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Hart, trocken, grausam und schlicht, wie das Leben jugendlicher Völker, ist auch ihre Poesie. Der eigentliche Naturalismus der Kunst findet sich nur, wo auch der Naturalismus des Lebens noch vorherrscht, wenn noch ein Volk in der Gegenwart lebt, in der Natur und in sich selbst. Was ist aller Naturalismus der Deutschen, der Franzosen und Skandinavier gegen den Naturalismus der Russen? Nichts Anderes, als was der Naturalismus eines Juvenal gewesen gegen die früheste Poesie der Germanen! Man vergleiche die älteste deutsche Poesie mit dem Vollendetsten, was Römer und Griechen geschaffen! Bei aller Kunstlosigkeit, welch ungeheurer Fortschritt im Inhalt, in der Realität, eine Realität, die der Römer niemals mehr zu erleben, geschweige denn darzustellen vermochte! Was der Germane erlebte, war etwas ganz Neues – er sah, hörte ja mit anderen Organen, fühlte anders und stellte sich zu allen Dingen des Lebens anders. Er lebte in einer andern, einer neuen Welt; er sah, er erlebte neue Realitäten. Mithin war seine Poesie notgedrungen realistisch. Selbst seine Götter waren Realitäten, selbst sein Mythus wurde eine furchtbare Realität; er machte Alles, selbst das Absurdeste, das Phantastischste zu einer Realität, er glaubte es dieses Absurdeste und Phantastischste, er wusste es, er wollte es und er schuf es. Was sich während der Völkerwanderung ereignete, was war es anderes, als eine Realisierung, ein Wirklich-Werden, ein Sich-Vernehmbar-Machen seines Mythos?!
Diesen Lebens-Realismus und diese vom Leben in die Kunst hinüberspringenden Realitäten finden wir heute, wie gesagt, nur bei den Russen. Wir Deutschen, wir West-Europäer, können eigentlich bloss im andern, im negativen Sinne Realisten sein (wenn wir von den psychologischen Raffinements absehen) – so im Grossen gesprochen. Der Russen Litteratur ist realistischer als unser Leben, d. h. lebensvoller, kräftiger, fernwirkender. Die russischen Dichter leben alle auf Neuland, sie leben gefahrvoller, aufgeregter. 86 von einer grösseren Fülle umströmt. Und mit herzerschütternder Wahrheit dringt überall dieses Neue auf den Leser ein. Das sind Alles neue Erlebnisse, neue Lebenserfahrungen, Ueberraschungen der Seele, die er hier sich herausliest. Die Lektüre selbst wird zum Ereignis.
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Dichter wie Dostojewski und Shakespeare stehen gleichsam wie auf Vulcanen; und daher das Unruhige, Hastige, ewig Erschütterte, tief Aufgeregte in ihnen. Niemals war ausser diesen Beiden ein moderner Dichter so im Tiefsten aufgeregt, niemals auch so im Innersten erschüttert. Es ist, als wäre alle Natur ringsum bis im Grunde aufgewühlt, als wolle die Welt thatsächlich aus ihren Fugen gehen. Mit ihnen vergleiche man einen Goethe. Wie unerschütterlich fest und stark ist doch hier diese alte Welt! Sie ist in der That aufs Neue wieder eingerenkt. –
Noch von einer anderen Seite kann man dem Streite um den Realismus oder Idealismus beikommen. Das Reich der Ideale, das Zeitalter des Idealismus haben wir hinter uns. Aber muss man, weil man die Jünglingstorheiten hinter sich hat, gleich wieder zum kleinen Kinde werden'? Man buhlt nicht um die Mutter, sagt schon Heine, wenn Einem bereits die Tochter nicht mehr jung genug ist. Haben wir das Reich der Ideale hinter uns, so ist das der Realität lange vergessen! Der Kampf zwischen Realismus und Idealismus ist ein Kampf zwischen Gespenstern. Das ist gar kein Kampf! Zwischen ihnen giebt es keine Versöhnung, denn sie sind beide tot, wir haben sie beide abgeschafft! Wir glauben an keine Idealitäten, an keine Begriffe und Ideen, aber an Realitäten, an Wahrheit und Vernünftigkeit der uns umgebenden 87 Erscheinungswelt schon längst nicht mehr. Die Idee hat die Welt überwunden. Die Welt steht nicht mehr auf! Die Idee soll überwunden werden? Und noch dazu von einem Toten? Aber sie muss überwunden werden? Nun, so nennt mir den neuen Heros, der die Welt neu schafft, indem er sie aufs Neue zerstört! Das naive und theologische Reich, Sensualismus und Spiritualismus haben wir überwunden? Wo liegt das dritte Reich, das geweissagt wurde von den Propheten der alten und neuen Zeit? – Es ist der Mensch, der, wie er dahinter kam, dass die Welt sein Geschöpf sei (die Welt sein Gedanke, seine Vorstellung) so auch am Ende sich selbst als den Ursprung der Ideen erkannte. Gott ein Geschöpf des Menschen!
Und so sind denn auch die neueren Dichter nicht mehr Realisten im Sinne der Alten (wie etwa Homer ein Realist war). Diesen Realismus kann es nicht mehr geben, denn diesen Glauben an die Realität giebt es gar nicht mehr. Aber eben so wenig sind sie Idealisten, in dem Sinne, wie es etwa Calderon, Dante, Schiller waren; denn auch diesen Idealismus kann es nicht mehr geben, weil der Glaube an die Ideen nirgends mehr in der Welt die alte Macht hat. Künstler sind Naturalisten, denn sie sind selbst Natur und betrachten nur sich als Natur – aber nicht, weil sie naiv sind, wie Schiller sich das dachte! In ihnen allein ist, wie die Welt, so das Himmelreich. Der herausfordernde Trotz einer Individualität, der mit Ibsen spricht: »Ich banne euch!« und der mit Raskolnikow eine alte Wucherin zertritt wie eine »Schabe«, weil er für sich die Herren-Rechte einer Herren-Moral in Anspruch nimmt. Die Helden moderner Dichtungen kämpfen nicht um Ideen, wie im christlichen Zeitalter der Poesie (das aber übrigens bis zum Jahre 1805 reicht)Eigentlich geht der Kampf gegen den Idealismus bis auf die Reformation zurück, als der Kampf gegen die theologische und scholastische Auffassung der Welt. In ihr, in der Reformation basieren auch die Interessenkämpfe der modernen Gesellschaft, wie denn auch die moderne Litteraturbewegung in ihrer Totalität geradenwegs bis auf Shakespeare zurückgeführt werden muss. Es ist kein Zufall, dass die Hutten, Johann v. Leyden und andere Männer der Reformations-Zeit so häufig zu Helden moderner Dichtung gemacht wurden. Die moderne Bewegung in Kunst und Leben ist im weitesten Sinne ein Kampf gegen das Christentum, d. h. die theologisch-dogmatisch-scholastische Welt, und ist so auch vorzugsweise von modernen Philosophen und Naturforschern aufgefasst worden, wie dies kürzlich noch gelegentlich der Bruno-Feier durch Häckel zum Ausdruck gekommen ist. Es fragt sich sehr, ob, die Dinge so angesehen, nicht am Ende der ganze Schiller ein einziger Atavismus war; sowie etwa Rom's weltliche Macht im Mittel-Alter Vielen, und nicht mit Unrecht, als ein Rückfall in den naiven Realismus des Altertums (oder, wie Luther drastischer sagte: des Teufels) aufgefasst wurde!, sie kämpfen auch nicht um Besitz und Weltherrschaft, wie die homerischen und 88 fast alle epischen Helden; sie kämpfen um sich selbst. Der Mensch ist Kampfplatz und Kämpfer und Kampfobjekt in eins, er ist der Schauplatz der Tragödien, Held, »Schauspieler und Zuschauer zugleich«. Kurz Held und Schöpfer der modernen Kunst ist der EinzelneDas Wort in dieser Begriffsfassung stammt von Sören Kierkegaard. Der Einzelne! Das ist etwas Anderes, als die »schöne Individualität« Goethe's und Keller's. Der Einzelne macht sich selbst zur Individualität und buhlt nicht mehr um andere Individualitäten., der Einzelne, dessen entschiedenste, wenn auch zuweilen unbewusste Vorkämpfer die Kierkegaard, Stirner, die Feuerbach, Schopenhauer, Nietzsche, die Kleist, Heine, Wagner, Hebbel und Ibsen waren.
