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Es giebt einen dreifachen Naturalismus d. h. eine dreifache Möglichkeit, Schranken zu durchbrechen, Neuerungen einzuführen in der Kunst: 24 hinsichtlich des Stoffs, hinsichtlich der Form und hinsichtlich der Idee.
Man denkt heute in erster Linie gewöhnlich an den Stoff, wenn man von Naturalismus oder Verismus spricht; und meist nur an eine bestimmte Art, die niedrigste Gattung von Stoff, an das Stofflichste am Stoff. Es ist auch ein Fortschritt der Kunst, wenn der Beweis geliefert wird, dass Dinge, die scheinbar mit der Kunst gar nichts zu thun haben, doch im hohen Grade künstlerisch wirken oder künstlerisch verwertet werden können. Es gab Zeiten, in denen gewisse Persönlichkeiten, gewisse Verhältnisse, Stände und Beziehungen ein für alle Mal aus der Kunst ausgeschlossen galten, in denen man etwa Bauern oder Juden höchstens als komische Typen benutzen durfte. Und dies war nicht etwa eine besondere Borniertheit seitens der Künstler oder Aesthetiker, sondern entsprach ganz allgemein den Anschauungen der Zeit. Man nahm auch im Leben jene Persönlichkeiten nicht ernst. Man glaubte es einfach nicht, dass jene, wenn sie auch der gemeinen menschlichen Empfindungen teilhaftig wären – und oft genug hat man auch das geleugnet – dass sie auch eines höheren Seelenschwunges, eines dramatischen Conflicts fähig wären.
Oft bildet man sich geradezu ein, das Neue, Ueberraschende, Widerspruchsvolle in Shakespeare sei im vorigen Jahrhundert in erster Linie seiner Nichtbeachtung der als unumstösslich geltenden aristotelischen Regeln zugeschrieben worden. Aber wie könnte etwas Negatives einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wenn auch dieses Negative hier, z. B. bei Lessing, zunächst so verblüffend und dann so befreiend gewirkt hat, dass dieser Anblick ihn zu einer erneuten Durchforschung der Gesetze angeregt hat. (Ich habe Lessing stark im Verdacht, dass er das Positive in Shakespeare so wenig verstanden hat, als in Goethe. Lessing war bekanntlich ein entschiedener Antinaturalist – die Natur war ihm langweilig –; alles Positive in der Kunst aber ist – Naturalismus).
Was damals weit mehr verwirrte als die scheinbare 25 Formlosigkeit Shakespeares, das war das Empörende seines Stoffes. Zunächst einmal der Personalbestand bei Shakespeare. Welch eine bunte Gesellschaft! Prinzen, Feldherrn, Könige und Adelsgeschlechter war man ja gewohnt im Drama. Sie waren bisher beinahe die alleinigen Helden, mit verhältnismässig nur wenigen und nicht sehr bekannten Ausnahmen. Sie machen aber Shakespeares Welt nicht aus. Eine solche individualisierende Behandlung des Volks im Drama, ein so keckes Herausgreifen der verschiedenartigsten Figuren war man bisher nicht gewohnt. Und vollends anders Gläubige oder anders Farbige als Helden von Dramen! Wie hätte man sich damit abfinden sollen?!
Und das nicht allein. Bunter noch als die Personen waren die Handlungen. Die Art, wie Shakespeare die Leidenschaften malt, war neu. Wie? War sie darum wahr? Wer hätte nun auch in der ersten Hälfte und auch noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts etwa ernst glauben können an diese Romeos, diese Hamlets, diese Othellos? War so etwas erhört? Das alles waren Menschen des 19. Jahrhunderts, wie konnte sie das 18. verstehen?
Wenn man einem Menschen von zwanzig Jahren mittels eines Zauberspiegels zeigen könnte, wie er mit fünfzig Jahren denken, handeln, empfinden und aussehen würde, würde er das nicht sicherlich für ein Trugbild, für Täuschung, Unwahrheit, »Mangel an Objektivität« ansehen, ansehen müssen? Vorausgesetzt, dass er dieses Zukunftsbild überhaupt begriffe? Vielleicht wird er es für Narretei halten und darüber lachen! Jedenfalls wird er es nicht ernst nehmen; so wenig, wie je Pharisäer, Akademiker oder sonst die Grossen ihrer Zeit das Wichtigste, das sie erleben, in politischer, wirtschaftlicher oder künstlerischer, in gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Hinsicht, je ernst nehmen!
