Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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XVIII.

Man hat wesentlich zu unterscheiden vom objektiven Leben das objektivierte Leben. Was objektiviert man denn? Wir sahen eben: das, was man los sein will! Den Zweifel, das Zuviel von Liebe und Glück, und vor allem die Gefahren und die Krankheiten. Oder will man z. B. den Hamlet, diese tiefste innerlichste Tragödie, die die moderne Menschheit besitzt, oder den Faust oder den Oedipus oder den Homburg oder den Kaskolnikow hinsichtlich ihrer Objektivität zu untersuchen oder zu preisen wagen! Als ob derartige überzarte, überfeine, überstarke, überstolze Naturen so en gros auf den Strassen herumschlenderten! Als ob es nicht immer die seltenen Ausnahmen, die »Einzigen« mit ihren einzigen Freuden und Leiden, Zweifeln und Gewissensbissen, Absichten und Reflexionen wären, die da zu uns sprechen! Wer ganz gesund ist, wie nach unseren Philister-Vorschriften alle Dichter sein sollten, der dichtet keinen Hamlet mehr, keinen Faust, keinen Homburg und keinen Raskolnikow! Wie verfiele denn sonst ein Poet gerade auf solche gallsüchtigen, visionären, übersinnlichen und exaltierten Gestalten! Wo gäb's eine tragische Schuld, wenn's keine schuldigen Dichter gäbe!

Auch die Nebenfiguren, die Gegenspieler, die Bösen, die Falschen, die Kleinen, die Lächerlichen sind nur Ausstrahlungen ihrer Dichter, es sind Schwächen und Laster, die sie vielleicht gerade überwunden haben, wie Göthe das Werther-Laster, als er den Werther schrieb.

Aber auch als die objektive Wiedergabe von Seelen-Ereignissen kann man das dichterische Produkt nicht auffassen. Auch mit einem »wahr gegen sich« und einem »wahr über sich« kommt man dem Künstler nicht bei. Nicht das Glück oder Unglück, sondern die Gefahr oder die Möglichkeit des Einen oder des Andern stellt er dar, das Beinahe von Erlebnissen. Ein Traum oder ein Schatten war daher fast immer noch der Inhalt aller Poesieen. Was bedeutet 176 das Problem des Wahnsinns in einer Dichtung, was dasjenige anderer physiologischer Erkrankungen (sexueller Krankheiten) als: beinahe hätte es mich, den Dichter treffen können; über meinem Haupte schwebte das Schicksal, dessen Nacht, das ich als Fatum dargestellt habe, aber das ich verscheuchte, halb von mir abwendete, indem ich es darstellte. Jede Dichtung ist ein Aufatmen nach schwerer Gefahr; hier liegt das Befreiende, das nämlich erst recht ein Befreiendes wird, wenn der Inhalt ein schauerlicher, süsser, gewaltiger ist! Vorausgesetzt, dass die Dichtung zu Ende gedichtet ist!

Das Verkehrte oder doch Einseitige aller Kunstbetrachtung liegt in der Fragstellung. Die ewige Frage lautet: warum erscheint dies schön, anstatt erst die Vorfrage zu stellen: warum wurde dies gemacht? Eine Vorfrage, die zuweilen auch die Antwort für die zweite Frage ermöglicht. Nicht eine Zuschauer-Frage, sondern eine Erlebnis-Frage wird hier gestellt. Weshalb gefällt dies Gedicht? Vielleicht gerade deshalb, weil es gemacht worden ist! Weil das Vorerlebnis (die Tragödie vor der Tragödie) dieses Liedes auch ein Erlebnis der Zuschauer war, weil man mitbefreit wurde durch eben dies Lied und nun gegen dieses Befreiungs-Moment dankbar ist, sowie man seinen Erlöser liebt. Nicht, weil er ein Erlöser ist, d. h. ein ethisch hochstehender Mensch, sondern weil wir durch ihn erlöst sind, empfinden wir Dank und Liebe gegen ihn. Aber hinterher nehmen wir ihn als selbständige Erscheinung und finden kein Ende, seine Tugenden zu preisen. Der Beweis, den wir für seine Tugend haben, ist eben seine Tugend, sowie wir die Schönheit eines Kunstwerks nur immer wieder aus seiner Schönheit zu beweisen vermögen. Wir befinden uns so in einem ewigen Circulus und wollen es nicht wahr haben!

Was man aber als Beweis rein aesthethischer Wirkungen so oft anführt, das möchte ich vielmehr für das Gegenteil citieren. Wohl sehen wir die Künstler ewig mit dem Problem beschäftigt, das Erlebnis aus sich heraus zu projicieren, 177 und es so im Sonnenscheine der Objektivität sich spiegeln zu lassen. Wohl bemühen sie sich unablässig, um das rein Persönliche, das Bedrückende und Beängstigende, das Tendenziöse des ganzen Werks abzuschwächen, abzuleiten, fern zu halten, um seine Uebermacht zu wehren: eben weil sie sich selber frei machen wollen. Und wie erfinderisch ist nicht der künstlerische Geist, um sich das rein Persönliche sozusagen vom Leibe und noch viel mehr von der Seele zu halten. Die Erzählung in der Erzählung, das Schauspiel im Schauspiel, alles Episodische, wie es die Tragödie noch kurz vor der Katastrophe liebt, das Verweilen am schönen Augenblick, eben weil man weiss, dass er nur kurz ist, dass er im Husch verflogen sein wird und deshalb ausgenossen sein will; ferner die Lust an den Kontrasten, der Wohlklang der Rede, die Wiederholung, die Verkleinerung oder auch die Uebertreibung des Ausdrucks, kurz all die Mittel, durch die der Künstler sein Erlebnis sich aus der Seele herausprojiziert: sie alle zeugen von der Uebermacht, von der Uebergefahr des Stoffs, von der überstürzenden Gewalt der Tendenz.

Wilhelm Scherer hat sich wenig in den dichterischen Prozess vertieft. Sonst könnte er sich die Erzählungen im Homer nicht so deuten, wie er es thut. Nach ihm hätten sie den Zweck, dem Dichter einen Zuschauerkreis vor seinen Zuschauern zu schaffen, um ihm so den Erfolg und die Wirkung gleichsam vorweg zu sichern. Mag dies Moment auch mitbestimmend gewesen sein, diese Erscheinung hat tiefere Ursachen. So tritt der Poet gleichsam aus dem Bann- und Stoffkreis heraus; das Ganze ist in eine höhere Sphäre gerückt, gleichsam von ihm fortgerückt in poetische Ferne. Jetzt ist er frei!

Feiner und tiefer ist Niemand in der Verwendung solcher Mittel gewesen als Shakespeare. Ist er doch der tiefste, feinste und verletzlichste von allen Dichtern, empfand er doch am schwersten die Uebergewalt des Stoffs und der Tendenz. Liest man die Shakespeare'schen Texte noch hinter den Texten, vermag man sich eine Ahnung zu verschaffen, was wohl zuerst auf seinem Concepte gestanden haben mag, was er dann aber verwischt 178 und noch einmal überschrieben und überwitzelt hat, dann begreift man, wie schwer das Alles (sein Leben!) auf seiner Seele gelastet haben muss. Alles Theatralische und Doppelt-Theatralische – das Theater bedeutet immer eine Oberflächlichkeit – z. B. die Theatralik seiner Gerichtsszenen, die Parallelisierung und Contrastierung seiner Motive und Charaktere, das Witzelnde seines Dialogs, die ganze gerade bei ihm so beliebte physische und seelische Maskerade, die Masse des Stoffs und die Hast, mit der er die Handlung sich ablaufen lässt, das Alles sind für ihn nur Mittel zum Zwecke der Selbstbefreiung durch die Kunst, gleichsam seine Eisenstäbe, mit denen er die magnetischen Kräfte seiner Erlebnisse zu dirigieren und von sich abzulenken gewusst hat; also altfränkisch gesprochen: ein Selbstbetrug.

Nicht so sicher in der Handhabung dieser poetischen Magnet-Stäbe war unser ehrlicherer Kleist, der daher auch unter der Wucht der eigenen Tragödie zusammengebrochen ist.

* * *

Der Pantheismus und religiöse Indifferentismus eines Goethe hat unter anderem auch darin seinen Grund, dass dieser, die Grösse und Tragweite seines Geistes früh ahnend, sich seinen Himmel möglichst hochrücken musste, um die Freiheit der Bewegung zu behalten. Ein Naturgott, der alle Einzel-Götter umfasste, ein Himmel, gespannt über das ganze Weltall, brauchte auch schliesslich einen Goethe nicht mehr zu beengen, da war's auch für ihn noch frei und hell genug! »Die Poesie ist sich Selbst-Zweck« bedeutet in seinem Munde: Der Zweck meiner Poesie, und was mir als Poesie grossen Stils erscheint, ist grösser als fast alle der bekannten Zwecke und Tendenzen! Man kann von uns nicht erwarten, dass unsere Poesie unter's kaudinische Joch solcher enger, beängstigender Augenblicks-Zwecke und Liliput-Tendenzen unterkrieche! Aber wie? War sie deshalb zwecklos? Giebt es nur eine Tendenz der Krümmungen und Kratzfüsse? Giebt 179 es nicht auch eine gerad- und hochnackige Tendenz? Kann die Tendenz nicht selber im Nacken sitzen, und gerad austreiben? Ja, thut sie das nicht? That sie das nicht? Weil eines Mannes Haupt alle Parteien, Clubs, Cliquen, Schulen überragt, weil er keinem Momentan-Zwecke entspricht, sich Niemandes Willen beugt, ist seine Kunst deshalb zweck- und willenlos? Muss er nicht deshalb gerad um so willensstärker sein?!