Wenn ich also sage: die alten Dichter allein sind naive Realisten, denn sie allein erzählen uns etwas von der Welt; die mittelalterlichen Dichter sind Idealisten, Ideen-, Gott-Gläubige, die nur von Gott etwas wissen; die Modernen hingegen, die ich im Gegensatz zu Beiden: Problem-Dichter nennen möchte, beschäftigen sich in erster Linie mit dem Menschen (als Uebergangs-Dichter, als Halb-Moderne, 89 Noch-Idealisten, mit dem Rein-Menschlichen, dermaleinst aber als Ganz-Moderne, entschlossene Naturalisten, vor allem mit sich selbst) sie wissen uns jedenfalls nichts Interessantes mitzuteilen, als sich selbst; – wenn ich also die Dichter einteile, wie ich oben that, so ist das natürlich nicht wörtlich zu verstehen, als liessen sich diese Reiche zeitlich irgendwie abgrenzen. Macht doch jedes einzelne Volk, macht doch jeder einzelne Mensch diese Entwicklung noch einmal durch, ist doch die Gefahr, auch für den modernen Menschen keine kleine, in der ersten oder zweiten Epoche stehen zu bleiben, so gut wie sich vordem Dichter und Menschen über ihre Zeit hinausentwickeln konnten, hinüber wachsen in neue Sphären. Es kommt nur darauf an, wo der Accent eines Volkes oder einer Kunst liegt; vorgeschobene Posten und Nachzügler sagen uns nichts über die Stellung eines Heeres.
Ausschlag gebend für den Einzelnen ist, wie weit die Helligkeit seines Bewusstseins, wie weit die Kraft seines Willens, das Wissen vom Willen reicht! Was thuts dem Menschen, dass er alle Stadien der vormenschlichen Entwicklung durchgemacht hat, dass auch er einmal Tier gewesen ist! Er weiss nichts davon. Was er vor seiner Geburt dnrchgemacht hat, ist für ihn kein Erlebnis, im Mutterleib hat man noch keine Geschichte. Ja, wo beginnt überhaupt des Menschen Geschichte, um die Frage noch einmal in anderem Zusammenhange anzuregen? Eins steht fest: jedenfalls nicht mit der Geburt! Für viele erst recht spät; nicht für Jeden mit der Zeit, da er zu sprechen gelernt hat; für Manchen, wenn er zum ersten Male liebt; für einen Anderen, wenn er in die Fremde geht, für den Dritten, wenn er zu denken, für den Vierten, wenn er zu handeln beginnt. Oft genug nicht vor dem dreissigsten Jahre, wenn Andere wieder längst ihren Lebensroman abgeschlossen haben und nur noch von Erinnerungen leben. Es giebt Culturen, in denen vorwiegend Jünglinge, und wieder Andere, in denen nur Greise Geschichte machen. 90
Die jüdisch-theokratische Cultur, obwohl zeitlich dem Griechentume vorangehend, ist doch schon mittelalterlich-theologische oder Idealisten-Cultur. In jeder Art Volkspoesie hingegen kommt die naive Realität wieder zu ihrem Rechte. Man darf sie nur niemals fordern! Sobald man von seiner Jugend weiss, ist man mittlerweile schon Greis geworden. – Im hellenischen Drama, und schliesslich in jedem Drama finden wir eine Anticipation des Modernen. Jedes Drama ist eigentlich schon Problem-Ich-Kunst. Schon Oedipus stand vor Fragen; schon die Sphinx war ein Problem. Und dennoch war Sophocles' Dichtung oder die hellenische Kunst keine Problem-Kunst, wie wir sie besitzen; sie waren selbst in ihren Problemen noch naiv, sie hatten eine noch nicht »von des Gedankens Blässe« angekränkelte, gleichsam eine naive Problem-Kunst.
Heute hingegen setzt jede Kunst ein, wo die Alten schüchtern Halt machten; heute ist man stolz und mutig genug, auf sein Ego den Accent zu legen, um sich die Welt sich drehen zu lassen. Man springt oft mit einem einzigen Salto mortale über die naive (realistische) und idealistische Welt hinweg – zu sich; man gewinnt sogar seine Heiterkeit wieder, wenn man von dieser Höhe auf beide Welten hinabsieht.
Dies drückt Sören Kierkegaard, ein Mann, der hiervon wissen musste, also aus:
»So wie es, der Sage nach, dem Pythagoräer Parmoniskos ging, welcher in der trophonischen Höhle die Fähigkeit zu lachen verlor, aber auf Delos sie wieder bekam beim Anblick eines unförmlichen Klotzes, welcher als Bildnis der Göttin Leto ausgestellt wurde, gerade so ist es mir ergangen. Als ich sehr jung war, da verlernte ich in der trophonischen Höhle das Lachen; als ich die Augen aufschlug und die Wirklichkeit betrachtete, da fing ich an zu lachen, und habe seit dieser Zeit damit nicht aufgehört« . . . .
Dies Wort soll bedeuten (es findet sich unter den Diapsalmata von »Entweder-Oder«): als ich in früher Jugend die 91 Realität (in der trophonischen Höhle) verlor, da wurde ich traurig; es ging mir wie Chamisso's schattenlosem armen Schlemiehl, – es war meine idealistische Lebensepoche. Als ich erwachte, zu mir selbst kam, da lachte ich über Schatten und Nicht-Schatten; ich begriff den für mich relativen Wert Beider – und hatte meine Heiterkeit wieder. –
Kurz, was wir heute Realismus nennen, ist nicht der homerische Realismus, ist aber noch weit weniger Schüler's Realismus. Als Gegenströmung gegen den Idealismus pocht er auf seine Realität, auf sein: so sieht's aus im Leben. Aber schon dieses: so sieht es aus, so ist das Leben – dieses So bedeutet natürlich immer: so erbärmlich, so scheusslich, so widerwärtig – ist verfänglich, zeigt den verkappten Kritiker und Idealisten.