Jeder grosse Künstler ist ein Entdecker unbekannter, ungeahnter und oft geleugneter Eilande der menschlichen Seele. Da gilt es, waghalsige Meerfahrten und abenteuerliche Nordpolexpeditionen zu unternehmen. Von den Umgekommenen 26 weiss Keiner zu sagen, sie waren die enfants perdus ihres Jahrhunderts und endeten im Irren- oder Zuchthause. Die robusten Naturen hingegen und die Glückskinder, die heimkehren und ein Zeichen mitbringen, dass sie in nie betretenen Landen gewesen – und keine Zeit glaubt, bevor sie sichtbare Zeichen gesehen, z. B. eine neue Pflanze, für deren Anbauung sich vielleicht ein Actien-Unternehmen begründen liesse – oder die wenigstens die Strasse zu bezeichnen wissen, auf der auch andere den Weg zurücklegen können, oder die womöglich es selbst unternehmen, ihre Zeitgenossen dorthin zu führen; nur sie gelangen zu Ansehen und Ehre. Und hundert Jahre, nachdem der kühne Held zum ersten Male seinen Fuss auf das freie Eiland gesetzt, hat sich hier vielleicht schon eine mächtige Kolonie angesiedelt, und an eben jener Stelle prangt die Kollossalbüste des Entdeckers, eben hier steht vielleicht ein grosses Goethe-Haus, in der eine Goethe-Gesellschaft tagt, und was der irdischen Freuden mehr sind. Oder eine Stätte der Andacht ist gefunden für die Frommen des Landes. Oder – hundert Jahre später entdeckt ein deutscher Professor, dass doch er eigentlich auch ein Stück vom »Faust« in sich trage; jeder Jüngling weiss, dass auch er zur Gattung der Romeo's gehöre, jedes Mädchen fühlt mit Julia u. s. w.
Man verstehe wohl! Nicht die Liebhaberin Julia ist es, für deren Verständnis ein paar Jahrhunderte erforderlich sind. Aber dieser bestimmte Charakter einer Liebhaberin, dieses Revolutionäre in der Liebe, dieses Sich-auf-sich-Stellen (»Was ist mir Montague?«), dieses Individuelle, modern Leidenschaftliche und Bewegte! Eine Liebe, zu deren Rechtfertigung keine Engel vom Himmel kommen, keine Thaten und Wunder erforderlich sind (wie etwa in der Minnepoesie), 27 die durch nichts Generelles (Stammesinteressen) gefördert oder gehemmt wird, – sondern eine Liebe, die plötzlich die liebende Persönlichkeit frei macht und isoliert – also das rein Individuelle, worauf heut, wie gesagt, jeder Liebhaber und jede Liebhaberin pocht, das eben war damals das Unerhörte, das gesellschaftlich Ketzerische in dieser Tragödie.
Und ähnlich verhielt es sich mit Othello, mit Lear und vor allem mit Hamlet. Alles Tragödien, die auf damals noch unentdeckten Landstrichen der Seele abspielten. Wie hätte man sie verstehen sollen, da man doch immer hübsch zu Hause geblieben war und hinter'm Ofen hockte und Bücher las, die man vielleicht auch nicht verstand! Gesetzt, dass auf dem Jupiter Tragödien spielten, könnten wir sie hier verstehen? Und vollends auf Sternen, von deren Existenz wir noch nicht einmal eine Ahnung haben? –
Von diesen Vorgängen sehen wir sehr häufig seltsame Beispiele in der modernen Wissenschaft. Heut hat irgend ein Arzt eine neue Krankheit entdeckt, eine bestimmte Krankheitsform festgestellt; wenige Jahre später stellt sich heraus, dass ein grosser Teil der Bevölkerung an dieser und just an dieser Krankheit leidet. Geradezu, als ob jener Arzt dadurch, dass er den Teufel an die Wand gemalt, ihn auch thatsächlich herbeigelockt hätte!
Wie denn ja auch von naiven Menschen in der That die Aerzte für die vielen Krankheiten unserer Zeit verantwortlich gemacht werden.