Irgend einem religiösen oder politischen oder künstlerischen Pantheismus huldigen, verrät fast immer die Absicht, sich seine Zeitgötter ein wenig vom Halse zu halten, in gewissem Sinne unmodern, »unzeitgemäss« zu sein. Man ist Kosmopolit, weil man nicht in den engen Nationalismus seiner Tage aufgehen will.

Es ist zwar sehr hübsch und liebenswürdig von Heine gesagt: »Die Natur wollte wissen, wie sie aussähe und erschuf einen Goethe«. Aber es ist nicht eben so richtig. Es ist nur halb wahr, d. h. für seine Zeit und seine Naturanschauung wahr. Damals, als Goethe die gesammte poetische Anschauung in Deutschland beherrschte, sah man eben die Natur mit Goethi'schen Augen an und identificierte deshalb die Goethi'sche Darstellung der Natur mit dieser selbst, wie dies ein Volk gewöhnlich mit seinen National-Dichtern, ja überhaupt seinen Heroen thut. –

Der Pantheismus, der Kosmopolitismus, der Humanismus, der Indifferentismus ist bei edlen und grossen Naturen nur immer ein Verteidigungsmittel, oft nur ein Fliegenwedel! –

XIX.

Wir sind sehr empfindlich gegen jede Verletzung der historischen Treue, namentlich, wenn ein Dichter einen legendarischen oder mystischen Stoff in modernem Geiste behandelt. Allerdings kann es eine Art der Behandlung eines 180 Stoffs geben, die ihn einfach aufhebt und sich schlechterdings nicht mit ihm vertragen will. Ich denke da aber nicht an die berühmte und berüchtigte romantische Ironie. Denn auch sie hat ihre Berechtigung, nämlich als – Ironie; so wie der Witz eben als Witz seine Berechtigung hat, ob er auch tausendmal zerstört. Gegen ihn anzukämpfen und ihm die Berechtigung abzuleugnen, steht nur dem zu, der selbst von ihm zerstört ist, oder im Begriffe steht, es zu werden. Die Grösse und Bedeutung eines Witzes muss man eben nicht an ihm selbst, sondern an der Gösse der von ihm angerichteten Verwüstung bemessen.

Witz und Ironie sind eben selbst künstlerische Mächte und haben als solche ihre Berechtigung. Aufgabe jedes Künstlers ist es, sich seines Stoffs zu bemächtigen, Herr über ihn zu werden. Ob nun als Aneigner oder Vernichter, das ist im Grunde doch nur die verschiedenartige Aeusserung desselben Prinzips eines künstlerischen Triebs. Und sieht man genau zu, so sind beide Gattungen von Künstlern denselben moralischen Vorurteilen unterworfen, beide gleichmässig von Philistern und ewig unkünstlerischen Naturen verurteilt und verleumdet. Den Moralisten sind beide wegen ihres Egoismus ein Scheuel und ein Greuel, und die erste Gattung oft noch weit mehr als die zweite.

Das zum Beweise bleibt die Geschichte Goethe's in Deutschland wol die wichtigste und interessanteste Urkunde; – Goethe's und seines Antipoden Heine's, die man ja beständig gegen einander auszuspielen beliebt; die man aber gegeneinander auszuspielen immer noch klüger thut, als sie mit einander zu vermengen, auf eine Basis stellen zu wollen! –

Also auch das Recht hat der Dichter, seinen Stoff zu zerstören und aufzuheben. Denn in beiden Fällen, ob er seinen Stoff bejaht oder verneint, thut er doch eigentlich dasselbe, er sagt ja zu sich, selbst dann noch, wenn er sich als Mensch, wie der »charakterlose Lump« Heine verneint, auch dann noch sagt er ja zu sich, nämlich zu sich als Künstler. Also von hier aus wird niemals eine Gefahr für das 181 Kunstwerk erwachsen. Der geistig oder künstlerisch überlegene Dichter ist immer im Recht!

Es geht eine Sage durch die gegenwärtige Kritik von dem Pessimismus moderner Dichter und der Selbst-Auflösung moderner Kunst. Man verwechselt hier wieder einmal den Dichter mit seinem Stoff! Weil er das Leben negiert, negiert er deshalb auch sich selbst? Oder weil er seinen Objecten, den Menschen, den Verhältnissen gegenüber Pessimist ist, ist er es deshalb auch in Bezug auf sich selbst? Vom Pessimismus gilt, was Byron von der ihm untergelegten Misanthropie gesagt hat: Wie? Weil ihr mich hasst, bin ich Menschenhasser? So darf auch der moderne Dichter antworten: Weil ich von euch nichts wissen will, deshalb nennt ihr mich einen Pessimisten!?

Und sieht man genau zu, dann folgen die Mängel eines Kunstwerks auch jedesmal nicht aus der geistigen Ueberlegenheit, sondern umgekehrt aus einem künstlerischen oder geistigen Mangel seitens des Dichters. Er war vielleicht auch seinem Stoffe überlegen, aber nicht genug, um ihn ganz in sich aufnehmen, um ihn ganz verschlingen oder vernichten zu können. Es sind ihm überall noch Reste von Speisen in den Zähnen geblieben, oder das Ganze liegt ihm noch unverdaut im Magen (zuweilen bei Grabbe der Fall). Ein Egoist und Epikuräer, wie Goethe, hat seine Speisen anders in sich aufzunehmen verstanden!

Die unverdauten und nicht gegessenen Reste von Speisen, sie sind das Unästhetische und auch ethisch Gefährliche, das Quälende und Peinigende an einem Kunstwerk. Ein Künstler muss sich seines Stoffs so bemächtigen, dass man den Stoff selbst darüber ganz vergisst, und am Ende das Werk selbst sein Stoff zu sein scheint. Das Volksbuch vom Faust, die Geschichte des Saxo Grammaticus vom Prinzen Amleth, oder die englisch-italischen Erzählungen, die Shakespeare den Stoff zu Othello und Romeo und Julia gegeben, das sind dann am Ende nur »die Quellen« zu denen diese Dichtungen zurückleiten. Wer denkt da noch an »Stoff«, an »Modernität«? 182 An »Congruenz der Behandlung«? Oder völlig an den »Geist« oder den »Charakter« jener Stoffe? Oder wollte Jemand wirklich im Ernste behaupten, die Gretchen-Episode sei im Geiste des Volksbuchs oder des sechzehnten Jahrhunderts?

Nur bei modernen Dichtern spricht man nicht von Quellen, sondern von Stoffen, und wo von besonders missliebig gewordenen Dichtern die Rede ist, (z. B. bei Heine) von Diebstahl. Sie allein haben nicht das Recht, Stoffe zu kneten und umzumodeln, sie sollen durchaus Respekt vor jedem Stücke Vergangenheit und Nationalität haben, jedem Glauben und jeder Erscheinung – nur selbstredend vor sich selber nicht! Kurz, sie sollen Alles sein, nur keine Künstler. Sie sollen nur Zuschauer des Lebens sein, aber nicht selber leben, ja sich nicht rühren und mucksen! So fasst z. B. noch Gottfried Keller ihr Wesen auf und hat dieser Auffassung im dritten Bande seines »Grünen Heinrich« einen geradezu klassischen Ausdruck gegeben, weshalb ich ihn auch, wie auch seiner Schönheit wegen, hierhersetzen will:

». . . Nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann, die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muss es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Teil von ihr sie wiederspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden, dass er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben, wie der, welcher am Wege steht . . . Der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen, und wenn er ein rechter Seher ist, so kommt der Augenblick, wo er sich dem Zuge anschliesst mit seinem goldenen Spiegel, gleich dem achten Könige im Macbeth, der in seinem Spiegel noch viele Könige sehen liess.« 183  –

Wie aber verhielt sich Gott, als er die Welt schuf? Auch mäuschenstill? Und nachdem er die Welt geschaffen, hat er nichts mehr zu thun, als in Ewigkeit den Zuschauer zu spielen? »Der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen«. Aber ist der Seher der Künstler? Ist das sein Schaffen, dass er sich mit dem goldenen Spiegel dem Zuge anschliesst?