Und vollends ein naiver Realismus! Probleme stellen, Psychologie betreiben, mit frevler Hand ins Allerheiligste der Psyche greifen, das Alles ist ausserordentlich naiv! Verglichen mit unseren Realisten war Schiller ein sehr naiver Dichter. Und offen heraus gesagt: es ist doch noch sehr fragwürdig, ob für den Mann gerade Naivetät die höchste Tugend sei, ob es auch nur eine wünschenswerte wäre. Als Kuriosa sind die naiven Männer ja noch immer sehr beliebt, zumal bei den Frauen von dreissig Jahren. Aber auch nur als Kuriosa! – Was man aber etwa auch noch als Naivetät der Modernen ansehen könnte (Unbefangenheit vor der Welt, Furcht- und Ehrfurchtslosigkeit, sowohl der realen wie der idealen Welt gegenüber, Ueberwindung alles Schuldgefühls im Handeln wie im Denken, kurz Mannhaftigkeit in all ihrem Gebahren), diese Naivetät, die auch wir gelten lassen, ist am Ende doch etwas wesentlich Anderes als die kindliche Unschuld und Harmlosigkeit der Realisten von einst. –
Man wünscht sich, in den Jünglingsjahren, als »Kind noch zurück«, man kommt dann auch am Ende über die Zweifel und die Schmerzen jener Zeit hinweg – aber als Mann. 92
Das moderne Kunst-Problem ist also weder die Welt noch die Idee, sondern der Mensch, der auf sich selbst gestellte Mensch. Sein tragischer Konflikt, der zwischen Wollen und Können, im Gegensatze zum tragischen Konflikte der Antike, zwischen Sollen und Können. Der Realismus eines Homer ist so wenig von den Modernen zu erreichen, eben so wenig, als es uns heute die Unschuld des Paradieses ist. So kann uns auch Schillers Idealismus heute nichts sein als selbst wieder ein Ideal, ein schöner Traum aus süssen Jugendjahren, der längst verflogen ist, und der uns nur noch zuweilen wieder in die Erinnerung kehrt, wenn uns, wie dies unsere Lyriker so schön besungen haben, zu Mute ist, »ich weiss nicht, wie«, und wenn uns einfällt, »ich weiss nicht, was«.
Kunst und Kunst-Objekt bleibt uns allein der Mensch, (aber bei Leibe nur nicht das Menschliche, das rein und ewig Menschliche, denn das ist selbst schon wieder eine Idee!) Ich komme hier noch einmal auf ein Beispiel, in dem das Problem Mensch in seiner furchtbarsten, zum Teil selbst unverstandenen Tragik genommen ist.
Das Problem im Erbförster: Ein starker, starrer Charakter, der nur in festen Lebensverhältnissen bestehen kann, wie der alte Anton bei Hebbel, und der eben aus diesem Boden mit Gewalt herausgerissen wird. Gerade jene Dramen predigen ja mit tausend Zungen gegen das blinde Ohngefähr! Und gerade das kann man nicht begreifen. Dass ein Förster abgesetzt werden kann, das wissen wir wohl, allein das können wir mit ihm nicht begreifen, dass das Lebensglück, dass die Existenz, Stellung, kurz alles Feste und alles Beste am Menschen sollte weggeblasen werden können durch die Willkür eines Chefs; dass jeder gewissenlose Thor, jedes 93 blöde Kind befugt sein sollte, irgend einen alten, längst eingewurzelten und tief in das Erdreich greifenden Baum auszureissen und hinauszuschleudern in's Ohngefähr, ohne Sorge, ob ihn wieder ein Anderer einpflanzen werde in irgend ein Erdreich, und nun erst just in sein Erdreich! Der an der Scholle klebende, der Landmann, der Förster soll plötzlich vielleicht sein Lebensschicksal dem feuchten Elemente anvertrauen, er, der nie schwimmen oder rudern gelernt hat! Der Erbförster ist daher die Tragödie des Charakters schlechthin, nicht eine beliebige Charakter-Tragödie. Nur der in festen Lebensverhältnissen Aufwachsende kann neben seinen Sonderheiten und Eigenarten feste Lebensgrundsätze, starke Gewohnheiten, Energie im Handeln, Festigkeit im Willen, Rückhalt und Wucht in seiner ganzen Aufführung, kurz einen Charakter ausbilden und erhalten. Wenigstens in einfachen Verhältnissen, also der Landmann, der Beamte, der Hirt u. s. w. Der von dem Zufall eines Engagements abhängige moderne Mensch in allen seinen schwanken und veränderlichen Verhältnissen, der Bewohner der Städte, der von den Wogen des Ohngefährs umhergeschleuderte Durchschnittsmensch unserer Zeit, der jedem Zufall in fieberhafter Angst auflauernde moderne Kaufmann, der seine typische Ausbildung im Börsianer gefunden hat, dieses Zufallsgebilde hingegen wird im allerseltensten Falle das sein, was man einen Charakter nennt.
Der Mensch in Abhängigkeit von der Laune eines Vorgesetzten, Höhergestellten; dies Problem, das schon Lessing geahnt hatte, als er seine noch allezeit gründlich missverstandene Emilia Galotti dichtete, dies Problem hatte freilich vor O. Ludwig schon H. v. Kleist in seiner Novelle, »Michael Kohlhaas«, behandelt, nur ungleich grösser, ungleich tragischer. Hier: dieser Kohlhaas, dieser Ulrich, – und ich füge hinzu: dieser Oswald (dies Geschöpf des Zufalls einer modernen Ehe!) sind in ihrer Totalität das, was der Oedipus in der antiken Welt war, das Problem Mensch in seiner furchtbarsten Consequenz gedacht; ein sittliches Wesen abhängig von lauter jenseits aller Sittlichkeit stehenden Mächten. Das Produkt des Zufalls, 94 das schon über die allernächste Folge dieses Zufalls, den ersten Schritt sich und aller Welt Rechenschaft schuldig ist.
Deshalb stehen uns eben jene Dichter so hoch. Sie sind die mächtigen Vorsprünge unserer Zeit in die undurchschifften Meere der Zukunft. Dies Problem hat Schiller in seiner ganzen Tiefe kaum geahnt, geschweige denn poetisch behandelt. Hier liegt, in diesem erhöhten Bewusstsein vom Menschen, der faktische Fortschritt der modernen Litteratur, gegenüber den alten, und nicht in all den Lappalien und Nebensächlichkeiten, in denen man ihn gewöhnlich erblickt.
Denn schliesslich bedeutet jede neue Kunst nichts Anderes, als die Heraufkunft einer neuen Psychologie, einer tieferen und genaueren Seelenbehandlung.
* * *
Vor den Eingängen des Lebens sind Sphinxe gelagert, die über den Sinn dieses Lebens und der in ihm waltenden Gottheit in tiefes Nachsinnen versunken sind. Am Ausgange unseres Jahrhunderts nennt man sie Zola, Ibsen, Nietzsche, Bourget, Strindberg, Dostojewski. In der Mitte desselben hiessen sie: Flaubert, Heine, Hebbel, Wagner, Schopenhauer; am Anfang: Kleist, Byron, Balzac, Gogol. Im vorigen Jahrhundert: Rousseau, Goethe u. s. f. Das Problem des vorigen Jahrhunderts hatte man (für Deutschland wenigstens) schliesslich auf einen einzigen Namen hin getauft. Sein grösstes, brennendstes und weithin sichtbarstes Fragezeichen nannte sich Faust.
Wir heute sind problemreicher – –
Dies muss sich zeigen, wenn man sich das Verhältnis des Künstlers zur Natur vergegenwärtigt. Auch hier können wir wieder drei Stadien unterscheiden, die er durchläuft.
1) Der Künstler behandelt sie naiv (das Wort diesmal im Schiller'schen Sinne genommen). Er steht innerhalb der 95 Natur, er stellt seine Natur dar, indem er sie aus sich weg thut und eine zweite Natur gebiert – er ist schöpferisch thätig. (Goethe, Dostojewski.)
2) Der Künstler behandelt die Natur wissenschaftlich, er tritt von aussen an sie heran, beobachtet, belauscht sie, fühlt ihr den Puls (z. B. Zola). – Was Schiller als Gegensatz ganz unpsychologisch die sentimentalische Sehnsucht nach der Natur nennt, ist, ganz abgesehen davon, dass, wie schon erwähnt, diese Sehnsucht unter Umständen gerade ein Beweis grossen Reichtums, ein Vorwegnehmen kommender und noch nicht realisierter Natur sein kann; – diese Sehnsucht selbst lässt sich gar nicht immer und unbedingt von der naiven Kunstauffassung trennen.