Und jener Arzt hat die Krankheit nicht geschaffen, er hat sie nur zum ersten Mal gesehen, beobachtet, dargestellt. Niemand weiss, wie viele Tausende vordem an dieser Krankheit zu Grunde gegangen sind, ohne dass man ahnte, was ihnen fehlte. Ihr Leiden hatte noch gar keinen Namen, medizinisch existierte es noch nicht. Vielleicht hielt man gar die Klagen der also Leidenden einfach für lächerlich, für Wahnsinn! Vielleicht hielten sie ihr Leiden selbst dafür! 28
Und wird das mit den Leiden des Geistes anders sein? Hier ist Entdecker und Arzt der Krankheiten der Dichter. Spricht man nicht auch von der Seelenverwirrung der Kunst in den Kreisen alter Klatschbasen und Zopfgelehrten? Sind die jüngsten Philosophen nicht immer »Jugendverführer«; haben je die Philister an der Gefährlichkeit neuer Kunstrichtungen gezweifelt? Und stützen sie sich nicht immer auf die überzeugendsten Argumente? Litten alle die Gefolgschaften moderner Meister nicht an denselben Uebeln? Waren sie nicht alle infiziert? Fand man nicht in der Tasche einer jungen Selbstmörderin den »Werther?« Fand man nicht beim Werther die »Emilia Galotti?« War dieser krankhaft empfindsame Werther nicht ein Klopstock-Schwärmer? Oder ist Rebekka West nicht Darwinistin! Haben sie nicht also Recht die Philister? O die Philister haben immer Recht!
Dass es sich aber umgekehrt verhalten könnte, dass der Patient zum Arzt läuft, weil er sich krank fühlt, und sich nicht selbst zu raten oder zu helfen weiss; oder dass jenes Seelenleiden eben jene Jünglinge und Mädchen gerade zu diesen Büchern greifen lässt, weil sie hier Namen und Mittel für ihre Leiden finden, – oder vielleicht auch süsse Gifte, Opiate zur Betäubung marternder Schmerzen; – kurz, dass eben das Leiden das Motiv ist, das sie gerade diesem Zauberer in die Arme führt!
Vorausgesetzt, dass es immer ein Leiden ist – wenn auch immer ein grosses Leiden vorausgehen wird, und seien es auch bloss die Geburtswehen einer neuen an die Oberfläche drängenden Welt! So wie die grossen sozialen Uebel allen Neuerungen und Entdeckungen vorauszugehen pflegen! Wer würde auch die Gefahr aufsuchen, wenn ihm nicht eine andere im Nacken sässe?
Aber es muss nicht immer ein Leiden sein! Oft ist es nur etwas Eigenes, Feineres, Zarteres, Süsseres, Göttlicheres, was jene fühlen, und für das sie nun vielleicht die künstlerische Form vorfinden. Aber selbst wenn es das 29 Edelste ist, das sich in ihnen hervorwagt, und wofür jene Dichter und Künstler die Formel gefunden haben. selbst dann wird dieses Edelste von der Mitwelt noch als ihr Verderben, ihre Sünde wider das Herkommen aufgefasst werden.
Mehr! Man achte nur, was in moralischer Beziehung den Kunstneuerern und ihren Vorgängern vorgeworfen wird. Nicht die Verbrechen allein gegen die bestehenden sozialen und religiösen Anschauungen und Gefühle. Es ist immer noch ein zweites, etwas, das nicht als Verbrechen gestempelt werden kann, weil niemand Wahrheit und Existenz des Dargestellten leugnen darf und meist thatsächlich auch gar nicht leugnet. Aber, es ist – und hier führen namentlich die Frauen das grosse Wort – es ist eine Schamlosigkeit, dergleichen ans Licht zu zerren. Und es ist auch eine Verletzung ihrer Scham. Wenn vordem diese Empfindung schon keine vereinzelte mehr war, war man doch gewohnt, sich dergleichen nur in tiefster Einsamkeit zu gestehen, wenn man es sich überhaupt schon eingestanden hat!
Psychologen und Erotikern von Tiefe und Eigenart bleibt dieser Vorwurf nicht leicht erspart. Ihn hat man gegen Rousseau und Byron, Goethe und Heine gerade so heftig erhoben wie gegen die modernsten Naturalisten.