Aber Keller ist trotzdem im Recht! Er denkt speziell an den goldenen Spiegel des Humoristen. Der Humorist in ihm hat Recht; denn dieser steht bereits ausser- und oberhalb alles Lebens. Es ist die letzte, die reifste und umfassendste aber auch jedesmal die unfruchtbarste und gefährlichste Art von Kunst. –

Wenn man übrigens angesichts so vieler moderner Kunstwerke den Aesthetikern mit der Forderung der Objektivität, der historischen Treue gleichwohl recht geben muss, so hat dies seinen Grund darin, dass oft genug die Künstler, die gegen jene Forderung verstossen, doch selbst eigentlich auf demselben Boden stehen und gleichsam selber mit dem Finger auf ihre Fehler zu weisen scheinen. Denn das ist einmal Grundgesetz in der Kunst wie im Leben, dass alles Das falsch oder fehlerhaft ist, was vom Schöpfer selber als solches empfunden wird. Das Recht mit dem Stoffe zu schalten hat Derjenige eingebüsst, der den Stoff, um des Stoffes willen gewählt hat. Denn am Ende hat ein Jeder das auszuführen, was, und zwar so auszuführen, wie er es sich vorgesetzt hat. Wenn man z. B. das Lied der Menschheit singen will, in höchster Objektivität, und in voller Achtung gegen die Continuität der Entwickelung, dann hat man allerdings auch die Verpflichtung auf sich genommen, in der Urzeit die primitivste Psychologie anzuwenden, dann wird allerdings die Modernität einer Seelen-Verfassung zum Fehler. – 184

* * *

Wählt ein Künstler einen Stoff aus ferner Vergangenheit, dann können folgende drei Fälle eintreten:

1) Er behandelt ihn modern, d. h. aus modernem Geiste und Herzen heraus, also unhistorisch, unrealistisch, unwahr.

2) Er behandelt ihn historisch und realistisch, so weit das im Bereiche der Möglichkeit liegt – aber unmodern oder hinsichtlich der Modernität indifferent.

3) Er stellt gewisse Grundprobleme und Gedanken, einfachste Gefühle dar, die beiden Zeiten gemein ist und verfällt dann in die Convention.

XX.

Was heisst ein Anachronismus? Ist es das, wenn ein Dichter seinen Stoff in einer vergangenen Zeit spielen lässt und Dinge neuester Erfindung hineinbringt? Z. B. wenn Buttler den Blitzableiter als Tertium comparationis benutzt, oder Odysseus in »Troilus und Cressida« den Aristoteles zitiert, im Coriolan Mützen in die Luft geschleudert werden oder bei Raphael Apoll die Geige spielt?

Aber alles Das sind Lappalien, nicht der Mühe wert, bei ihnen zu verweilen, im Verhältnis zu den weit feineren, weit häufigeren Anachronismen, die jeder Dichter begeht, begehen muss, sobald er einen historischen Stoff behandelt: nämlich Anachronismen der Psychologie. Sich in eine vergangene Zeit zurückversetzen, heisst, sich künstlich in eine vergangene Epoche seines Seelenlebens zurückschrauben. Wir gestatten es etwa höchstens noch dem Märchendichter, dass er Tiere reden lässt. Aber wir sagen nichts dazu, wenn Menschen, vielleicht einer prähistorischen Zeit Empfindungen haben, die erst der entwickelteren Psyche des modernen Menschen eigen ist. Es kommt dabei noch am wenigsten darauf an, dass jener etwa moderne Gedanken ausspricht; 185 was hier in Frage kommt – hier verrät sich jedem feineren Sinne erst, wie weit ein Künstler mit der Natur auf vertrautem Fusse steht – das ist für die Darstellung der dunkelste und richtigste Teil unseres Innenlebens. Und Dichtungen, die sich hier keines Anachronismus schuldig machten, gibt es einfach nicht. Denn schon die Sprache ist ein Anachronismus, nicht sowohl der Laute wegen, die gesprochen werden, als vielmehr des Inhalts wegen, den sie bergen, wegen all der Neben-Empfindungen und Associationen, die sich an bestimmte Laute knüpfen. Ein Alt-Germane, um von fremden Völkern ganz zu schweigen, der die Sprache eines Dichters des neunzehnten Jahrhunderts spricht, oder vielleicht, wenn es hochkommt, aus einem Dichter des neunzehnten Jahrhunderts spricht, kurz ein Mensch, der die Denk- und Empfindungsweise von ganzen zwei Jahrtausenden anticipiert, was ist das anders, als ein Tier, welches redet, – ein Märchen!

Was folgt daraus? Dass die historische Dichtung keine Berechtigung hat? Nein! Aber dass die historische Dichtung ihre Berechtigung nicht aus der Historie, dass überhaupt kein Kunstwerk seine Bedeutung aus dem Stoffe herzuleiten hat und dass vor Allem, was man Kunstwahrheit nennt, niemals im Gegenstand zu suchen ist. Keine Kunst geht vom Stoff aus, sondern nur von der Subjektivität des Künstlers. Ja, was wir Stoff nennen, ist meist selbst schon etwas rein Subjektives und Ideelles. Nicht der Stoff, sondern der Zweck, dem er dient, entscheidet.

Man muss Zwecke haben, die Mittel werden sich schon finden. Ein grosser Wille ist noch nie um Mittel in Verlegenheit gewesen. Er schafft aus dem Nichts, wie ein genialer Feldherr Armeen aus der Erde stampft. Aber das Unglück ist, uns ist es heute nur um die Mittel zu thun, wir wissen nicht, was damit anfangen. Ein gut Teil unserer Dichter, und noch mehr unserer Gelehrten, gleichen dem filzigen Geizhals, der nur immer scharrt und zusammen scharrt, um seinen Reichtum in Säcken und Töpfen irgendwo unter der Erde zu 186 vergraben. Wir verhungern bei vollen Schüsseln, weil es uns gar nicht mehr einfällt, dass die Speise da ist, um gegessen zu werden, und nicht »um ihrer selbst willen.«

Es ist eben schon die erste Wirkung einer künstlerischen Tendenz, dass der Künstler gerade jenen und keinen andern Stoff wählt. Ob er nun die Hermannschlacht, die sozialen Kämpfe in Rom oder den Ehebruch behandelt, das ist eben schon in der Zweckwirkung seiner Kunst mit einbegriffen.

Deshalb glaube man aber keineswegs, der Stoff wäre etwas Aeusserliches, Zufälliges, Willkürliches. Das ist es höchstens dem »freien Künstler.« Der Tendenz-Dichter bedient sich seines Stoffs, wie der Mensch seiner leiblichen Organe. Das Auge ist dazu da, um zu sehen, und sich nicht »Selbstzweck«, aber deshalb steht es dem Menschen nicht frei, etwa mit dem Ohre sehen zu wollen.

XXI.

Käm's auf die Anschaulichkeit allein an, auf die Gegenständlichkeit, dann wär's um Dante, Aristophanes, um das Nibelungenlied, um Shakespeare und Michel-Angelo schlecht bestellt. Sie alle würde ein Dichter wie Theodor Storm überragen. Nur das Kleine ist anschaulich, d. h. überschaulich, zumal für kleine Kritikaster. Wer ist Riese genug, jene zu überschauen, d. h. sie in ihren Grenzen und Formen anzuschauen. Alles Gigantische ist unserem Auge nicht anschaulich, so wenig, als der Hügel es einer Ameise ist! – Wer kann für die Anschaulichkeit dessen bürgen, das er selbst noch nicht angeschaut hat, weil er es eben erst aus dem Chaos geschaffen hat; für die Gegenständlichkeit und Naturgemässheit dessen einstehen, das eben gar keine Natur, gar kein Gegenstand war? Das eben erst wird, und da es wird, auch noch keinem Gegenstand gleich oder ähnlich sein kann? 187 Das selbst also auch noch gar kein Mass hat? Der Künstler, der schafft, ahmt weder der Natur noch die Natur nach, sondern er meistert sie; er respektiert nicht die Gesetze der Natur, sondern drückt ihr die eigenen auf. Soll denn auch das Niedergeartete dem Höheren die Norm bieten? Des Künstlers Schaffen gleicht gerade darin dem Gottes, dass er nach seinem Ebenbilde Alles gestaltet. Deshalb ist z. B. Unwissenheit zuweilen eher fördernd als hemmend für den Künstler; denn er wird jetzt um so rücksichtsloser die Natur meistern. Die Sage vom blinden Homer und ungelehrten Shakespeare gelangt hier wieder zu ihrem Recht.

Man verwechselt hier – und das ist ein Kardinal-Fehler der meisten Aesthetiker – die Wahrheit – und Gesetzmässigkeit der Natur, von der wir doch eigentlich, streng genommen, so gut wie gar nichts wissen, mit der Gesetzmässigkeit des rezeptiven Publikums. Die Grösse und Bedeutung eines Kunstwerks hängt nicht von der Gegenständlichkeit des behandelten Stoffes ab, sondern von der Wirkung und zwar der beabsichtigten Wirkung auf ein ganz bestimmtes Publikum. Weit wichtiger, als die Mahnung an die Künstler, die Natur zu studieren, ist die, ihr Publikum, ihr Volk, ihre Zeit zu studieren! Und das haben alle grossen Künstler gründlich gethan. Sie haben die Kunst nicht um der Kunst willen geübt, ob sie auch während der schöpferischen Thätigkeit ihre Schulden, Weiber und Honorare vergessen mochten! Ja, vielleicht vergassen sie auch die ganze Welt darüber! Aber das hindert nicht, dass sie nicht trotzdem Rhetoriker gewesen sind. Wie? Hatten sie nicht ihren Zuhörer immer bei sich? Nämlich sich selbst? Spricht der Mensch nicht mit sich selbst? Pflegen nicht die Dichter ihre eigenen Verse sich mit Wollust laut herzusagen? Werden sie nicht selbst durch ihre Dichtungen in Schmerz und Freude, in Wut und Verzweiflung versetzt? Verbürgt sich so nicht die Wirksamkeit ihres Werkes – o dieses Pleonasmus! – an sich selbst? Sind unsere Werke nicht das, was wir wirken? Und sollte das, was 188 wir wirken, keine Wirkung haben? Und ist jede Wirkung nicht ein tendenziöse Wirkung, wenn auch eine künstlerisch tendenziöse Wirkung?