3) Was nun ganz und gar übersehen wird und was sich aus dem Obigen ergiebt, der Künstler, speciell der Dichter, kann die Natur psychologisch behandeln, indem er sich selbst – als Natur belauscht. Gewiss ein indezentes Benehmen, das jedoch gerade den Reiz und die Grösse einiger Dichter, z. B. Byrons und noch mehr Heine's ausmacht. Der wird nicht umsonst »der Schamlose« unter den Dichtern genannt. Er ist eigentlich noch schamloser als Zola. Denn er entblösst sich selber, während dieser doch blos der Natur unter die Röcke schaut und sie dekolletiert.
Und das ist ganz etwas Anderes! Und diese Unterscheidung ist wieder eine andere als die oben dargelegte Verschiedenheit des Verhältnisses zum Stoff als solchen. Da ist der Realist, oder wenn man will, der naive Künstler, der Zuschauer des Lebens, befangen von dem naivsten Glauben an dieses Leben, der namenlose Epiker, der Bewunderer der Thaten und Helden seines Volks, voller Bescheidenheit seinem Stoffe gegenüber. Er hat keinen Anteil an all dem Glanz und Ruhm, von dem er singt; ein Plätzchen im Schatten des sonnenhaften Glückes, das er feiert, ist Alles, was er begehrt, unterthänig und ergeben den Dingen und Helden, die er preisend darstellt. Hier ist Alles der Stoff, noch nichts die Persönlichkeit des Sängers, kaum dass er überhaupt eine solche hat. 96
Und der Idealist, das ist der Dichter als Richter über den Wert der Dinge, zugleich ein Moralist. Der ist nicht mehr so objektiv und passiv, um die Welt mit ihren Erscheinungen kritiklos und unbedingt hinzunehmen. Er urteilt, er bemüht sich, sich von der Gewalt der Realitäten zu befreien. Aber er selbst ist noch keine Realität, auch seine Person spielt noch keine hervorragende Rolle in dem Inhalt seiner Poeme. Ihr Charakter ist ein rhetorischer, er selbst nicht mehr interesselos an den Gütern des Lebens und ihrem Genuss. Aber bei aller Ritterlichkeit seines Wesens, die Treue des naiven Menschen ist seine Tugend nicht, er wird leicht unvergleichlich komisch, wenn er sie darstellen will (vgl. z. B. Schillers »Gang nach dem Eisenhammer!«).
Der moderne Dichter aber ist der Zuschauer seiner selbst, die Kunst selber die Realität. Wir haben es hier, wenn wir die Gattungen der Poesie zur Unterscheidung mit heranziehen, vor allem mit dem Drama zu thun, das nicht umsonst seit Lessing als der Gipfel menschlicher Kunst angesehen wird. Diese dritte Staffel der Kunst beginnt für uns Modernen mit Shakespeare, speziell für uns Deutschen mit Goethe. Aber so recht zum Bewusstsein gekommen ist sie erst den Dichtern und Philosophen unseres Jahrhunderts, besonders unserer Zeit. Die Consequenzen dieses Schrittes, den die Kunst gemacht hat, beginnen teilweise erst die aller Modernsten zu ziehen.
Eine dieser Konsequenzen ist z. B. das berühmte Fragezeichen zum Schlusse so vieler moderner Stücke. Die tendenziöse, die tragische Bedeutung dieser Fragezeichen ist bereits an anderer Stelle beleuchtet. Aber hier haben wir noch eine andere, eine artistische und generelle, die wir nur im Anschluss an diese Betrachtungen verstehen können.
Dieses Fragezeichen ist nämlich gar nicht etwas so Neues, von Heut und Gestern in die Litteratur eingeführt. Es existiert schon lange, nur dass es in Folge mangelhafter Interpunktion, sagen wir deutlicher: Psychologie, bisher nicht gerade als Fragezeichen geschrieben wurde. Diese 97 Fragezeichen hat eine lange Geschichte und mannigfaltige Metamorphosen durchgemacht. Seit die Menschheit sich auf sich selbst besinnt (und älter ist ja das Drama auf keinen Fall), macht sie auch hinter sich ein grosses Fragezeichen. Man nennt dies bald Pessimismus, bald Schicksal, bald Zufall, bald Skepsis u. s. w. Zunächst machte es die Menschheit hinter sich selber, oder wenigstens hinter ihre erlauchtesten Geschlechter. Was bedeutet dem Alten der Mensch! Nichts als Individualität, Alles in Bezug auf sein Geschlecht und seine Ahnen. Wenn im antiken Drama nicht allein das Individuum, sondern sogar eine ganze Folge von Generationen zu Ende gedacht und teilweise auch zu Ende dargestellt wurde (in den berühmtesten Tragödien, z. B. der Labdakiden-Tragödie bis zur Selbstauflösung und Selbstzerfleischung), hinter das Geschlecht als solches war doch immer, wenn auch keinesfalls immer sichtbar, ein Fragezeichen gesetzt, zumal es schon durch seinen Zusammenhang mit der Götterwelt auch mit seinen Schicksalen auf das gesammte Volk wirkte. Der Mensch der Antike war sich noch nicht selber, ihm war erst sein Volk, seine Sippe zum Problem geworden. Deshalb konnte auch das Schicksal des Individuums noch »befriedigend« gelöst werden; es war schon durch dessen Geburt gelöst.
Schon wesentlich fragwürdiger war der Mensch in der Folgezeit; und zwar um so fragwürdiger, je mehr man ihm aus dem Zusammenhang mit Vergangenheit und Zukunft herausriss. Ich sehe ganz davon ab, dass hinter einige der berühmtesten Tragödien, z. B. Hamlet, Faust, Tasso, Manfred gleichfalls ein grosses und vernehmliches Fragezeichen gesetzt war. Was war dann überhaupt über den Menschen als Individuum ausgemacht? Was beweist der Tod eines Menschen über den Menschen selbst? Und wen würde der Tod als Lösungsmoment noch heute künstlerisch und ethisch befriedigen können? Was für Mittel mussten angewandt und gewaltsam herangezogen werden, um erst den Tod herbeizuführen und zweitens, was weitaus das Wichtigste ist, ihn in künstlerischer und ethischer Hinsicht mit dem Charakter, der Schuld und den 98 Anschauungen des Helden in Beziehung zu setzen! Und wie zweifelhaft ist meist das Gelingen! Man weiss, was es Schiller gekostet hat, in diesem Punkte etwas einigermassen Befriedigendes zu Stande zu bringen. Und hat er auch etwas Befriedigendes zu Stande gebracht? Ich bin nicht der Erste, der den künstlerischen und ethischen Wert der Schiller'schen Katastrophen anzweifelt. Was ist uns heute noch der Reitertod Max Piccolomini's? Nur der Schein eines Punktes, wo ein Fragezeichen zu stehen hätte! Nichts Anderes, als was auch der Tod Wallenstein's, Maria's, Fiesco's, Johanna's u. s. w. ist: etwas Conventionelles, nichts Entscheidendes mehr, im letzten Grunde sogar etwas Unglaubwürdiges. Und nun erst jene Katastrophen, die durch gebrochene Herzen herbeigeführt werden, wenn nicht wirklich sich zuletzt ein ganzes Menschenleben ausgelebt hat! Gewaltsmittel und Eselsbrücken für Dichter, die in der Interpunktionslehre nicht sattelfest sind. –
Etwas Natürliches und Consequentes lag in dem Tode des Helden nur insofern, als sein Leben in seiner ganzen Ausdehnung (in den älteren Romanen), jedenfalls aber in Bezug auf seine ganze biologische Ausdehnung dargestellt oder zum Gegenstand ethischer oder aesthetischer Betrachtung gemacht war.