Wehe dem Satiriker in einer angefaulten Zeit! Man wird ihn um so unversöhnlicher hassen, je wahrer sein Bild ist! Natürlich! Denn gerade, was die Zeit anfaulen liess, war ja die Unfähigkeit, der Natur in's Gesicht zu schauen, sie naiv und natürlich zu nehmen, überhaupt der Mangel an Offenheit an sich und seiner Natur. Es ist ja immer ein Stück Natur, das erst schamhaft hervorbricht und lüstern sich geltend macht und vor allem im Dunklen wirkt. In allen 30 jugendlichen Zeiten der Völker haben die natürlichen Verrichtungen und Leidenschaften etwas Oeffentliches. Man schämt sich seiner Natur noch nicht. Selbst das Geschlechtsleben hat verhältnissmässig noch etwas Oeffentliches; denn gerade mit seinem Geschlechtsleben gehört man ja am intimsten seinem Volke an.Ganz zu geschweigen von etlichen wilden Völkerschaften, bei denen noch der Gattungsact öffentlich geschieht und den Zeiten, in welchen die Jungfrauen noch zu gewissen Festen öffentlich preisgegeben werden; gerade in der Jugend heiligt jedes Volk die Geschlechtlichkeit als Natursymbol. Man denke nur an die Phallorien in Aegypten und Griechenland, an denen sich auch Frauen beteiligten. Heute würde schon eine zarte Umschreibung dieses Naturcults in Gegenwart von Frauen als »höchst anstössig« gelten. Je individueller, geistiger, gebildeter aber der Mensch ist, um so mehr empfindet er seine Natur als etwas Fremdes, Unheiliges, Störendes, und um so mehr isoliert er sich mit ihr. Es giebt schliesslich so ästhetische Wesen, namentlich unter den jungen Mädchen, dass sie sich am Ende vor fremden Blicken nicht mehr zu essen oder zu gehen getrauen. Man isst sich z. B. zu Haus recht satt, um sich in Gesellschaft durch keinerlei Appetit zu compromittieren. Ein spanischer Dichter hatte einmal die schönen Beine seiner Königin besungen; aber der Hofmarschall belehrte ihn kurz und bündig: »Königinnen haben keine Beine«, worüber die junge Königin (eine Ausländerin noch dazu) auf das heftigste erschrack und zu weinen begann; denn sie fasste das so auf: jetzt, da sie Königin sei, müssten ihr die Beine abgeschnitten werden!
Ja, hohe Damen haben offiziell keine Beine, keine Schenkel und keine Hüften.« Sie sind eben ganz ästhetisch geworden. Sie zeigen sich am liebsten im Brustbilde, wie einmal Frau von Staël von sich sagte.
Wie sich gewisse Menschen, besonders junge Mädchen, nicht nackend sehen können, so gestehen sie sich auch nicht gern ihre tiefsten Seelenregungen ein; und zwar, je moderner, 31 kühner, verhängnisvoller, gefährlicher oder krankhafter, um so weniger, d. h. sie mögen sich auch seelisch nicht gern nackt vorstellen. Es geht thatsächlich wider ihre Scham. Dass sie im Geheimen oft einen um so ausschweifenderen Cult mit sich selber treiben, spricht nicht gerade gegen diese Thatsache. Es ist im letzten Grunde nur ein Mangel an Mut oder Verstand, der sie zu dieser Isolierung zwingt. Und sie sollten es ertragen können, dass vor allen Leuten, auf offenem Markte, in Büchern, auf der Bühne von solchen Dingen geredet wird!
Und weiter! Das Weib, das seine Liebe gerechtfertigt weiss, ist stolz auf seine Kinder, also auf etwas, das doch immer an seine geheimsten Freuden erinnert. Anders die Frau, auf welche die Sonne des Gesetzes und des Herkommens nicht scheint. Sie findet schliesslich, gleich der griechischen Leto keinen Ort mehr, auf dem sie einsam genug wäre, zu gebären. Sie geniesst selbst ihre Kinder nur noch im Geheimen, als wären es die unlautersten, verbotensten Freuden! Nirgends ist der Kindesmord so häufig als in überzivilisierten Zeiten. Und was mag wol das häufigste Motiv des Kindesmordes sein? Viele meinen: die Not. Ich aber glaube: die Scham. Es giebt nichts, das diese That erklären könnte, es sei denn der Hass gegen den Vater.
Und wie viel häufiger ist Kindesmord und Fruchtabtreibung im Geiste! Wie viel Gedanken bleiben unausgesprochen, wie viel Thaten ungeschehen, wie viel Werke ungeschaffen, weil Schamhaftigkeit sie zurücktreibt, weil zu dem Wagnis der Mut fehlt, mit diesen Gedanken, Thaten, Werken vor die Oeffentlichkeit zu treten! Weil man noch nicht ahnt, dass alle diese Dinge doch einmal an die Oeffentlichkeit müssen, bloss weil der geistige Vorgang nach Herkommen und Gesetz noch nicht gestattet ist!
