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46.

Es wurde Abend. Helwig saß an der Orgel im großen Zimmer und sang: »Wo ist der Freund, den überall ich suche?«

Ols Erik hatte sie gebeten, dies Lied zu singen. Die Türen standen bis in sein Krankenzimmer weit offen, so daß er jedes Wort hören konnte.

Er hatte mit ihr davon gesprochen, wie er sie einmal das Lied hatte singen hören, und wie ihn das bestimmt hätte, sich als Seelsorger nicht von ihr zurückzuziehen, weil er als Mann ihr gegenüber schwach war. Damals hatte ihr Gesang ihn gezwungen, im Ernst an ihr Suchen zu glauben.

Auch sie besann sich noch gut darauf. Damals war ihre Andacht mit irdischem Liebesverlangen vermischt gewesen. Obgleich die Liebe seitdem zugenommen hatte und sie noch mehr als damals beherrschte, war doch ihre Andacht jetzt reiner. Es war jetzt nicht mehr der irdische Mann, den sie überall suchte und dessen Spur sie sah, wo auch immer sich eine Kraft rührte. Sie hatte ihn gefunden und war mit ihm vereint in einer Liebe, stärker als der Tod. Zusammen mit ihm, in seinen Fußtapfen, suchte sie den Unsichtbaren.

Sie hätte sich nie vorstellen können, daß sie imstande sein würde, in einem Augenblick wie diesem zu singen. Aber sie konnte es, denn sie fühlte sich von derselben Kraft gehoben und getragen, die ihren Geliebten dort drinnen beseelte. War es die Kraft des Unsichtbaren? War es die Nähe des Herrn, um die seine Mutter bat?

»Öffnet euch, ihr Himmelstüren,
Tu dich auf, du schönes Tor!
Jesus wird dich bald heimführen
Zu der Auserwählten Chor.«

Helwig sang dem, der drinnen lag, von seinem seligen Tod.

Sie hörte jemand schluchzen, aber sie selbst konnte mit fester Stimme singen.

Helwig und Ols' Mutter waren nicht allein bei ihrem Kranken. Nicht nur der junge Doktor und Mutter Karin waren mit ihnen am Krankenbett, auch die Gemeindeglieder gingen im Krankenzimmer aus und ein. Alle die vielen, denen Ols geholfen hatte, hielten sich gern in der Nähe des Pastorats oder im Pfarrhaus selbst auf, so oft ihr Tagewerk es zuließ. Jetzt hätten sie gern helfen mögen, aber was vermochten sie? Sie mußten sich damit begnügen, ihren Ols zu sehen, mit ihm, wenn sie durften, zu sprechen, in seiner Nähe zu sein und mit ihm zusammen auf den Herrn zu warten.

Alle wollten ihn behalten, aber er hatte soviel zu leiden, daß sich kein einziger in seiner Umgebung fand, der sich nicht in der Bitte beugte: »Dein Wille geschehe!«

Der Tag war trübe gewesen. Aber am unteren Wolkensaum weit im Westen war ein heller Streifen. Der nahm an Klarheit zu und leuchtete in Licht und Farben, während sich die untergehende Sonne, die noch hinter den Wolken verborgen war, dem Horizont näherte. Der leuchtende Lichtstreif dort unter den Wolken beseligte das menschliche Gemüt; denn er erschien wie ein Abglanz der Ewigkeit und all des Unausgesprochenen, auf das man hofft.

»Unter den Verklärten leben,
In der oberen Gemein'
Stets vor seinen Augen schweben.
Was für Wonne wird das sein!«

Wenn Helwig die Worte früher gesungen hatte, so war es mit einer unklaren Vermischung irdischer Sehnsucht und himmlischer Ahnung geschehen. Nun sang sie sie dem dort drinnen als lebendige Wirklichkeit vor, besang die selige Begegnung zwischen dem treuen Diener und dem über alles geliebten Herrn.

Jemand rührte leise an Helwigs Arm.

Da stand Mutter Ols still und feierlich.

»Komm herein!« sagte sie leise.

Helwig stand auf. Wurde sie nun hineingerufen, um den Ritterschlag der Trauer zu empfangen?

In dem Augenblick wurde sie von einem Lichtstrom überflutet. Die Sonne war tiefer gesunken, schien unter dem Saum der Wolken hervor und erleuchtete sie so, daß sie in Farbenpracht erglühten und ihren Widerschein über der ganzen waldesdunkeln Landschaft mit dem der Sonne vermischten. Die Baumwipfel glühten, jeder Zweig brannte in Farbenglanz.

Der Schein fiel warm über eine kleine Gruppe Leute, die den Weg an der Kirche vorbei auf das Predigerhaus zu kamen, um zu hören, wie es ihrem Ols ging. Ihre ernsten Gesichter erhellte ein Schein wie von Hoffnung, als die Sonne so plötzlich hervorbrach und ihren Glanz über sie ergoß. Es war aber eine ergebene Hoffnung, die alles dem Vater im Himmel überläßt, die Flügel hat, um über den größten Schmerz hinwegzuhelfen und die einer Ruhe in der anderen Welt harrt.

Helwig blickte auf und erfaßte alles mit einem Mal, als sie sich nun erhob, um dem Ruf zu folgen und zu dem Geliebten hineinzugehen. Ihr Herz war ebenso bereit wie das der anderen, die sich auf dem Wege näherten. Ruhige Hoffnung und feste Zuversicht beseelten auch sie.

Sie trat ins Krankenzimmer.

Selbst hier leuchtete die Lichtflut herein, und ihr glühender Schein erhellte das reglose Gesicht, das aller Blicke auf sich zog in der großen, strahlenden, ernsten Stunde. – –

Es war Sonnenuntergang in Skalunga.


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