Es war ein Schritt vertiefter Seelenkenntnis und grösserer artistischer Weisheit, dass man den Menschen in seiner biologischen Totalität fallen liess und nur noch bruchstück- oder kapitelweise in das Bereich künstlerischer Betrachtung stellte, ein Glied aus der Kette des Lebens des einzelnen Menschen heraushob, wie man früher das Individuum selber aus der Kette der Generationen herausgehoben hatte. Ja, es ist einfach der notwendige Schritt. Man kann nicht das Individuum nehmen, ohne es im Zusammenhange mit seinem Geschlechte darzustellen. Will man für die individuelle Darstellung einen Halt, wie man ihn früher in der Geschlechterfolge und Ahnenreihe hatte, so kann man nichts Anderes thun, als das einzelne Moment der psychologischen und 99 biographischen Entwicklung zu accentuieren. Dann hat der Geist wieder Spielraum, vor- und rückwärts das Dargestellte zu reflectieren, wie dies die Alten in ihrer Weise gethan haben.
Es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht gerade der Moment-Photographie das Wort rede. – Dem modernen Künstler bietet ein Teil des Lebens eben so viel, ja mehr, weit mehr Stoff, als das Leben in seiner ganzen Abfolge dem Dichter älterer Zeiten. Die Kunst des verschärften Sehens, wie sie uns die moderne Psychologie lehrt, ist es nicht allein, die hier zu ihrem Rechte greift. Der moderne Mensch erlebt auch mehr, sein Leben, seine Empfindungs- und Gedankenwelt ist differenzierter, inhaltreicher, problematischer. In dem Leben des modernen Menschen gibt es der Fragezeichen mehr; es gibt Existenzen (einige der berühmtesten, interessantesten und deshalb auch fragwürdigsten Künstler gehören hierher), die aus lauter Fragezeichen bestehen.
Aber man hatte bisher noch nicht gelernt, den Menschen auf seine Fragezeichen hin anzusehen. Man setzt noch immer gern das Fragezeichen ganz an den Schluss des Menschen, hinter den ganzen Menschen. Aber welch' ein Lehrer in der Interpunktionskunst ist der modernen Poesie nicht in Schopenhauer und Nietzsche entstanden! Wie viel Fragezeichen hat man vermittelst der verschärften Brillengläser moderner Wissenschaften nicht entdeckt, wie viel wird man noch entdecken? Wie oft wird sich das Publicum noch über unbefriedigte Schlüsse beklagen dürfen! Vielleicht geben diese unbefriedigten Schlüsse geradezu ein Criterium für den Fortschritt einer Kunst ab! Wer nicht zu fragen angefangen, der ist auch nicht weitergekommen, nicht allein in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst und im Leben. Wir haben heut mehr Fragezeichen, als frühere Jahrhunderte, wir haben auch mehr Namen für diese Fragezeichen, wir sind überhaupt weit fragwürdiger geworden; man spricht ja geradezu sprichwörtlich von unserem problematischen Jahrhundert. Vielleicht sind wir sogar auch würdiger zu fragen 100 geworden. Genug, wir fragen mehr, und dies nicht in der Kunst allein. Wir sind neugieriger, verwegener im Fragen und Probieren und Experimentieren geworden, gleichfalls wie in der Kunst, so auch im Leben. Noch nie hat ein Geschlecht so verwegen, so frevelhaft an sich herumexperimentiert als das unsrige. Man kann also die moderne Kunst mit ihren Experiment-Versuchen und ihren Fragezeichen nicht verurteilen, ohne zugleich dies Geschlecht auch in seinen begabtesten, tiefsten und bedeutsamsten Vertretern zu verurteilen.
Will man Leben in der Kunst: gut, hier hat man es! Das ist Leben, modernes, schmerzliches, peinliches Leben! Das Leben des Philisters darf man freilich nicht verlangen, der experimentiert nicht, der fragt auch nicht, der weiss Alles und ist glücklich.
Leben? Jeder verlangt es auch in der Kunst, aber jeder verlangt sein Leben. Das Leben der Landpfarrer und Küster aus der guten alten Zeit des biedern J. H. Voss war freilich auch Leben, und seine Darstellung somit Realismus. Und doch die höchste Realität des Jahrhunderts war nicht die Louise oder der alte Tomm, sondern der Faust und der Don Juan. Aber es war Leben aus höheren und tieferen Regionen, bis zu denen sich die frommen Landpastoren der Zeit niemals hingewagt hätten. Der Philister und mit ihm die grosse Mehrheit (der Philister bildet die Mehrheit) verlangt allemal vom Künstler das Leben der mittleren gemässigten Zonen. Aber die grössten Kunstwerke spielen immer in heisseren oder kälteren Zonen der menschlichen Seele. In unserem Jahrhundert, da durch Europa eine starke Tendenz nach dem Norden geht, spielt sich auch die Kunst oft in Regionen ab, wo das Leben erfriert, in der schneidenden Luft der Kleist, Hebbel, Ibsen, Tolstoi, Wereschtschagin. – 101
. . . Und jedes neue Fragezeichen führt in neue Abgründe. Ein neuer Fall, eine neue Décadence; das Problem, zu dem wir hier hinüberleiten. –
Durch Nietzsche's geniale Ausführungen über das Wesen der Décadence und die Bildung einer neuen Pariser Dichterschule, der »Décadenten« ist auch bei uns jetzt das Wort geläufig geworden. Schon entstehen Décadenten-Gruppen, schon ist das Wort als Kunstausdruck eingeführt, schon spielt man mit ihm, schon widerlegt man es, schon renommiert man mit sich als mit einer Décadence-Erscheinung. Als wollte man mit schäumenden Bechern und dem letzten Hochgefühl von Uebermut und Kraft, von Grausamkeit und Selbstgefühl sich in den Abgrund stürzen! Eine Abendlaune ist über uns gekommen, eine so gründliche Fin-de-siècle-Stimmung, als sollte mit dem Ende dieses Jahrhunderts zugleich das Ende aller Jahrhunderte kommen.
Noch gestern so voller Hoffnungen, so glück- und siegesberauscht, als sollte von Deutschland, dem politischen und geistigen, ein neuer Morgen der Menschheit heraufdämmern, ein ewiges Zujubeln den kommenden Jahrhunderten – und heute – der Fin-de-siècle-Jubel?!
Ich lasse den Gegensatz als Gegensatz gelten. Gegensätze haben immer, – auch wenn sie töricht sind, und das sind sie meistens – für mich ihre Reize.
Aber ich frage, als Cultur- und Kunst-Terminus, was hat da der Begriff »Décadence« überhaupt für einen Sinn! Was ist Décadence? Wer ist ein Décadent? Und die Antwort lautet: Jeder und Niemand!
Jeder! Nicht blos von heute, sondern in allen Zeiten! Es giebt gar keinen Menschen, der nicht irgend einmal, von irgend Jemand, zu mindest von sich selbst, als Décadent empfunden worden wäre: Auch die Grossen, die Heroen der 102 Kunst und des Lebens, sie waren doch alle einmal Décadents. Sie hatten immer ein stärkeres, ein grösseres, ein einheitlicheres Vorbild in der Vergangenheit, wenn auch so, dass Grösse, Stärke und Macht sich auf ganz andere Lebensäusserungen bezog. Z. B. ein Dichter, selbst der grösste, gesündeste, einheitlichste, ein Firdusi oder Homer, er ist doch immer gerade als Mensch eine Décadence-Erscheinung. Die Thaten, die er besingt, er kann sie eben als schwächlicher Epigone nicht selbst mehr vollführen. Die Helden, die er preist, sie stehen als gewaltige, unerreichbare Vorbilder in seiner Seele. Es gab noch keinen Künstler, der sich als Mensch im Geheimen nicht geschämt hätte, vor seinem eigenen Helden.
