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Fräulein Borg war abgereist, und Mutter Karin, die ungeschulte Pflegerin mit der natürlichen Begabung, hatte ihren Platz in der Krankenstube eingenommen. Sie wohnte im Dorf, war Witwe und hatte bisher ihren Hof mit Hilfe ihrer Kinder allein bewirtschaftet. Nun hatte sich der älteste Sohn verheiratet, und die anderen Kinder hatten das Haus verlassen. Die Schwiegertochter tat jetzt größtenteils die Hausarbeit, so daß Mutter Karin sich der Krankenpflege widmen konnte.
Helwig ging in ihre Schlafstube neben dem Zimmer der Mutter. Beide Stuben lagen im Giebel, der im Pastorat ebenso breit war wie die Vorderseite eines gewöhnlichen kleineren Hauses. Die Aussicht vom Fenster ging auf den Abhang der Skalungahöhe. Helwig konnte auch den Fluß sehen, der weither von den Anhöhen aus einem abgelegenen See kam. In der hellen Sommernacht war alles sichtbar. Wenn sie das Fenster öffnete, hörte sie das Brausen entfernter Stromschnellen im Walde, denn die Luft war still. Sie hatte geglaubt, überhaupt nicht einschlafen zu können, aber als sie erwachte, fand sie zu ihrer Verwunderung, daß es Morgen war. Sie schämte sich, daß sie die ganze Nacht fest geschlafen hatte. Wie mochte es ihrer Mutter gegangen sein? Besser, als zu erwarten war, lautete die Auskunft. Der Pastor hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und Mutter Karin hatte gut aufgepaßt.
»Ich habe es so gut, wie es unter diesen Verhältnissen möglich ist,« tröstete die Baronin ihre Tochter.
Früh am Morgen kam endlich der Doktor. Es war keine Kleinigkeit für ihn, hierher zu kommen. Zuerst mußte er mit dem Zug und dann noch mit dem Wagen fahren.
Er untersuchte die Kranke und stellte dasselbe fest wie der Pastor. Auch wegen der Behandlung hatte er nichts hinzuzufügen. Der Pastor hatte alles getan, was getan werden konnte, und der Doktor hätte es nicht besser machen können.
»Aber der Pastor ist doch Geistlicher und nicht Arzt,« sagte die Baronin verwundert.
»Man muß sich von allem etwas aneignen, wenn man an einem so abgelegenen Ort wie Skalunga wohnt,« antwortete der Pastor bescheiden.
Aber der Doktor klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
»Er ist Arzt von Gottes Gnaden, Frau Baronin. Die Leute hier in Skalunga wollen nichts von mir wissen. Sie haben ja ihn, und das ist viel mehr wert. Er ist ein kluger Kerl, wissen Sie.«
Helwig machte eine Bemerkung wegen einer Krankenwärterin, aber ihre Mutter fand eine solche unnötig.
»Wenn Mutter Karin hier sein kann, brauche ich niemand anders,« sagte sie.
»Und da ›unser Ols‹ hier ist, brauchen Sie mich auch nicht, gnädige Frau,« sagte der Doktor und klopfte dem Pastor wieder auf die Schulter.
Der stand fest und ruhig wie ein Fels und ließ den lebhaften Doktor spektakeln.
»Unser Ols?« fiel Helwig fragend ein und hob die schmalen Augenbrauen.
Die Benennung kam ihr spaßig vor.
»Ja, das ist unser Pastor hier. So wird er von den Leuten genannt,« erklärte der Doktor und versuchte an dem Felsen zu rütteln, was ihm aber schlecht glückte.
»Aber wie heißt der Herr Pastor wirklich?« fragte Helwig.
»Ols Erik Larsson.«
Dieses Mal antwortete der Pastor selbst.
»Er legt aber mehr Wert aus die Benennung ›unser Ols‹,« fiel der Doktor ein. »Er nimmt sie als Bestätigung, daß sie ihn hier als ihr Eigentum betrachten. Und wenn Sie, Fräuleinchen, sich gut mit ihm stehen wollen, müssen Sie ihn auch so nennen.«
Bei dem persönlichen Zusatz richtete sich Helwig gerade, und ihr Aussehen bekam etwas Vornehmes.