Man lasse sich durch aristokratisch gesinnte Dichter nicht irre machen, die, wie etwa Goethe, gern abseits vom Wege gingen. Sie hatten eben nur einen feineren Geschmack, ohne deshalb weniger geistige Raubtiere gewesen zu sein. Goethe hatte ein kleines Publikum, doch dieses um so gewisser im Auge. Er sprach durch seine Dichtungen mit seinen Freunden. Er verschmähte die Wirkungen auf die Menge, aber dieses kleine Weimar hatte er auf Jahrhunderte hinaus vergoethisiert. Sein Publikum war Herzog Karl, Frau von Stein, Schiller, Humbold und noch ein paar andere wenige; aber auf sie war er seiner Wirkungen um so gewisser. Sie hatte er ganz in seinem Bann. Man sehe nur, wie Schiller durch Jahre beflissen ist, sich Goethe's Natur anzupassen. Nicht sie Beide hatten sich auf Umwegen genähert, wie unsere Litteraturhistoriker so rührend zu erzählen wissen, sondern Schiller fühlte sich von Goethe angezogen, wie der kleinere Stern dem grösseren zufliegt. In seinen theoretischen Schriften z. B. wollte Schiller immer noch goethischer sein als Goethe selbst. Das hatte die Goethische Kunst- und Lebens-Tendenz bewirkt.

Schillers Verhältnis zu Goethe hatte – man muss darauf namentlich seine Briefe und Polemiken sich ansehen – etwas Ritterliches an sich, aber nicht die Ritterlichkeit des Mannes zur Frau, sondern – des Ritters zum Könige. Schiller war immer bereit, Goethe mit seinem ganzen Leibe zu decken.

Und das ist ein weit eigenerer, raffinierterer Geschmack als alle sogenannten Erfolge beim grossen Publikum. Natürlich! Von einem grossen Geist darf man erwarten, dass er auf andere vornehme Geister wirkt. Denn nicht der Lärm zeugt von Wirkungen. Die grössten und weitesten Wirkungen geschahen noch meist im stillen Kämmerlein! 189

XXII.

Ich kämpfe für die lebendige Kunst.

Wäre die Schönheit nämlich etwas Ewiges, Absolutes, in sich selbst Geschlossenes und nur durch sich selbst Bestehendes, so könnte sie niemals absterben, also auch nie gelebt haben.

So wie die Wahrheit wandelbar ist, so ist es auch die Schönheit. Jede Kunst ist nur so lange Kunst, als sie wirkt, tendiert. Wir aber können uns heute nicht entschliessen, zwischen gelehrter, toter und lebendiger wirkender Kunst zu unterscheiden. Was vor fünftausend Jahren höchste Kunst gewesen ist, kann uns heute weniger Kunst sein, als ein Werk unserer Zeit niedersten Ranges. Der Sturmwind, von dem ich lese, ist mir gleichgültiger als der leiseste Zephir, der mir ein Blatt aus der Hand weht. Der Sturm, der mich nicht umwirft, ist gar kein Sturm mehr für mich. Das Umwerfen gehört zum wesentlichen des Sturms. Einen grossen Künstlergeist begreifen, heisst wissen, was er alles niedergeworfen hat. An den umgeworfenen Dächern erkenne ich die Gewalt eines Sturmes, – und an den Schutzmassregeln gegen ihn. Ich lasse auch Niemanden als Kenner eines Dichters gelten, der mir nicht zu sagen weiss, gegen wen der Dichter geschrieben hat; wen er Alles hat niederwerfen und entwurzeln müssen, um seine Bahn daherzubrausen; und wer immer noch gegen ihn sich zu verbergen, gegen ihn anzukämpfen Grund hat.

Wir pflegen heut auf alle Art von Gegnerschaften anerkannter Groessen sehr hochmütig herabzusehen. Das dümmste Motiv hör' ich zum häufigsten nennen: der Neid. O, die Schlange ist auch neidisch, die ich getreten und die mich zum Dank dafür in die Ferse sticht! – Nein, es ist nichts mehr und nichts weniger als die Selbsterhaltung jener Geister. Denn so lange wir noch kämpfen, sind wir auch noch nicht untergegangen, ist auch der Sieg noch eine Möglichkeit! – 190

Wie lange aber wirkt ein Werk? Entscheidet die Schönheit oder Wahrheit über die Dauer des Lebens? Die schönsten und wahrsten Werke pflegen aber oft gerade den kürzesten Atem zu haben! Nein! sondern vielmehr solange die Ideen und Ideale Dauer haben, so weit der Wille reicht, der aus dem Werke spricht, solang die Kunst- und Welt-Anschauung noch dieselbe ist, so lange man diese Welt noch glaubt, hofft, wünscht. – Manch tausendjähriges Kunstwerk kann noch das neueste Produkt überleben, weil seine Ideen, Ideale und Tendenzen freilich nicht die alte, aber immer noch so gewaltige Macht besitzen, dass ihr Odem schon noch ein paar weitere Jahrtausende aushalten wird. Oft auch kommt die ganze Gewalt und Wirkung nach hunderten oder tausenden von Jahren erst zur vollen Entfaltung. Shakespeare hat zwei Jahrhunderte gebraucht, um seine Backen voll zu nehmen! Nicht dass das Verständnis für ihn erst jetzt aufgeht! Aber nach zwei Jahrhunderten erregt sein Geist eine Revolution in ganz Europa!

Nicht die Masse der Volkes, auf die ein Kunstwerk wirkt, sondern die Dauer der Zeit, die es wirkt, die Kraft und Eindringlichkeit, mit der es wirkt, die Naturen, auf die es wirkt, und schliesslich, dass es überhaupt wirkt, giebt den Massstab für seinen Wert ab. Hat seine Wirkung erst einmal ganz aufgehört, in demselben Augenblick hat es auch aufgehört, ein Kunst-, ein Lebenswerk, überhaupt ein Werk zu sein. . . . Es ist Cadaver für die Würmer – d. i. die Gelehrten, speciell die Philologen!

XXIII.

Es gibt Werke, die sofort bei ihrem Erscheinen von der Nation des Dichters, von den Massgebenden und Gebildeten wenigstens vergöttert werden. Warum? Weil die 191 Tendenz, z. B. die patriotische, religiöse, auch humane Gesinnung und Denkweise die offene oder geheime Tendenz dieser Nation, dieses Zeitalters gewesen, weil er wirklich gesagt und gesungen, was »Allen auf den Lippen schwebte«, weil er die geheimsten Gefühle, die Sehnsucht und Absicht der Zeit und der Nation hat erklingen lassen. Das erklärt z. B. Schiller's Erfolg, am Ende seines Lebens, die schwärmerische Verehrung, welche Dichtern, wie Calderon Camoes, Hugo zu teil wurde. Solch Schicksal wird auch Volkshelden zu teil. Der Strom geht mit ihnen, und sie werden mit diesem Strome gehoben. –

Am empfindlichsten äussert sich die Tendenz in der Kunst, und überhaupt jede Tendenz, wo viele gleich starke Parteien vorhanden sind, wie in den modernen Staaten, Parteien, deren Glück auf- und abschwankt, und deren Zugehörigkeit keine Bürge für die Zukunft und nichts Grosses bietet. Deshalb bildet sich auch sofort über die Köpfe dieser Parteien hinweg eine neue Partei. So sehnt sich und steuert das Schiff, das lange Zeit durch krumme und enge Flüsse, durch schmutzige und niedrige Gewässer gefahren, hinaus auf das freie Meer, auf die starken und gefahrvollen Wogen des Ozeans. Lieber hier auf offener See untergehen, lieber kämpfen mit den Stürmen, lieber zerschellen an den Felsen und Klippen im Meere als ruhmlos und würdelos umher rudern auf jenen Zufalls-Wasser-Strassen. Und unsere grossen Dichter haben sich alle schon hinausgewunden aus diesen schmutzigen Kanälen und steuern längst lustig auf offener See umher.

Aber das ist kein Aut-Aut, nichts Ausschliessliches; am Ende auch Geschmackssache. Und was thut das für unseren Begriff?!