Ein ganz grosses Gebiet der Poesie, nämlich die Elegie hat immer zur Voraussetzung das Gefühl, ein Décadent, ein Epigone zu sein. Weh' Dir, dass Du ein Enkel bist! Die romantische Poesie (ganz allgemein als Gattungsbegriff), die humoristische, und ganz besonders die epische, sie handeln fast immer von verschwundenen besseren Zeiten, von verlorenen Paradiesen, von einer wie im Traum verflogenen Jugend der Menschheit, eines Volkes oder Stammes, von Familien oder Individuen.
Die Kunst ist eben selbst schon jedesmal eine Décadence-Erscheinung. Wenigstens so wird sie immer von den Alten empfunden. Man handelt nicht mehr, wenn man träumt und dichtet. Die Künstler sind immer die verlorenen Söhne (ausser etwa in Künstler-Familien!).
Gerade der Cultur-Fortschritt, der Kunst-Fortschritt macht die Erscheinung, die ihn bewirkt oder beschleunigt, eben zu einer Décadence-Erscheinung. Denn sie bedeutet eine Verfeinerung und mithin eine grössere Verletzlichkeit und Krankhaftigkeit, ein unheimliches Raffinement der technischen Mittel, eine Individual-Loslösung von einem ganzen Grossen, eine Vereinsamung und Schwächung. Am Baum ist die Blüte immer eine Décadence-Erscheinung. 103
Es thut auch nichts, ob die Loslösung in prometheischem Trotz, in Wehmut oder in Sentimentalität sich vollzieht, ob mit dem beliebten »Lächeln unter Thränen«. Es ist eine Scheidung von Neu und Alt, von Uebermorgen und Vorgestern, ein Sich-Hervorwagen in ungekannte Zonen, es ist Abenteurer-Weise. Es liegt schon ein tiefer Sinn – wenn er gleich keine Wahrheit ist – in dem Glauben der Alten, dass die Menschheit in einem jähen und einem rapiden Abfall von Gott begriffen sei.
In jedem Dichter, sofern mir das nötige Material zu Gebote steht, will ich eine Gestalt, eine Form, einen Gedanken ausfindig machen, der deutlich auf eine Décadence hinweist. Und es ist fast regelmässig die Gestalt, die Form, der Gedanke und der Glauben, die als ihre Hauptgestalt u. s. w. gelten, von denen der Fortschritt der Dichtung datiert wird, und in denen ihr grösstes Verdienst erkannt wird. Aehnlich verhält es sich auch in der Wissenschaft, zumal der Philosophie. Der Zweifel, das Ur- und Hauptmotiv aller Wissenschaftlichkeit, ist regelmässig die Folge irgend einer Degenerescenz, eines krankhaft verfeinerten Gewissens, irgend einer Empfindlichkeit im Denken, Glauben und Handeln. Alle Culturarbeit ist relativ krank oder krankhaft bedingt!Vgl. zur Ergänzung den Aufsatz des Verfassers »Die Krankheit in der modernen Poesie« (Magazin für Litteratur 1891 Nr. 34.)
Denn auch krank und gesund sind relative Begriffe. Was man gewöhnlich unter gesund versteht, das schöne Gleichgewicht der Kräfte oder das Gefühl von Gesundheit, das ist in dem ersten Fall in der Regel und in beiden Fällen überhaupt nur der Zustand nach bezwungenen Qualen, nach ausgerungenen Kämpfen. Und was man sonst immer darunter versteht, ist nichts typisches – irgend ein Durchschnittsmaass des körperlichen Wohlbehagens; d. h. das Philisterglück der Leiber; irgend ein Zustand, in dem sich eine Weile ohne besondere Pein und Sorge auskommen lässt. Aber das, worin und womit sich eben noch auskommen lässt, darüber gehen 104 die Meinungen der Leiber und Seelen ewig auseinander. Es giebt tiefe und gefährliche Leiden, (namentlich bei Geisteskrankheiten) die der Leidende gar nicht ahnt, und bei denen sich auch der Kranke ganz munter findet, und andere, die ein nachdrückliches Gefühl von Krankheit und Unwohlsein erzeugen, und die gleichwol kaum als eigentliche Krankheiten gelten. Und das Alles, wie im Allgemeinen, so in allen möglichen Differenzen beim Einzelnen. Es giebt eine Kraft und Gesundheit einzelner Sinne und Glieder, die nur durch Schwäche und Erkrankung anderer erkauft werden kann. Und das kann in dem einen Falle ebensowol als Krankheit, Décadence, Niedrigkeit, wie im anderen als Kraft-, Gesundheits-, Fortschritts-Erscheinung auftreten. Der Satz, dass die Affen, wenn sie reden könnten, die Menschen als die Décadents ihres Geschlechtes bezeichnen würden, ist ursprünglich als ein Witz ausgesprochen worden, aber er entbehrt, wie jeder gute Witz, nicht des inneren Tiefsinnes.
Und wie mit der Krankheit, so ist es mit der Décadence. Wie leiblich, so geistig. Man sage mir nur, wer unter den Dichtern, wer unter den dichterischen Gestalten, wer unter den Genies kein Décadent war.
Hamlet und Werther sind zwei Décadents (übrigens auch zwei Fin-de-siècle-Menschen!), Rousseau und Kleist waren krank durch und durch. Am Ende kommt wenig darauf an, ob sich ein Zukunftsmensch selbst als Décadent empfindet, oder ob ein Décadent in der Folgezeit von der »dankbaren Nachwelt« als »grosser Bahnbrecher« gepriesen wird. Bahnbrecher sind sie alle die Décadents, und es begreift sich schon, weshalb alle Künstler und Philosophen ihre letzte und ganze Zuversicht auf die Zukunft setzen. Die Zukunft war noch immer die gelobte Zeit aller unglücklichen, Verfolgten, Zukurzgekommenen.
Man mache die Probe aufs Exempel! Man belausche die Künstler bei der Arbeit, man lasse sich nicht durch ihre Renommistereien verwirren, man verfolge sie in ihren Studien, 105 man sehe sie in ihren geheimen Schauern vor einem Torbild – ob dies nun das Leben oder ein Werk der Vergangenheit sei –, man durchforsche auch ihr Leben und man kann mit Hauptmanns Dr. Schimmelpfennig sagen: Degenerescenz auf der ganzen Linie.
Goethe ist ein Décadent gegen Shakespeare, und als Mensch betrachtet sogar gegen Lessing. Jedenfalls hat ihn dieser und hätte ihn jener als Décadent betrachtet, sowie Goethe seinerseits die Kleist und Heine, die beiden grössten Erscheinungen, die er innerhalb der deutschen Litteratur noch erlebte, als Décadents ansah. Er entsetzte sich förmlich vor dem Krankhaften in dem Einen, und den Andern liess er sogar fast ganz unbeachtet, so wichtig nahm er ihn. Und sie waren beide Décadents, und Heine hat sogar etwas vom typischen Décadent an sich. Es thut nichts, dass sich der Décadent in dem einen Falle (Kleist) zusammenrafft und etwas Kraftvolles schafft, das die Thaten der Täter beschämt, oder dass in einem andern Falle (Goethe) der Décadent sich ausreift und an Tiefe und Weite des Blicks seine Täter übertrifft! Aber – Alles in ein Wort fassend, könnte man sagen: jede neue Erscheinung kündigt sich an als Décadence. Und erst die Folgezeit kann entscheiden, ob etwas in jedem Betrachte Décadence bleibt. Und die Folgezeit kann es auch nicht entscheiden. Denn in jedem Betrachte ist niemals etwas Décadence. – –
Eine Einzelerscheinung innerhalb einer bestimmten Entwickelung kann sehr wohl das spezifische Charakteristicum der Décadence tragen. Man kann Alcibiades den Décadenten unter den atheniensischen Staatsmännern nennen, aber er ist auch zugleich das Genie unter ihnen. Theokrit ist der Décadent unter den hellenischen Dichtern, aber er ist zugleich der Vater der Bukoliker.