Und jetzt finden wir diese unsere geheimsten, uneingestandesten, schamhaftest zurückgetretenen, uns selbst nicht erlaubten Gedanken oder Gefühle von andern ausgesprochen. Wie? Wir selbst haben uns den Luxus nicht gestattet, und 32 ein anderer sollte es dürfen? Wir hatten Schamgefühl genug, zu erröten und zu schweigen, und Andere sollten sich dessen rühmen oder daran ergötzen dürfen? Wir hatten nicht den Mut, uns selbst dies zu sagen, und Anderen sollte es erlaubt sein, uns dies zu sagen? Pfui, über diese Schamlosigkeit! Anathema sit!
Ob dies Heuchelei ist? O gewiss! Aber dieses eine Wort drückt den ganzen Inhalt jenes Vorgangs nicht aus. Es ist jedenfalls nicht immer bewusste Heuchelei: Wer wird Anderen gestatten, was er sich selber nicht gestattet! Es ist Ketzerei! Gestehen wir es uns nur ein: Alle Neuerer und Wahrsager sind Ketzer und müssen erstickt werden in der heimlichen Glut unserer versteckten Leidenschaften!
Um das psychologische Problem, auf das ich hier anspiele, recht zu verstehen, muss man Litteratur-, Kunst- und Kulturgeschichte in ihrem Werden studieren. Man muss die Natur, die Kunst und Geschichte gleichsam in den heimlichen Nächten des Zeugens und Empfindens, ihrer Schwangerschaft und ihrer Geburten belauschen. Man muss das Kind noch im Mutterleibe, man muss das Werdende und Ungeborene verfolgen.
Aber es genügt nicht, dass man Professor der Litteraturgeschichte ist und tausend alte Schmöker studiert hat. Man muss ein Psycholog sein und sich auf tausend Kunststückchen verstehen, z. B. die Kunst des Tauchers, tief hineinzufahren in den Schoos des Meeres und doch die Helligkeit der Augen zu behalten, um zu schauen, »was die Götter gnädig bedecken mit Nacht und Grauen«. Und nur ein Taucher weiss, was dort geschieht, auf dem Grunde des Meeres. Denn was er heraufholt an das Tageslicht, und was er uns erzählt, das 33 ist ja gar nicht mehr dasselbe, als das, was er in der That gesehen hat. Letzteres, sofern er nicht ein grosser Künstler ist; ersteres niemals. Denn das Licht hat eine umgestaltende Kraft. Gesetzt, die Tiere und Wesen am Meeresgrund hätten menschliche Empfindungen, sie würden schon sterben vor Scham, wenn man sie an's Licht brächte. Ihnen ist das Wasser, was dem Menschen die Kleidung ist, was die gesellschaftliche Convention bedeutet.
Tief im Wasser schämt man sich der Sonne. Wir Menschen aber, die Litteraturhistoriker nicht ausgeschlossen, kennen nur das Leben am Tage. Wir verstehen und lassen nur gelten, was von der Sonne der Sitte und Gesellschaft beschienen ist. Wir kennen nicht das unterirdische Leben der Kunst und Cultur. Uns fehlt es schon an dem echten und rechten Tauchermut zu dieser Kenntnis.
Hätten wir diese Kenntnis, dann wüssten wir auch, dass weder die Scham, noch die Schamlosigkeit das Oberrecht in der Kunst haben kann. Denn in jedem gegebenen Zeitalter kommt es auf eine Ueberwindung der Scham an; und wehe dem Zeitalter, das keine Scham mehr zu überwinden hat! Denn dies ist das Zeitalter der künstlerischen Unfruchtbarkeit, in dem nichts mehr gezeugt und nichts mehr geboren werden kann, in dem nichts mehr an die Oberfläche kommen will.
Man weiss nicht, wo die Heuchelei grösser ist: auf Seiten des Publikums, das sich gegen jede neue und weitere Enthüllung des Leibes oder der Seele empört, oder auf Seiten der litterarischen Schreihälse, die keine Scham mehr zu überwinden brauchten.
Denn jeder wahre grosse Künstler, der einen Fortschritt bedeutet, d. h. in dem irgend etwas Neues ans Licht drängt, alle grossen Ideen- und Gefühlsgebärer, haben sie ja selbst gekannt, die Scham und geheime Furcht, das Grausen und Entzücken vor ihren eigenen Werken. Wie? Wo der Künstler vor seiner eigenen Entblössung Grauen und Scham empfindet, da sollte er das Recht haben, jeden Andern einen Heuchler 34 zu nennen, dem er ähnliche Empfindungen erregt? Vielleicht liegt hier sogar ein Massstab für die Grösse und Neuheit von Empfindungen und Gedanken, wie weit ein Künstler, Dichter oder Philosoph noch Scham bei seinem Jahrhundert erregt.