Wer gegen den Strom rudert, hat den Strom zum Gegner, er »stösst an«, berührt ihn »peinlich«, ist dem Strom ein Tendenzruderer. Je kleiner die Partei ist, auf die sich ein Held oder Dichter stützt, je grösser die Wassermassen, die ihm entgegenstürzen, um so mehr gilt er auch 192 als ein Tendenzler, ein Unsinniger, Unrealistischer (Wirklichkeitsfälscher) – denn jeder Wassertropfen grollt ihm, dass er mit seiner Realität nicht gerechnet hat; und ein Wassertropfen ist eine Realität und fühlt sich als eine Realität. –

Nun, wenn aber einer gross und unabhängig genug wäre, ausserhalb und überhalb aller Parteien auf sich selbst zu stellen, d. h. ganz parteilos und unparteiisch zu sein, würde nicht gerade er als der entsetzlichste Tendenzmensch empfunden werden? Kann Einer subjektiver, willkürlicher, selbstischer, rücksichtsloser sein? Wie? Ist nicht der stärkste, einsamste, unabhängigste Geist, die grösste Tendenzerscheinung für sich, zumal, wenn er zerschellt oder niedergewirbelt wird von den auf ihn einstürzenden Wellen? Wenn er ein »Ich banne Euch« spricht, und die ganze Gesellschaft aus seinem Gesichtskreise heraustritt, wenn er gleich dem auf's Schaffott geschleiften Danton ein »Schweigt, da unten, ihr!« niederdonnert. Erweist sich freilich dieser Eine Geist als siegreich, wie in der politischen Welt Bismarck, in der Kunst Shakespeare und Wagner, dann wird hinterher von seinen Anhängern die Tendenz zu einer Tendenzlosigkeit, zu einer Naturgemässheit umgedeutet. Die Natur hat sich mit dem Geist so halb und halb versöhnt, hat sich ihm untergeordnet, bildet sich aber ein, er hätte es ihnen gethan! Man thut sich etwas zu gut darauf, diese Gesetze, die siegen, noch rechtzeitig erkannt zu haben. So bildet sich die Frau einer guten Ehe ein, wenn sie gar nicht mehr anders denken und handeln kann, als nach dem Willen des Mannes, sie sei vollständig Eins mit ihm, und es richte sich alles nach ihr.

Also, je parteiischer, um so objektiver, sachlicher, nämlich der Sache der Partei dahingegeben; je subjektiver, absichtlicher, willkürlicher, tendenziöser, um so parteiloser, einsamer.

Vielleicht kommt es den Anti-Tendenzlern auch gar nicht sowohl um die schöne Objectivität als um etwas ganz anderes an: die Gerechtigkeit. Der Parteimensch ist ungerecht. Dies ist aber nur halb wahr und hängt von seiner sonstigen 193 Geistesbeschaffenheit ab. Denn eigentlich ist der Mensch gegen Alles gerecht, das er durch seine Gegnerschaft ehrt und schon, indem er es thut. Im Gegenteil, überschätzt er gewöhnlich eher seine Gegner. Die Gefahr der Parteimenschen besteht gerade darin, dass sie ihre Gegner zu wichtig nehmen. In politischen Vereinen kann man reden, wovon man will, Alles wird auf politische Fragen und Fraktionsführer bezogen. Sobald man hingegen zwei sich befehdende Parteien überwunden hat, verlieren Personen und Streitigkeiten ihre Wichtigkeit. Man wird ihnen nun in aller Ewigkeit nicht mehr gerecht. Ja, man hat sie geradezu durch seine Parteilosigkeit vernichtet, Man kann so weit Geist geworden sein, so hoch über die Natur und Alles, was menschlich ist, hinausgeflogen sein, dass Mensch und Natur selbst den Reiz künstlerischer Behandlung verlieren. Es giebt eine Geistigkeit, die über alle Kunst hinaus ist, weil sie über alle Natur hinaus ist. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Philosophen so selten künstlerischen Neigungen auf die Dauer huldigen, so hochbegabt sie von Haus aus für die Poesie zuweilen auch waren, wie einige illustre Beispiele ja zur Genüge beweisen. Sie kamen, wie über Alles, so schliesslich auch über die Poesie hinweg. Denn wie zur That, so gehört auch zur Kunst »ein Umschleiertsein durch die Illusion«.

XXIV.

Und selbst, was die Tendenz in der Kunst als spezielle politische Tendenzmacherei betrifft, so muss ich gleichfalls offen bekennen, dass ich es auch in diesem engeren Sinne mit der Tendenz halte; – aber um dies gleich ein für alle mal zu sagen: es muss sich auch hier um künstlerisch verwertete Tendenzen handeln; denn das blosse Politik-Treiben, nur um der Politik willen, gehört gar nicht in den Kreis meiner Betrachtung, und völlig blosses Phrasengeschwätz verdient es 194 auch sonst nicht, hier, wie anderswo, dass man sich dabei aufhält.

Mir ist zunächst die Frage aufgestossen: Wie kommt es, dass man von einer Fraktionspoesie nichts wissen will, aber nicht müde wird, eine nationale Poesie zu fordern? Wie? Ist die Nation nicht auch eine Partei im Völkerstaate? Und ist andrerseits nicht auch schon die Partei wieder etwas Grosses und Allgemeines? Giebt es nicht eine Poesie des Katholizismus, des Hellenismus, und kann sich ein durchdrungener Protestant anders mit jener abfinden als ein Konservativer mit den Poesien eines Liberalen? Nämlich garnicht!

Ich fragte mich weiter: Ist denn nicht die ganze moderne Kunst sozialistisch oder antisozialistisch? Ist es nicht die »Richtung«, welche ihr gerade so viel Feinde gemacht hat?

Nun sagt man wieder, und mit solcher Wendung entschlüpft man immer gern der Schlinge der Parteikämpfe: Die Sache der Sozialdemokratie ist die Sache der Menschheit. Das haben aber noch alle politischen Parteien von sich behauptet, mindestens identifizierten sie sich mit ihrem Volke.

»Der Dichter steht über der Zinne der Partei!« Aber man darf nur nicht nachfragen, wie! Gewöhnlich, wenn er darauf Prätensionen erhebt, etwa so, wie unsere Kartellparteien über den Parteien stehen und wie speziell unsere National-Liberalen den Gegensatz zwischen national und liberal in sich versöhnt haben. Kompromisse werden ja immer gern aus Ueberfluss an Liebe geschlossen.

Dass natürlich der Partei-Politiker und Sektions-Schwärmer beschränkterer Natur ist, als wer diese Gegensätze schon in sich durchlaufen hat, ist allerdings richtig. Aber auch in der Beschränktheit zeigt sich zuweilen der Meister. Jedenfalls ist sie noch kein künstlerischer Einwand. Wie man als Katholik Welt und Leben betrachten und aus Katholizismus dichten kann, so kann man es auch als Liberaler, als Demokrat, aus Liberalismus u. s. w. Giebt es nicht eine deutsche, eine griechische, christliche u. s. w. Litteratur? und das heisst 195 nicht eine von Deutschen, Christen u. s. w. geschaffene, sondern die Poesie des Griechenthums, des Christenthums u. s. w. Freilich ist es nicht gerade ihr Zweck, deutsch, griechisch u. s. w. zu sein, aber sie ist es. Der Zweck ist in ihr, sie ist aus Naturnotwendigkeit tendenziös.

Dass freilich jedes Volk, jede Religion und Partei, abgesehen von den Opportunitäts- und Zufalls-Parteien, mit Ewigkeits- und allgemeinen Menschlichkeitsprätentionen auftritt, und ihre Künstler auch für die Welt und die Ewigkeit zu schaffen glauben, thut nichts zur Sache. Das ist ja auch eben das Schöpferische und Begeisternde jedes Grössenwahns.

Denn schliesslich kommt es gar nicht darauf an, von wo der Mensch ausgeht, sondern nur, wohin er zielt.

Was die politischen Tendenz-Dichter ganz besonders misskreditiert hat, das ist, neben ihrer persönlichen Dummheit, vor allem ihre öde Langweiligkeit, mit der auf denselben Phrasen herumgeritten wird, die Unfähigkeit, sich zu entwickeln, der Wille zum Stillstand. Man muss hier unterscheiden den Dichter, dem seine Partei, Religion u. s. w. Staffel ist, auf der er emporklimmt, von dem Dichter, dem sie ein Faulbett ist, gut genug, seine müden Geister darauf zu rekeln. Diese Kreaturen bringen aber ihre Sache ebenso wenig weiter als die Kunst. Sie sind nur ein Hemmschuh und wohl angesehen allein da, wo eine allgemeine Geistesöde und Müdigkeit sich der Mitglieder einer Partei bemächtigt hat. Wenn Gehirnschwund über eine Partei gekommen ist, dann muss man sie fliehen, wie die Pest, aber nicht der Dichter allein!

Aber man soll nicht verlangen, dass er gleich in einem Satze auf die höchste Stufe springe und dort sein ganzes Leben lang nichts weiter thue, als gemütliche Umschau halten!

Das rastlose Arbeiten, das Aufwärts-Klimmen und Stufen-Uebersteigen gilt heute zu den »unerfreulichen« Dingen. Gegen nichts ist man heute boshafter, härter und rücksichtsloser, als gegen Anfänger-Arbeiten, denn alle Art von Anfängerschaft ist eine Partei-Anhängerschaft. 196

XXV.

