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Ols Erik Larsson ging am liebsten zu Fuß, wenn er seine Pfarrkinder besuchte. Wenn er fuhr, mußte er sich an die Fahrwege halten, und die waren außer dem Landweg alle schlecht, der aber führte nur nach zwei Richtungen. Zu Fuß konnte er Richtwege durch die Wälder nehmen, wo niemand sich besser zurechtfand als er. Er hatte einen Kompaß und einen ausgeprägten Ortssinn, so daß er sich fast nie verirrte.
Es gefiel ihm, in seiner weit ausgedehnten Gemeinde umherzustreifen mit kurzen Ruhestunden und Unterhaltungen in Köhlerhütten, Kätnerhäuschen, bei Viehhirten und aus Höfen. Und wohin er kam, war er willkommen.
Lange Reden hielt er niemals, außer wenn er predigte. Da sprach er lange. Die Leute kamen von weither und wollten etwas für ihre Mühe haben. Und außerdem, wenn er einmal angefangen hatte, wollte er auch gründlich sein und den Text von Anfang bis zu Ende entwickeln, denn das gehörte sich so; aber in Unterhaltungen war er wortkarg und hörte lieber anderen zu.
Seine Hauptabsicht im Verkehr mit den einzelnen Gemeindegliedern war, sie kennen zu lernen und sich mit ihren Verhältnissen bekannt zu machen. Schon das machte ihn beliebt. Außerdem aber war er eine starke Persönlichkeit, die immer gab; wie kurz auch seine Äußerungen sein mochten, sie verschafften doch Klarheit, und das machte ihn noch beliebter.
Untersetzt wie er war, mußte er sich dennoch bücken, als er durch die Tür einer kleinen Hütte trat, die tief drinnen im Walde neben einer Stromschnelle lag. Er setzte sich auf das Ausziehsofa in der Ecke, und fast im selben Augenblick wagten sich die Kinder an ihn heran, alle, außer einem. Und doch war er eben um dieses Kindes willen heute in die Hütte gekommen.
Er blickte den Knaben an, und da dieser sich beobachtet fühlte, sah er zum Pastor auf. Scheu und argwöhnisch, fast boshaft, war der Blick der tiefliegenden Augen mit ihrem affenartigen Blinzeln. In dem Kindesgesicht lag ein Ausdruck, der von einem Trauerspiel in dessen unbewußter Welt erzählte. Der kleine sechsjährige Junge konnte wohl kaum selber sein Gewissen mit einer bewußten und gewollten Sünde beschwert haben. Mußte es darum nicht das unbegreifliche Gesetz der Erblichkeit sein, das den deutlichen Schatten der Schuld auf sein Gesicht gelegt hatte?
Ols wußte, daß dem so war. Er kannte die Herkunft des Kindes, und wußte, daß die Quelle, aus der sein Leben entsprang, vergiftet gewesen war. Auf einer seiner Wanderungen zu Anfang seiner Predigerlaufbahn in Skalunga war Ols Zeuge eines Verbrechens geworden, bei dem ein Mann der Gewalttäter, ein Mädchen das Opfer war. Er hatte den Verbrecher auf frischer Tat ertappt und ihn festgehalten, ehe er entfliehen konnte. Es war ein fürchterlicher Ringkampf gewesen. Das arme Mädchen, das durch einen Schlag bewußtlos gemacht worden war, war aus ihrer Betäubung erwacht und fing an zu schreien, als sie den Kampf zwischen dem Gewalttäter und dem Pastor sah. Dann waren Leute hinzugekommen, und der Verbrecher war übermannt, in Haft genommen und dann auf Aussage des Pastors und des Mädchens verurteilt worden. Das Mädchen war übel zugerichtet, blieb jedoch am Leben. Aber das Schlimmste war, daß sie nach langen, qualvollen Monaten Mutter wurde. Damals hatte sie sich fast zu Tode gegrämt und war nur mit Mühe von einem Selbstmord zurückgehalten worden. Sobald sie das Unglückskind geboren hatte, verließ sie das Land. Sie hatte das Kind gar nicht sehen wollen. Ihre Mutter hatte es zu sich genommen, aber die war jetzt gestorben, und das Kind war zu einer Pflegemutter gekommen. Und diese Pflegemutter besuchte »unser Ols« heute.
Der Pastor interessierte sich sehr für den armen, kleinen Mons, und der Gedanke kam ihm oft, was wohl aus ihm werden würde. Er verstand den Ausdruck in dem Gesicht des Kindes gut. Der Knabe erweckte keinen Widerwillen in ihm wie bei anderen, eher das Gegenteil. Er dachte, daß ein solches Kind wie Mons mehr der Liebe bedürfte als andere Kinder. Aber wer kann ein Bedürfnis nach Liebe stillen, wenn ein Wesen nur Widerwillen erweckt? Wer ein solches Kind um eigenen Vorteils willen aufnimmt, kann es nicht. Das können nur die, welche es in Jesu Namen aufnehmen.