Es wurde jetzt beschlossen, daß die Baronin und ihre Tochter hier im Pastorat bleiben sollten, da der Doktor, ebenso entschieden wie der Pastor, gegen ein Fortschaffen der Kranken war. Der Doktor versprach, in jeder Woche einmal zu kommen.
»Damit ›unser Ols‹ nicht gar zu eigenmächtig wird,« wie er in seiner heiteren Art sagte.
Nachts war Mutter Karin in der Stube bei der Baronin, aber am Tage konnten Helwig und Mutter Ols, wie des Pastors Mutter genannt wurde, die Kranke besorgen. Der Beste am Krankenbett aber war der Pastor. In seiner Behandlung lag eine seltene Vereinigung von Weichheit und Kraft. Ruhig, aber schnell führte er alles aus, er zögerte nicht, wenn er Schmerzen verursachen mußte, verkürzte aber dadurch die Pein. Er hatte eine unglaublich leichte Hand, und die Baronin sah die breiten, groben Hände lächelnd an und fragte, was für ein Zauber darin läge.
»Es ist, als läge eine beruhigende Kraft darin,« sagte sie.
Sie hatte das mehr als einmal empfunden, wenn er sie leise streichelte, nachdem er ihr Schmerzen hatte verursachen müssen.
»Es ist gut, wenn dem so ist,« antwortete er nur.
In seinem ruhigen Tonfall lag etwas, das auf eine unendliche Güte schließen ließ.
»Ich versichere, daß ich mich stets besser fühle, wenn der Herr Pastor das Zimmer betritt,« sagte sie nachher zu ihrer Pflegerin.
»Es geht den anderen ebenso,« war die Antwort.
Mutter Karin war wortkarg, sonst hätte sie jetzt Gelegenheit gehabt, verschiedenes über »unsern Ols« und seine Wirksamkeit zu berichten, von den glücklichen Kuren, die er ausführte, sowie von seiner großen Macht an den Krankenbetten. Er hatte einen klaren Blick für Krankheiten, konnte sie unterscheiden, ihre Veranlassung ergründen und Heilmittel finden, und er hatte eine große Macht über die Kranken. Schon als Knabe hatte er ärztliche Anlagen gezeigt und war der Lieblingsschüler eines Naturarztes gewesen, eines sogenannten Wasserdoktors, der allerhand Kranke mit Bädern, Packungen und Umschlägen behandelte. Während seiner Studienzeit in Upsala hatte er sich durch einen Tischgenossen, einen Mediziner, Zutritt in das Krankenhaus verschafft und war jeden Tag dorthin gegangen, um zu beobachten. Auch in einer chirurgischen Klinik hatte er geholfen und gelernt, Wunden und Schäden zu behandeln. Seine medizinischen Nebenstudien hatte er zielbewußt verfolgt, denn er wußte wohl, wie nützlich ihm eine derartige Kenntnis in den Dörfern sein würde, in die ihn sein Pastorenamt führte. Mehrjährige Ausübung hatte nun die natürliche Anlage und die erworbene Kenntnis zu großem Geschick entwickelt.
Wenn er jemals Medikamente gebrauchte, so waren es meist einfache Hausmittel, die seine Mutter nach seiner Anweisung zubereitete. Luft und Wasser wandte er mit Vorliebe an. Es war merkwürdig, daß er Leute fand, die sich seiner Behandlung unterwarfen, da es ihrem Geschmack und ihren Gewohnheiten ganz entgegen war, wenn es Luft und Wasser galt.
Ein Mittel stand ihm noch zu Gebot, damit ließen sich die Leute am liebsten behandeln: in seinen breiten, starken Händen lag eine wunderbare Macht, die die Leute für übernatürlich hielten. Durch Streichen mit den Händen konnte er Schmerz und Unruhe stillen und dem Kranken Schlaf verschaffen.
Wenn er nur in die Tür trat, fühlten sich der Kranke und seine Angehörigen schon besser durch sein: »Gott segne euch alle hier drinnen!« Gesundheit, Ruhe und Kraft strömten so stark von ihm aus, daß seine bloße Anwesenheit wohltätig wirkte.