Der Hass soll nicht die Kunst gebären? Thut es die Liebe nicht? Und ist der Hass denn nicht auch Liebe? Hat die Satire, ja hat das Pamphlet nicht selbst seine Berechtigung, ebenso wie das Liebeslied? Wie der Erotiker den Gegenstand lieben darf und lieben soll – wenn nur nicht bis zur Selbstvergessenheit – den er verherrlicht, so muss der Satiriker den Gegenstand hassen dürfen, den er geisselt – wenn nur nicht bis zur Selbstvergessenheit. So lange der Hass nur gerecht und gross erscheint, so lange der Gehasste nur des Hassens wert scheint!

XXVI.

Aber im Allgemeinen hat man die Frage nach der Tendenz viel zu sehr in die Tagesbeleuchtung gerückt. Es handelt sich auch in Wahrheit nicht darum, was sich für schöne praktische Lebensmaximen aus einem Kunstwerke ziehen lassen, sondern was für positive oder negative Lebensforderungen daraus sprechen, und zwar was für Consequenzen von Ideen und Lebenswertungen daraus hervorspringen, welche Empfindungen und Gefühle sich hier äussern. In ihrer Allgemeinheit kann die Beantwortung einer Frage niemals auf eine bestimmte Zeit allein angewandt werden, aber, was diese Zeit charakterisiert, das ist eben die Thatsache, dass jetzt gerade die Frage aufgeworfen und zwar so stürmisch oder so allgemein oder gerade in dieser Form und Fassung aufgeworfen wird. Dass man sich plötzlich bewusst wird, dass es hier eine Frage zu beantworten, ein Rätsel zu lösen giebt. Die Frauenfrage, die Judenfrage, die Arbeiterfrage! Es gab Zeiten, wo Frauen, Juden, Arbeiter überhaupt noch keine Frage waren – etwas Besseres (Positives) 197 oder Schlechteres (gar nicht Fragwürdiges) sei dahingestellt. Zweimal nämlich wird jegliches Ding eine Frage, d. h. fraglich: einmal, wenn es seine ersten Forderungen geltend macht; und das zweite Mal, wenn es seine letzten Rechte verteidigen muss. Allein, was wollen selbst diese grössten und schwerwiegendsten unter den Zeit- und Augenblicksfragen, gleichsam die Gesellschaftsfragen bedeuten gegen die tieferen und weit ausgreifenderen, an sich keineswegs ewigen, wenn auch, sobald sie erst aufgetaucht sind, jedesmal mit der Prätention der Ewigkeit auftretenden Fragen der Seele! Hier giebt es Fragen, von denen vor gar nicht so langer Zeit auch nicht einmal geahnt wurde, dass hier Fragen versteckt liegen, geschweige denn, wo sie liegen. Und umgekehrt giebt es heute für uns tausend Fragen (nicht nur in Staat und Kirche, in Kunst und Gesellschaft!) gar nicht mehr, die ehemals der Angelpunkt erschütternder Tragödien gewesen sind. Sie haben, wie alles Fragwürdige, so auch alles Tragische verloren. So oft eine Sphinx in die Tiefe stürzt, ist auch eine Kunst-Epoche abgeschlossen.

XXVII.

Ein Kunstwerk kann tendenziös sein und braucht doch keine Tendenzen zu haben. Tendenzen sind Zwecke für Andere. Tendenzen sind Absichten für Andere, sind Ideen, Abstraktionen, wie das Vaterland, die Freiheit u. s. w. Was ist die Tendenz meines Stückes? Es ist eben meine Tendenz, die durch nichts ausser mir, nichts Uneigennütziges ausgedrückt werden oder paraphrasiert werden kann! National soll der Dichter sein, aber nicht patriotisch. Weshalb nicht umgekehrt? Des nationalen Dichters Tendenz ist das Vaterland, vielleicht auch sein Vaterland, also ein abstraktes, 198 ideelles! Des patriotischen Dichters Tendenz aber ist sein Patriotismus, also ein Stück von ihm selbst.Die Vorschrift der Künstler solle national sein, was ist sie anders, als eine Phrase! Man kann wol ein Gefühl für das Vaterland, also Patriotismus fordern, aber nicht Nationalität. Die ist vorhanden oder sie ist nicht vorhanden! Will man ihren Mangel ersetzen, so kommt man nur durch den Patriotismus wieder zu ihr.

Hier liegt auch der Grund, weshalb von den Realisten gegen die Tendenz gekämpft wird, denn sie sehen in ihr immer etwas Ideelles und Abstraktes, die Tendenzdichter sind ja gewöhnlich die Idealisten, wie diese wieder gegen die Tendenz ankämpfen, weil sie auf irdische Zwecke gerichtet, zu real ist. –

Die Tendenz muss auch nicht immer eine bewusste sein. Was sie so oft kompromittiert hat, das ist gerade ihr Bewusstsein von sich selber. Aber das beruht auf anderen Gesetzen. Hier ist es nicht die Tendenz, welche ihre Wirkung versagt – denn an sich wirkt jede Tendenz – sondern die Absichtlichkeit »verstimmt«. Man darf sich nicht unnötig und zu früh in die Karten gucken lassen. Für den grossen, ja allergrössten Teil des Publikums hat ein Kunstwerk seinen Zauber verloren, wenn es dahinter kommt, wie die Sache gemacht, was eigentlich damit gewollt wird. Wenigstens für ein plebejisches Publikum. Daher kommt es z. B., dass unsere Kunst- und Litteraturhistoriker, die ja zum allergeringsten Teil einen aristokratischen Geschmack verraten, so selten künstlerischer Wirkungen fähig sind. Sie kennen ja das Alphabet, aus dem jedes Gedicht zusammengesetzt ist; mit dieser Kenntniss umgeben wie mit einem Zaubergürtel, sind sie gefeit vor jeder Kunst. Mit einem Wort: die Kunst imponiert nicht mehr, sobald der Künstler sich verraten sieht. Es ist zuvörderst also eine Lebens- und Klugheitsregel, die hier zur Vorsicht mahnt, und kein ästhetisches Prinzip, das befolgt sein will. So wird auch kein kluger Staatsmann seine Absichten verraten, bevor er sie fast erreicht hat. Es kommt immer darauf an, in der Welt durch »vollendete Thatsachen« 199 zu verblüffen. Der von der Tendenz ganz eingenommene, ergriffene Zuhörer weiss von keiner Tendenz mehr, so völlig hat sie gesiegt. Das best überwundene Volk fühlt sich als Sieger; z. B. die christianisierten Germanen!

Das ist, wenn man will, das »Befreiende« in der Kunst. Also gerade die Tendenz befreit. –

Also entweder ist das Kunstwerk sich selbst Zweck. Dann hat es auch seinen eigenen Willen und ist aus sich heraus tendenziös; oder es ist Mittel zum Zweck für den Dichter, und dann ist es erst recht, sogar im gewöhnlichen Sinne, Tendenzstück.

Die Kunst ist sich selbst Zweck! – Wir nehmen ihr nichts von ihrer Selbst-Herrlichkeit.

Wir sagen hinfort: Die Kunst ist sich selbst Tendenz!

XXVIII.

Etwas von der tendenzlosen Kunst.

1.

Keiner Gattung der Kunst gerät die Objektivitäts-Forderung so sehr in die Brüche als dem Drama. Scheinbar die realistischste Dichtgattung, ganz auf sich selbst gestellt, in der jeder Teil wie das Ganze für sich selber sprechen und einstehen muss, in der – wenigstens so will es die moderne dramatische Technik – die Persönlichkeit des Dichters auch nirgends hervortreten soll. Im Drama soll, wie im Leben selber, jeder Charakter im Rechte sein, der Dichter auf keiner Seite stehen, so wenig, als Gottes Gerechtigkeit es vorgeblich zugiebt, dass er für eines seiner Geschöpfe Partei ergreife. (Ach und doch war nie Jemand ungerechter!) Nirgends rechnet man so streng mit den Gesetzen der Wirklichkeit als im Theater.

Es giebt in unserer dramatischen Litteratur zum Glück ein Beispiel, in dem diese Forderung bis zum Schaudern erfüllt ist, das fast wie zur Warnung hingestellt ist, und das weder unbedeutend in der Anlage ist noch überhaupt von einem 200 talentlosen Dichter herrührt. Ich meine Kleist's »Familie Schroffenstein«, in welcher ein solches Verteilen von Recht und Unrecht bis zur schliesslichen Aufhebung des Ganzen geführt hat. Hier platzen in der That zwei verschieden veranlagte Charaktere im Kampf aufeinander, beide im Recht und mithin ohne Schuld, beide gleich sehr vom Dichter geliebt; denn sie beide sind der Ausdruck seiner innersten Natur, deren widerspruchsvolle Empfindungen abwechselnd die Oberherrschaft über seinen Geist ausübten.

Was geschah nun? Weil beide ein gleiches Recht haben, weil beide Schalen der Wage gleich schwer belastet sind, eben deshalb steht diese still, und deshalb ist der Dichter mit seinem Karren gründlich festgefahren. Und die so grossartig angelegte, in ihrer Exposition fast einzig dastehende Tragödie endet in Albernheiten, die wol auch einzig dastehen in der deutschen Litteratur.

