathederzünftler, in erster Linie die Pygmäen der Naturwissenschaft, während Helmholtz und Liebig obendrein nahe Freunde des Schwarzwalddichters waren. Ist ein solcher Zustand hochnäsiger Verdummung, der völlig Deutschlands Züchtigung rechtfertigt, auch ein notwendiger Ausfluß allgemeiner Gottsubstanz? Auerbach schöpfte aus Spinoza kindlichen Optimismus, der vor dem Lebensübel, so wenig er als Sonntagskind davon erprobte, allemal in die Brüche ging. Seine spinozistische Selbsterkenntnis malt sich erschreckend in einem Ausspruch seines »Kollaborators« über greise Gourmands, wo jedes Ekelwort auf ihn selber paßte. Dem Meister Spinoza macht solcher Idealismus seines Jüngers keine Ehre, dessen Selbstüberschätzung in lieblosen Äußerungen über Gutzkow, respektlosen über Kleist und Grillparzer, maßlos verachtenden über Hebbel auch nicht gerade einnimmt. Brunos Lehre befruchtete und beflügelte den heroischen Shakespeare, doch Spinoza erzog Goethe nicht zu Eroici Furori, sein wundervoller Jugendhymnus »Verteilet euch nach allen Regionen« klingt brunoisch, und man muß staunen, wie irgendwer aus kalter Glasbläserei solchen affetto schöpfen könnte. Bei vielen ist Nichtkenntnis Brunos die Grundlage ihrer Spinozalesart. Jene Professoren, gegen die Auerbach tobt, tragen mehr von Wesen und Methode jenes Talmudisten in sich, als sein schwärmender Verkünder Auerbach, der sich als Jude zu seinem berühmten Rassegenossen hingezogen, aber vom viel genialeren Stammverwandten Heine abgestoßen fühlte, während der tiefe Dichterdenker Heine den Vater der »Taufrischen Amme Valpurga« grenzenlos verachtete. Ja, die Pariser Matrazzengruft wußte nichts mit Spinoza anzufangen, Hiobstrübsal hält sich an einen lebendigen Gott. Spinozismus endet immer wie beim deutschbegeisterten Auerbach, der Gottsubstanz im Volksmenschen suchte und sentimental idealisieren mußte, um zu spinozisieren. Jede Erscheinung des Grundbösen warf ihn um, er »zitterte«, wurde krank vor Ärger und Scham, wenn es dem wohlgenährten Humanismus übel ging und seine Propheteneitelkeit auf schadenfrohe Gehässigkeit stieß. Wir hätten ihm gewünscht, Weltkrieg und Bolschewismus zu erleben, damit ihm vor der Gottähnlichkeit der Volkssubstanz bange werde.
Die Rationalisten beriefen sich alle auf Spinoza, mit dem sich auch Diderots »Sensibilität der Materie« befreundete. Wenn dem Voltaire (vgl. Hettner, Teil 2, Seite 182) gottesleugnerische Bestrebungen verhaßt waren, da »die ganze Natur ruft, daß Gott ist«, so blieb sein Deismus nur gefühlsmäßig. Macaulay betont: »Man schuldet ihm und seinen Genossen die Anerkennung, daß das wahre Geheimnis ihrer Kraft ihr flammender Enthusiasmus war«, von welchem auch die Stael bekennt, daß er »unter allen Gefühlen das Glückbringendste sei«. Begeisterungsfähigkeit ist aber nur bestimmten Individuen gegeben, dies besondere Gefühl bleibt von Spinozas passiver Ethik weit entfernt, deren gekünstelte Gottliebe nur die Basis kaltmechanistischer Denkart wurde.
Wie der Astronom planetarische Erscheinungen möchte man Gesellschaftsumwälzung vorhersagen, gewiß gleichen heutige Zustände mehrfach denen vor Ausbruch jenes Pariser Kraters. Bodenreformer haben ihr Vorbild in »Physiokraten«, Staatssozialisten vom Schlage Schmollers in »Ökonomisten«, über die Tocquville (Buch 2, Kap. 15) sich verbreitet, Anhäufung der Bodengüter in der Toten Hand (Campomanes' Trattado 1765) mußte ein Ende mit Schrecken nehmen. Doch wendete dies erneute Rückbildung zum Großagrarischen ab? Erneut trat fast Unmöglichkeit für den Kleinbauern ein, kostspielige Bodenbewirtschaftung gegenüber dem Großagrarier zu betreiben, selbst in Amerika kämpft der Farmer schwer gegen Aufsaugen des Großkapitals. Andererseits herrscht heute gleiche Unkenntnis, nur den Landwirt oder nur den Fabrikarbeiter als produktiv zu betrachten, was angesichts der immer verwickelteren Produktionsverhältnisse auf Abwege führt. Wenn Rousseaus Schrei nach Naturzustand noch heute wiedertönt: »Ein Buch soll mein Emil zuerst lesen, es soll lange seine einzige Bücherei bilden«, nämlich Defoes Robinson, welchen glücklichen Zustand erzeugte denn die große »Robinsonade«, wie der Deutschamerikaner Kapp es nennt, die Besiedelung Amerikas? Einen wahren Hohn auf Defoe und Rousseau, Ausbildung der rohsten Plutokratie, dieser unnatürlichsten Tyrannei und Sklaverei, naturwidriger als jedes monarchisch-aristokratische Blutvorrecht. Aus dem Symptom der Natursehnsucht zieht man stets die falsche Voraussetzung, dies bezwecke Gesundung des Lebenstriebs, während es nur sentimentales Ungenügen arbeitsunlustiger Kulturmüdigkeit bedeutet. Gottsubstanz im Naturzustand aufsuchen ist ein sehr ungöttliches Vergnügen.