Caesar war ein Décadent des echten Römertums, und Napoleon ein Abtrünniger der Revolution, und diese selbst eine Décadence des ancien régime. 106
Ueberhaupt muss man scheiden: es giebt eine Décadence des Reichtums und eine Décadence aus Armut; jene ist die glänzendere: verschwenderisch, übermütig, rapide – diese ist langsam, aufhaltend, den Bettelbesitz zusammenraffend. Sie geht still von statten, in irgend einer Abgeschiedenheit. Man zieht sich zurück auf irgend ein ruhiges trautes Plätzchen, z. B. das Hirtengedicht. Man fühlt sich décadent, aber man nennt sich nicht so, man heisst der Bescheidene, Zufriedene. Und schliesslich wird man auch ein Zufriedener, Bescheidener. Man gesundet langsam in solcher Décadence. – –
So wie ein Weib nicht in gesundem Zustand ein Kind in die Welt setzt (und doch ist es ein Zeichen von Kraft und Gesundheit für ein Weib, Kinder zu gebären), eben so wenig sind es normale und gesunde Zustände für ein Volk oder ein Individuum, in welchen die grossen Werke geschaffen werden. Nur Dilettanten arbeiten bei völliger Gesundheit und Sinnesklarheit. –
Aber wie von allen weiblichen Affectiertheiten, die affectierten Kindeswehen doch vielleicht die unausstehlichsten sind, so ist mir auch die affectierte Décadence von heute, in ihrer deutschen Nachahmung zumal, recht zweifelhafter NaturAber selbst, was bei uns heute als Décadence auftritt, die Seelenzerfaserung, also eine Schwächung der Leidenschaft und der Kraft in der Kunst, es ist doch auch wieder ein Mittel zu grösseren Feinheiten, gesuchteren Raffinements, individuelleren Seins: also ein Verfall, der sein flammendes Gottzeichen neuer Kunst- und Menschwerdung auf die Dauer nicht verläugnen kann.. Sie haben beide vielleicht eine gemeinsame Ursache: Unproductivität. Es fehlt ihr, was eben jeder Décadence einmal Aussicht giebt, nicht mehr Décadence zu sein, die tragische, elegische oder humoristische Décadence-Stimmung. Eine Décadence ohne Werther-Sentimentalität, eine Décadence ohne tiefes, gewaltiges, tragisches Schuldbewusstsein, eine Décadence endlich ohne Humor – das scheint mir selbst als Décadence schon wieder eine Décadence-Erscheinung zu sein! Sie verhält sich zu jeder wahrhaften Décadence (und es giebt 107 künstlerisch nichts Wahreres als Décadence!), so wie sich die koketten Weltschmerzler unseres Jahrhunderts gegen Byron ausnehmen: es ist die Farce hinter der Tragödie.
Eine Tragödie aber ist und bleibt die Décadence, auch wenn sie sich als Komödie oder was immer giebt. Das Gefühl ein Décadent zu sein, ist stets ein tragisches. –
Würde man sich daran gewöhnen, die Kunst und Alles, was mit der Kunst zusammenhängt, vor Allem auch die künstlerischen Hilfsmittel und Ausdrucksweisen, sich auf psychologische Weise zu deuten, dann würde man nicht leicht immer wieder auf dieselben Einseitigkeiten verfallen, dieselben Formen, Motive u. s. w. heute ebenso bedingungslos anempfehlen, und morgen ebenso bedingungslos verwerfen.
Auch das Symbolische in der Kunst hat dies Schicksal gehabt. Ist dies immer ein Zeichen künstlerischer Unproductivität, des Unvermögens, die Erscheinungen zu deuten oder schon zu percipieren? Nicht auch zuweilen vom Gegenteil? Oder bedient sich nicht der menschliche Geist immer, muss er sich nicht immer des Mittels bedienen, zunächst ein Zeichen für die Sache zu setzen? Ist nicht auch unsere ganze Sprache symbolisch?
Das Symbol spielt in jeder Kunstrichtung zweimal eine hervorragende Rolle. Das eine Mal, wenn der Künstler sein Object, sein Phänomen, sein Real zum ersten Male percipiert, d. h. wenn er ein neues Phänomen percipiert. Aber was sein Geist zu begreifen oder sein Gemüt zu ahnen vermag, kann sein künstlerischer Genius, der Artist in ihm noch nicht ausführen. Ihm geht es, wie dem Kämpfer, der in feindliches Land, über den Fluss oder über die Mauern hinweg einen Pfeil gesandt hat, aber selbst noch ausserhalb des zu erobernden Terrains steht. Er hat nur die Stelle bezeichnet, die es zu gewinnen gilt. Er hat das Land bezeichnet, das 108 noch kein Fuss, auch der seine nicht, betreten; er hat neue Realitäten gesehen, aber er ist ihrer noch nicht Herr geworden. Soll er das Land deshalb aufgeben und unverrichteter Sache wieder heimsegeln, weil er nicht als Eroberer heimkehren kann? Soll er nicht wenigstens die Stelle bezeichnen, auf dass, wenn er hier nichts mehr erreichen sollte, wer ihm einstmals auf diesem unbetretenen Wege folge, erkenne: hier war schon jemand vor dir da; du bist nicht der erste Entdecker dieses Landes; aber du bist auch sicher, dass du nicht in's Unsichere, Ziellose hineingesegelt bist; dein Künstler-Instinct, dein realistischer Sinn hat dich den richtigen Weg geführt; kein Zufall hat dich hierher verschlagen, die Notwendigkeit trieb dich, das Schicksal selber zeigte dir den Weg. – Dieser Nachfolger braucht sich nun schon weniger mit Symbolen und Zeichen zu begnügen. Er kann schon vielleicht selber hineinspringen in die Realität der neuen Welt, er kann schon Realismen (neue Pflanzen, neue Menschen u. s. w.) heimbringen.
Kurzum, der Weg zur realistischen Darstellungsweise führt über Symbole. Jede neue Kunst ist, wie sie roh und unbeholfen ist, auch symbolisch, allegorisch, andeutungs- und beziehungsreich. Sie stammelt, d. h. sie spricht Laute für Worte und Sätze. Ein plumper Stein bedeutet den Gott. Diese Kunst will überall was sagen, aber sie sagt noch wenig oder nichts. Diese Kunst, nicht nur der Schöpfer, sondern auch die Empfänger derselben. Sie verständigen sich und können sich einstweilen nur noch durch Zeichen verständigen. Was Wunder, dass diese Zeichen schliesslich als heilig erklärt werden, dass die Kunst in Allegorien, Ceremonien und aller Art von Zeichen-Sprache erstarrt. Erst jetzt wird das Symbol sinnlos und verwerflich, weil man die Sache, das Real hat und sich immer noch mit dem Abzeichen dafür begnügt. Man frevelt und schändet sich selber, wenn man stammelt und doch wie andere Menschen reden kann. Doch an solchen Selbst-Schändungen im höchsten, geistigen und künstlerischen 109 Gebiete ist die Menschheit nur gar zu reich. Das religiöse und politische Leben zeigt uns alltäglich Wunder in dieser Beziehung.