Wir haben in der modernen Litteratur höchstens einen Roman, der an grandioser Tendenzlosigkeit mit diesem Drama verglichen werden könnte: Gottfried Kellers »Grünen Heinrich«. Aber auch dieser ist am Ende nicht so tendenzlos. Hier ist die Tendenzlosigkeit schon selber zur Tendenz geworden. Und dann ist es ein Roman, und dann ist es das Produkt eines Humoristen, der, wie er seinen Stoff, so auch die Tendenz seines Stoffes überwunden hat.

Kleist's Grösse macht es eben aus, dass er den Mut hatte, überall ganz das zu sein, was er im gegebenen Augenblick eben war.

Bei ihm kann man ganz genau verfolgen, wie das Drama an seiner Tendenzlosigkeit zu Grunde geht, dass die Tendenz nicht das Negative ist, sondern dass die Tendenzlosigkeit zerreibt und aufhebt, (wie sie auch den »Grünen Heinrich« paralysiertVergl. Deutsche Litterar. Volkshefte Nr. 2., die Tendenz dagegen setzt eine Position.

Später hatte Kleist den Mut zur Tendenz, er war nie grösser, als wenn sein Mut sich am Energischsten gesteigert hatte, bis zur Blindheit, aber auch bis zur Unüberwindlichkeit, 201 d. h. als er die »Penthesilea«, als er den »Michael Kohlhaas« gedichtet, als er die »Hermannsschlacht« – fast möchte ich sagen, geschlagen hatte! Und nur einmal noch stand er dicht am Abgrunde der Tendenzlosigkeit, da er das Käthchen schuf. Es war überhaupt seine Gefahr, seine Tragiker-Gefahr, sehend zu werden. Sobald er sehend wurde, ward er gerecht. ward er untragisch, ward er unproduktiv. Schiller wurde sehend. Das war sein Tragiker-Verhängnis. –

 
2.

Die tendenzlose Historie. Das ist kein Historiker, der ewig rückwärts schaut, der überhaupt zu viel schaut! Nicht vom Jetzt darf er das Vergangene betrachten, sondern er muss selbst zurückgehen in die Vergangenheit, bis er zu irgend einem Anfangspunkte gelangt, von dem aus es wieder heisst: Vorwärts gehen, in die Zukunft schauen! Mit- und nachschaffen, das ist das Geheimnis des Historiker's, und er darf sich in nichts von seinem jeweiligen Helden unterscheiden, als darin, das er das Ziel kennt, das jenem noch verborgen war. Das allein wäre eine objektive Geschichtsbetrachtung! Aber die giebt es nicht, hat es noch nie gegeben und wird es schwerlich jemals geben (wenn man einen Teil der Geschichtsschreibung ausnimmt, der ohnedies scharf an die Poesie grenzt, die Biographie). Alle rückwärtsschauende Geschichtsschreibung ist Romantik und blüht nur in romantischen Zeitaltern. Alle übrige Geschichtsschreibung hingegen, soweit sie überhaupt als darstellende Kunst mitzählt, ist Tendenz-Litteratur, und gewöhnlich sogar sehr starke Tendenz-Litteratur. Tacitus z. B. war einer der ausgesprochensten Tendenzschriftsteller; und alle übrigen grossen Historiker waren es gleichfalls. Wie weit dabei der Geschichtsschreiber sich der Wahrheit nähert, hängt erst von Dingen anderer Art ab, z. B. von seinen wissenschaftlichen Hilfsmitteln, zufälligen Entdeckungen, Veröffentlichungen u. s. w. Das Entscheidende 202 ist auch hier der Zweck, zu welchem, und der Geist, mit dem der Historiker sein Werk schreibt. Auch hat die Geschichtsschreibung grossen Stils noch immer in politisch erregten Zeiten geblüht. –

XXIX.

Zwiefache Realität. Bisher hatte man allein die Realität des Kunstwerks gefordert – einen einfachen Realismus. Wir wissen jetzt, nach Allem, was vorausgegangen ist, dass auch er nicht möglich ist, wenn ihm nicht die Realität des Künstlers vorausgegangen ist. Jetzt beginnt die Tendenzfrage eigentlich erst ihre wahre Bedeutung zu erhalten.

Des Künstlers Gestalten sollen leben, aber der Künstler will leben! Jetzt sind zwei Realitäten vorhanden, die sich beide feindlich umlauern und bekämpfen. Der Künstler, der seine Geschöpfe tötet, oder die Gestalten, die ihren eigenen Schöpfer umbringen! Dort Tendenz, hier l'art pour l'art! Das idyllische Familien-Leben, der Frieden in der Familie ist hier nicht die Regel. Entweder sterben die Väter an ihren Kindern oder diese an jenen.

Jeder Künstler gerät mit der Zeit in einen tragischen Conflikt mit seinen eigenen Gestalten. Entweder er lebt oder seine Gestalten leben. Er selbst will sich behaupten und hat ein Recht, seinen Willen den von ihm selbst geschaffenen Kreaturen vorzuschreiben. Aber hat er lebendige Wesen gezeugt, so wollen schliesslich auch diese ihr Leben behaupten, und ihr Weg geht gewöhnlich nicht mit einander.

Der Künstler soll seine Gestalten ausleben lassen, aber er will sich vor Allem selbst ausleben in seinen Gestalten. Beschneidet er diesen die Flügel, damit sie ihm nicht davonfliegen, hemmt er ihren Schritt, damit sie ihm nicht vorauseilen, bricht er ihren Willen, damit sie ihn nicht umbringen, 203 kurz, stutzt er sie nach seinen Gedanken zurecht, führt er sie dahin, wo er sie haben will, eben dann verfährt er tendenziös. Wäre zartes Zurücktreten, Passivität das Geheimnis künstlerischen Schaffens, dann wäre es völlig nicht zu begreifen, weshalb die Frauen im künstlerischen Schaffen uns nicht längst überflügelt haben.

Der Kampf des Dichters mit seinen Gestalten und der Geschöpfe wider ihren Schöpfer ist wie das geheimste, so jedenfalls auch das interessanteste und wichtigste Kapitel der Künstler-Psychologie. Der ganze Gegensatz zwischen Realismus und Tendenz kommt hier zu seiner Geltung.

Schliesslich entscheidet auch hier die Frage, wo das grössere Leben, die höhere Realität, die vollere Kraft herrscht. Man kann es beinahe jedem, auch dem scheinbar harmonischsten Werke auf den ersten Blick ansehen, ob das Werk um des Werkes willen oder ob es um des Künstlers willen geschaffen ist.

Freilich die kräftigsten Väter zeugen gewöhnlich auch die kräftigsten Kinder, die dann wieder das frischeste selbstständigste Leben in sich fühlen und am ehesten mit ihren Erzeugern in wilden Hader geraten! Aber gerade je kraftvoller sie sind, um so eher können sie ihren Geschöpfen schon eine Weile ihre völlige und ungebundene Freiheit lassen; sie wissen ja, sie bekommen die wilden Racker, so toll sie sich auch geberden, doch wieder unter. Die Nacken können alle noch gebeugt werden! Gerade die starke, die weitsehende und weit wirkende Tendenz tritt hier scheinbar als völliges Ungebundensein-Lassen, als glücklichstes Frei-Sein auf, während in den Produkten schwächlicher Künstler, die ihren Geschöpfen in allem nachgeben, doch alles so eng, so dumpfig, so kleinlich vorsorglich, so tendenziös, so wachtstubenartig uns bedünkt.

Es ist wie Polizeistaat und Republik. Dort kann der Bürger oft thun, was er will, er ist frei; aber seine Freiheit wird am Gängelbande geführt, jeder seiner Schritte ist bewacht.

Echte Tendenzfiguren im kleinlichen, im Wachtstubensinne sind Echegaray's Menschen. Sie sind von vorn 204 herein eingeklemmt in bestimmte Begriffe, ihnen ist ihre »Biographie gleich in die Wiege gelegt«, sie handeln eigentlich nur, um einen bestimmten Satz zu demonstrieren, sei es den von der Macht der Klatschsucht, oder den, dass man die Heiligen auch heute noch kreuzigt. Hier, in diesem Falle, ist der Dichter gar nicht Schöpfer von Gestalten, sondern von Ideen, die Gestalten sind hier post rem, erst zur Stütze jener Sätze hinzuerfunden, das Bild um des Rahmens willen gemalt. Realisten wie Tolstoi gehören eigentlich auch noch hierher, nur, dass sie ungleich raffinierter sind! Man sehe, wie Tolstoi am Ende seine Menschen im Sinne der Wachtstuben-Tendenz doch noch zu fassen und zu arretieren weiss! Er sieht ihnen nur eine Weile zu, ja überlässt sie sogar unter Umständen ein paar Augenblicke sich selber, bis sie sich schliesslich selbst verwickeln und gefangen geben. Es giebt gar keinen Ausweg, sie müssen in sein moralisches Fangnetz laufen. Aber, und hier kommt der grosse Unterschied – bis dahin sind sie doch frei und von einer furchtbaren Realität; denn eben, je realistischer, je grässlicher in ihrer Realität, um so vollendeter sein Sieg – und vor allem, dieses Fangnetz ist selbst schon ein Kunstgebilde von subtilster Art. Nirgends eine abstrakte Idee, diese Tendenz, Spiegel und Schöpfung eines wahrhaft erhabenen Gemüts, so einfach, so rein, so überzeugt und deshalb überzeugend. Seine Werke sind von einer schlichten, aber packenden Rhetorik. Sein Sang bändigt die wildesten Bestien, alle Realitäten legen sich schmeichelnd zu seinen Füssen, überwältigt, gezähmt, hypnotisiert.