Aus des Pastors grobem Gesicht leuchtete das Mitgefühl, und er streckte dem Kind die Hand entgegen, mit einer so natürlichen und von Herzen kommenden Bewegung, daß sie unwiderstehlich wurde und die finstere Macht der Erblichkeit besiegte, die das Kind gefangen und von anderen Menschen getrennt hielt. Der Kleine kam widerstrebend, wie von einer geheimen Macht gezogen, aus seiner Ecke. Er gelangte aber nicht bis zum Pastor, denn der wandte zufällig seinen Blick auf die Pflegegeschwister, Kinder mit jenem natürlichen Ausdruck der Unschuld, der Kindergesichtern eigen ist, und damit verlor er seine Macht über den armen Kleinen.
Die Mutter, die das beobachtet hatte, wollte kraft ihres Amtes eingreifen, um den Widerstrebenden vorwärts zu stoßen. Aber das wollte Ols nicht.
»Störe doch nicht!«
Vor dem gebietenden Ton zog sich die Frau schnell zurück.
»Ich wollte nicht stören, ich wollte ihn nur vorwärts stoßen,« erklärte sie.
Aber Ols achtete nicht weiter auf sie.
»Mons!« sagte er, nicht laut oder befehlend, aber der Knabe blickte gleich wieder zu ihm auf.
Und nun wiederholte sich dasselbe Schauspiel wie vorher. Der Kleine wurde, trotz seiner Scheu, wie von einer unsichtbaren Macht zum Pastor gezogen.
Als er heran war, faßte ihn Ols und setzte ihn auf sein Knie, der kleinen Britt gerade gegenüber, die auf dem anderen saß. Und das geschah so ruhig und natürlich, daß Mons gar nicht über das Unerhörte nachdachte, das ihm widerfuhr.
Die lebensvolle, magnetische Hand strich leise über des Knaben brennend rotes Haar. Der Mensch, der ihm durch ein Verbrechen das Leben gegeben, hatte dieselbe Haarfarbe gehabt, dessen erinnerte sich Ols noch.
Als Mutter Britta des Pastors Freundlichkeit gegen das Unglückskind sah, schämte sie sich, daß sie selbst nicht freundlich gegen den Kleinen sein konnte, den sie doch angenommen hatte.
»Ich weiß nicht, ob wir ihn behalten werden,« sagte sie halb entschuldigend, als dächte sie, der Pastor könne es übel aufnehmen. »Mein Mann findet, daß er boshaft aussieht; er fürchtet, er könne unsere eigenen Kinder verderben.«
»Hat er etwas Schlimmes getan?«
»Nein, nicht gerade. Man kann ihm aber wohl ansehen, daß er Schlechtes in sich hat.«
Ols sah Mons nachdenklich an. Faßte der Kleine, was über ihn gesagt wurde? Und wenn das der Fall war, wie könnte es anders als schädlich auf ihn wirken! »Wenn du ihn nicht mehr haben willst, dann bring ihn zu mir.«
»Zum Pastor? Du kannst doch nicht für so einen Kleinen sorgen! Er geht erst ins siebente Jahr, er braucht Aufsicht.«
»Meine Mutter sorgte für mich, als ich noch kleiner war. Das wird sie jetzt wohl auch noch können.«
»Aber sie ist jetzt alt.«
»Nicht im Herzen. Das altert nicht mit dem Körper.«
Ols setzte nun Klein-Britt und Mons ab, aber nur letzterem streichelte er den Kopf. Der Knabe blieb still neben dem Pastor stehen, anstatt gleich in irgendeine Ecke zu rennen, wie er sonst zu tun pflegte. Er war aber auch nicht gewohnt, durch Freundlichkeit festgehalten zu werden.
»Laß mich hören, Britta, ob es dir gelingt, das Kind lieb zu gewinnen.«
Die Worte gingen der Mutter zu Herzen, und sie sah jetzt mit anderen Augen als vorher auf den kleinen, affenähnlichen Jungen. Der Pastor zeigte ihr, daß ihre Pflicht gegen Mons tiefer ging, als sie gedacht hatte, da sie sich des Kindes annahm. Würde sie diese wohl erfüllen können, wenn der Knabe sich entwickelte?
»Ich will es versuchen,« sagte sie kleinlaut. »Aber sieh mal, da ist auch mein Mann, und der will gar nichts von ihm wissen.«
»Wenn es nicht geht, dann komm nur mit Mons zu mir,« sagte Ols und schüttelte der Mutter die Hand.
Das war sowohl ein Angebot wie auch ein Gebot, und die Mutter wußte, daß es keinen anderen Ausweg gäbe, als entweder Liebe zu dem kleinen Wechselbalg zu gewinnen oder einzusehen, daß sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen war, dann aber mußte sie ihn dem Pastor bringen.
Es war doch schön, daß sie die Schuld auf den Mann schieben konnte, wenn es unmöglich wurde, diese Liebespflicht zu erfüllen.