Denn erst wenn das Symbol gemacht, ertüftelt ist, steht es im Gegensatz zum Realismus. Aber, wir können das Symbolische auch leicht in ein Werk hineintragen, nur weil wir das Gegenständliche desselben nicht mehr er- und durchleben können, weil wir gar keine Realität mehr darin erblicken. Alles Mythologische, Heiligengeschichten und Volkssagen, nehmen wir heute aus diesem Grunde symbolisch, während die Völker in ihrer Jugend das Alles noch realistisch, als Thatsachen aufnahmen. Sie glaubten daran, fürchteten und liebten es. Selbst die Märchen waren einmal realistische Kunstwerke. Auch können ein und dasselbe Werk verschiedene Völker und Individuen symbolisch und realistisch begreifen. So steckt z. B. in der Meer-Symbolik der »Frau vom Meere« ein Stück Norwegischer Lebenswahrheit, während wir Binnenländer schlechterdings nichts Realistisches in dieser Darstellung sehen können. Denn was dem Bildner als Real gilt, ist uns, die wir nicht mehr oder noch nicht oder überhaupt nicht an seine Gebilde glauben können, Symbol. Es sinkt gleichsam in seinem Lebenswerte. –
Wie als Zeichen der Unreife, aber durchaus als realistischer Hang, tritt das Symbol auf als Zeichen der Ueberreife, und wieder keineswegs im Gegensatz zum Realismus. Man setzt das Zeichen für die Sache nicht mehr, weil man diese selbst noch nicht auszudrücken vermag, sondern weil man es nur zu wohl vermag, weil man sie schon zu oft ausgedrückt hat und sich zu wiederholen und conventionell zu werden fürchtet. Setzt man in der Vorbereitungszeit das Zeichen für die Sache, so geschah es, weil man noch zu schwerfällig, noch zu langsam war, das ganze Phänomen selbst zu durchmessen, weil man selten weit vorzudringen vermochte in das neu entdeckte Land; hier geschieht dasselbe aus dem entgegengesetzten Motive: man hat das Land schon zu oft durchstreift, es ist Einem bereits langweilig und überdrüssig geworden, man setzt nur noch in fliegender Hast 110 durch dasselbe, man kann gar nicht genug mit einmal hinwegbekommen, man summiert die Realitäten und setzt für die ganze Erscheinungssumme ein neues Zeichen: ein Symbol. Man ist damit seiner Epoche durchaus realistisch, der man im gleichen Hange des Ueberdrusses entgegen kommt, weil sich diese selbst noch ein Lebendiges, die Realitäten dabei denkt und unter dem Symbol mit einbegreift. Der Künstler verständigt sich gleichsam mit seinem Publicum über die Phänomene selber hinweg. Diese Zeit kündigt sich z. B. in der Litteratur als eine Litteratur der Schlagwörter an. Es ist klar, dass diese Litteratur und diese ganze Kunstepoche oft schon kurze Zeit später völlig tot, schal und leer erscheinen muss. Man versteht den Sinn der Zeichen nicht mehr, man legt ihnen keine Realitäten mehr unter. Das hindert nicht, dass diese Werke und just diese Werke einmal als Wunder des Realismus gepriesen und auch empfunden wurden. Aber auch die Realitäten selber können schwinden, der Inhalt der Werke verflüchtigt sich und man begreift abermals nicht, was die Welt einmal darin gesehen hat. Man darf eben wenn man vom Realismus redet, den Wert, Sinn, die Bedeutung, Entwicklung resp. Umwandlung der Realismen selbst nicht aus dem Auge verlieren. Auch das realistischste Werk wird eines Tages unrealistisch. Das eben wird durch den wandelbaren Wert der Realitäten bewirkt. –
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Diese beiden Typen von Symbolik können wir uns sehr gut an zwei modernen Dichtern vergegenwärtigen: Zola und Daudet.
Jener stellt neue Gesetze in grossen Zügen dar, dieser lässt altes Leben noch einmal wie im Fluge an uns vorüberziehen. Zola ist oft trocken, weil ihn noch Alles so fremdartig anmutet. Er stellt die Dinge dar als etwas, an das er sich noch nicht recht heranwagt. Er verhält sich prüfend, 111 beobachtend. Aber auch Daudet steht ausserhalb der Dinge, doch er schaut sie von oben, aus der Vogelperspective an; er hat das Alles schon zu oft geschaut und genossen; ein Zug von Müdigkeit und Schwermut liegt auf seinen Lippen. Er sieht von seiner Höhe zu Vieles auf einmal und hält dann einen einzelnen Punkt fest, der ihm symbolisch für eine ganze Reihe von im Fluge erschauten Wahrnehmungen gilt. Zola schildert summarisch und drängt die ganze Summe der Erscheinungen schliesslich in ein einziges symbolisches Bild. Daudet appercipiert mehr, das Wahrgenommene hat den Weg zum Symbol schon des Öfteren zurückgelegt. Beide sind sie Symboliker, beide sind sie Realisten. Man sieht, dass dies nicht notgedrungen Gegensätze sein müssen.
Zola ist gleichsam der Architect des modernen Realismus, der überall Linien zieht, Schutt forträumt, Gebäude aufführt. Daudet der Maler, der Contouren-Zeichner, der feinere Farbendifferenzen und Lichtreflexe unterscheidet. Bei Zola gehen wir überall über Ruinen, Trümmern und Schutthaufen, über abgemähten Fluren, durch dürres Laub und an versiegten Quellen – bei Daudet befinden wir uns im Spät-, im Alt-Weiber-Sommer, ihn noch einmal geniessend, in vollen Zügen, mit einer wehmütigen Resignation, dass es ein scheidendes Glück ist, welches wir hier geniessen. Im Sinne der älteren Cultur ist Zola die grössere Verderbnis, im Sinne einer neuen der Fortschritt. Daudet ist für das moderne Frankreich, was G. Keller für uns ist: der Humorist. Eine leichte Ironie umspielt seinen Mund, er betrachtet die Dinge sub specie seiner weiteren Erkenntniss und reiferen Cultur.
Stumpfsinnig bohrt sich Zola's Geist oft in seinen Stoff, es giebt für ihn dann gar keine andere Rettung als das Symbol; Daudet hingegen hat seinen Stoff meist weit hinter sich, er nimmt ihn in seiner Totalität wahr, atmet ihn gleichsam mit allen Sinnen auf einmal ein und in verdichteten symbolischen Bildern wieder aus.
Und Zola sieht blos einen Ausschnitt des Kreises, das 112 Uebrige construiert er sich selbst, er ahnt es, er calculiert es, aber er kann es nur durch Zeichen andeuten, denn er hat es ja nie gesehn. Daudet dagegen hat den Kreis bereits mehrfach durchlaufen, die Details interessieren ihn nicht mehr, ihn hält nichts mehr auf, er verweilt nirgends, nur vorwärts, vorwärts! Er deutet gleichfalls an, er schildert gleichfalls excursorisch, er symbolisiert ebenfalls. Zola ist deshalb auch der Eroberer des modernen Lebens; Daudet der typische Verlierer. Ewig sehen wir jenen mit seinen starken Fäusten gegen die Wände hämmern, welche ihn noch von dem neuen Leben, dem neuen Glück trennen; er arbeitet mit den stärksten Dynamiten und sprengt die härtesten Gesteine. Wie anders Daudet! Ein ewiges Scheiden und Abscheiden, ein ewiges Verlorengehen und Resignieren! Eine herbe Bitterkeit durchzieht seine Werke, ein schneidendes Weh trifft das Herz des Lesers und macht das stärkste noch weich und träumereich wie das eines alten Weibes, indess Zola's mutiger Geist selbst die Schwachen noch stark macht. Daudet's Kunst ist September-Poesie, auf Zola liegt noch die dicke Decke eines grausam kalten Februars.
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