Das grossartigste Beispiel ist die »Macht der Finsternis«, dessen Schluss im Sinne des Realismus zu verwerfen ist – dieser Nikita beugt sich nicht freiwillig – als Tendenzwirkung aber ist er gross und bewundernswert. Auch dieser Nikita beugt sich freiwillig, wenn er muss! Der Dichter zwingt ihn durch . . . Er hat diesen Nikita gedichtet. Gut! Er thut noch ein Uebriges, er dichtet ihm noch ein Gewissen hinzu – und dieses Gewissen bewirkt (aber dieses Gewissen 205 ist ja weiter nichts als die konkrete Gestalt der christlich-Schopenhauer'schen Tendenz unseres Dichters), dass sich nun auch dieser Nikita in Freiheit beugt. Ein anderer Dichter, z. B. der Franzose Henri Beyle, hätte wahrscheinlich denselben Nikita auch weiterhin ohne Gewissen auskommen lassen, er hätte mindestens das Gewissen anders interpretiert, d. h. dasselbe Stück hätte eine andere Tendenz gehabt, dieselbe Realität der Gestalten eine andere Richtung bekommen. – –

Otto Ludwig teilt die Dichter ein in männliche und weibliche Naturen. Jene sind die eigentlichen Tendenzdichter, die immer die Herrschaft über die Dinge und Menschen behalten. Sie üben einen Druck aus, kneten und formen sie (sie zwingen, wenn's sein muss, die ganze Weltgeschichte, alle Wissenschaft und Religion in das enge Strombett der Terzette hinein) sie bringen die Maschine in Schwung. Diese Dichter liegen immer, auch wenn sie Ibsen oder Zola heissen, mit dem Realismus im gemeinen Sinne in Konflikt. Sie werden auch von der sich in der Realität fühlenden Menschheit niemals freiwillig anerkannt.

Anders die weiblichen Talente, die nachgiebigen Naturen, denen die Dinge, wie gutherzigen Gouvernanten ihre Zöglinge, oft davon rennen und über den Kopf wachsen, die Lenz, die Ludwig, die Büchner, die Dostojewsky, deren Gestalten stets grösser, geistreicher, weitschauender zu sein pflegen, als die Dichter selbst. Man hat dies unter anderm auch von Shakespeare sogar behauptet. – Und was ist die Folge? Die Dichter, wenn sie nicht frühe zu Grunde gehen, vielleicht, weil sie es sogar in der Atmosphäre ihrer eigenen Welt nicht mehr aushalten können, sie fliehen und verleumden jetzt ihre eigenen Geschöpfe, suchen sie abzuschwächen, interpretieren sie absichtlich falsch, verrücken den Standpunkt (z. B. Ludwig in »Zwischen Himmel und Erde«, dessen eigentlicher Held der böse Bruder ist, während der Dichter den guten Jungen Apollonius, an seine Stelle rückteIn einem ähnlichen Falle hat der energische Hebbel sofort richtig erkannt, dass nicht der Engel Genoveva, sondern der Teufel Golo der eigentliche Held sein muss, und dass nur auf ihn allein der Accent der Dichtung fallen kann. In tragischen Werken sind nämlich immer die Teufel, die Bösen, die Rebellen und Empörer die eigentlichen Helden, oder Kunst und Künstler geht darüber zu schanden.. Das 206 war Gouvernanten-Politik), versetzen sie in ganze falsche Moral- und Geister-Klassen (alles Gouvernanten Scharfsinn!), z. B. Dostojewsky, wenn er seinen Raskolnikow am Ende doch noch der Sklaven-Moral beugt – natürlich durch ein Weib, das, obgleich Dirne von Beruf, dennoch zur Gouvernante geboren ist, wie ja ihre guten Erziehungsresultate zeigen! Und gerade diese Dichter sind es, welche uns immer einreden wollen, dass sie die Natur um der Natur willen, die Dinge als Selbstzweck, l'art pour l'art behandeln. Sie sind liebevoller, geduldiger, nachsichtiger. Das ist wahr. Aber weshalb sind sie es? – Auf diese Weise hoffen sie am ehesten, den Dingen alles Böse zu nehmen, sie zu gewinnen. Liebe, Nachsicht und Geduld – es giebt keine gefährlicheren Erziehungsmittel! –

Aber, ob Erziehung, ob Macht, ob Bitte, ob Befehl! Auf eine Weise werden die Dinge doch gelenkt und geleitet, wie man sie haben will. Tendenz wird auf alle Fälle geübt.

Nur zuweilen freilich – da gehen die Pferde durch, da sind die Dinge ihren Lenkern schon zu weit entrückt, als dass sie sie meistern könnten! Ein sehr interessantes Schauspiel, eins der interessantesten, das es für die Menschen überhaupt giebt. Aber es ist jedesmal ein Unglück dabei. Es ist nicht Kunst-Absicht, dass die Realität der Gestalten siegt, so wenig, als das Durchgehen der Pferde in der Absicht der Wagenlenker liegt!

XXX.

Ueberhaupt begeht man viel zu oft den Kardinalfehler – und das zeigt sich vielleicht am deutlichsten bei der Frage nach der Tendenz – Kunst und Leben unter dem Gesichtspunkt von Gegensätzen zu denken. In vielen Fällen 207 und oft gerade den berühmtesten und für uns wichtigsten, ist die Kunst kaum etwas anderes als sublimiertes, konzentriertes, begriffenes und gewolltes (ebenso auch nicht gewolltes), vorweggenommenes oder nachträglich genossenes und im Bilde wieder hergestelltes Leben. Was macht im letzten Grunde gerade oft die Kunst als Kunst unmöglich? Was anders als eben das zu viel von Kunst im täglichen Lebensverbrauch! Für die Entwicklung einer Kunst ist es daher oft gerade gut, dass das Leben des Volkes noch verhältnismässig einfach, kunstlos, trocken und nüchtern verlaufe. Das Uebermaass von künstlerischen Anschauungen und Aktionen, wie sie sich äussern im politischen, religiösen und sozialen Leben, sind gewöhnlich der stärkste Hemmschuh für die neue Kunst. – Alle die Anschauungen, die der moderne Künstler verletzen muss, alle die Empfindungen, die heute gegen die moderne Kunst sprechen, alle die Prinzipien und Urteile, mit denen und von denen aus die moderne Kunst bekämpft wird, waren ehemals im hohen Grade künstlerische Errungenschaften, es sind die Reste vergangener Kunst-Epochen, die mählich den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Es steht da jedesmal Kunst gegen Kunst und Leben wider Leben.

Nun ist das tägliche Leben mit allen seinen Kleinigkeiten freilich gründlich unpoetisch; doch um so poetischer ist das stündliche Leben. Jede Vorstellung Fleisch gewordene Poesie.

Aber ihr Fleisch beginnt zu welken. Diese Poesie verdorrt, verknorpelt, verkrüppelt und wirkt nicht mehr wohlthätig. Man will sich also fort und frei von dieser Kunst machen und verlangt deshalb eine andere Poesie, die eben – befreit, die das Dasein, d. h. die welk und krank gewordene Poesie der Tradition verschönt, verklärt, idealisiert oder erneut.

Mit andern Worten; Man will die Kunst seiner Grossväter noch einmal geniessen, wie diese sie genossen haben mögen, man möchte noch einmal lieben, wie man liebte, »als 208 der Grossvater die Grossmutter nahm«, auch noch einmal, wenn auch nur in der Vorstellung und für einen Augenblick leben, was als reales Leben nunmehr durch erbliche Belastung und vitale Störungen in Wirklichkeit zur Qual und Pein geworden ist. Und in dieser Gemütsstimmung fragt man nicht mehr: was ist die Kunst? Sondern: was kann sie uns sein? Sie soll vergessen machen (o der tausend Dinge, die Einem zur Unlust geworden sind!), sie soll Vergangenheiten aus ihrem tausend- und hundertjährigen Schlafe wach zaubern. Irgend einen Zauber verlangt man, irgend einen Schwindel – pardon! man sagt nicht Schwindel, man sagt: Ideal! – auf jeden Fall von ihr. Wo man ehrlicher ist und feiner, verlangt man wenigstens einen Gran Humor, man schätzt nichts höher als den Humor. Man will Heiterkeit um jeden Preis um sich verbreiten, eben weil man sie in sich nicht hat!

Jetzt tendiert die neue Kunst gegen die alte, das moderne Leben wider das alte. Man empfindet ganz richtig, dass die neue Kunst dem Leben an die Wurzel geht.

Daher das Entsetzen, daher der Idealismus!

Es ist immer viel Idealismus in decadenten Zeiten. –

 


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