Das 19. Jahrhundert ist z. B. für die deutsche Litteratur ein rechtes Unterweltsjahrhundert. Das 18. Jahrhundert ist mit Goethe in den Zenith getreten. Was nachfolgt, ist der deutschen Litteratur Nachmittag, Abend, Dämmerung. Jean Paul z. B. bedeutet das Nachmittagsschläfchen, das die deutsche Litteratur sich gönnte. Man nennt dies Alles mit einem Namen: das Epigonen-Zeitalter.
Mit Kleist kündigt sich eine neue Zeit an, schwerfällig und dunkel, aber siegesgewiss. An ihm ist Alles unterirdisch. Man hat ein volles Halb-Jahrhundert gebraucht, um ihn zu ahnen. Begriffen hat man ihn heut noch kaum. Und schlimmer steht es fast noch mit Grabbe, Hebbel, Büchner, Ludwig, über denen noch die volle Nacht oder das volle nächtige Morgen-Grauen brütet. Welcher Seelen-Taucher will in dieses gefahrvolle Meer tauchen? Welches wird der Tag sein, der dieser Nacht folgt? Kommt der Morgen bald? Hat er sich bereits angekündigt in Otto Ludwig, auf dessen Welt doch schon der erste Morgenschein des dämmernden Tags gefallen?
Versteht man nun vielleicht das Fragezeichen, das am Ende von so vielen modernen Dichtungen steht? Ist es nicht, als sähen sich die Dichter selber fragend um in dieser neuen, kaum noch erkannten Welt? Wie sollten sie verstehen, was 35 noch nie ein Dichter verstanden? Wie soll man den Tag verstehen, ehe es Abend wird? Ja, eh' noch die Morgenröte selber am Himmel sichtbar geworden ist?
»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« schliesst Hebbels bekanntestes Drama. Hebbel hat noch ein paar andere Aussprüche gethan, die hier von Wichtigkeit sind:
»Mir träumte«, heisst es in einem Fragment, »Ein Leiden unserer Zeit«, »mir träumte, ich wäre der erste Mensch, eben in die Welt gesetzt, wie in ein Hochzeitsgemach, ich hatte keine Ahnung von Vorher und Nachher, ich war der einzige bewusste Punkt im Umkreis der Schöpfung«. Und weiter: »Ich schloss mich zusammen, wie sich oft unwillkürlich meine Hand schliesst,Von Meister Anton heisst es ganz ähnlich: Er mögte am liebsten seine Faust zumachen und hineinkriechen. es war wie ein Zurückwachsen in den Kern! . . . Die Sonne schien auf meine Augen, aber ich öffnete sie nicht. Ein lindes Wehen trieb Ströme von Düften an mir vorbei, aber ich sog sie nicht ein; Thautropfen voll lieblicher Kraft netzten meine Lippen, aber ich presste meine Zähne auf einander und versperrte ihnen das Thor meines Mundes. Und das Alles geschah nicht aus Trotz, nicht aus bangem Vorgefühl irgend einer Zukunft, es geschah in süssester Wollust, es war wie das Sträuben eines Kindes, das die Mutter auf seine eigenen Füsse stellen will, und das sich an ihren Hals hängt, so dass sie es wieder aufnehmen und der Brust nah, auf ihren Armen tragen muss. Als ich erwachte, da kam das Licht mir recht feindselig vor«. (Werke II).
Hebbel hat bekanntlich auch die Tragödie der verletzten SchamhaftigkeitVgl. über dieses Thema das zweite Kapitel des Verfassers vom »Sexuellem Problem«, das vom Problem der verletzten Schamhaftigkeit handelt. 4. Aufl. Berlin 1891. geschrieben in »Gyges und sein Ring«. Nicht zu verwundern, wenn seine aus der Dunkelheit aufsteigende Brunhild diese eben skizzierte Empfindung völlig teilt und also spricht: 36
»Ich kann mich nicht an so viel Licht gewöhnen,
Es thut mir weh, mir ist, als ging ich nackt,
Als wäre kein Gewand hier dicht genug!« –
(Siegfrieds Tod. II 6).
Und ganz ähnlich muss Ibsen empfunden haben, denn er lässt einmal eine seiner Personen, den Skalden Jatgeir in den »Kronprätendenten« sagen: »Ich habe eine schamhafte Seele«. Und ein ander Mal ganz direct auf unser Thema: »Ja, Herr; kein Lied wird bei hellem Taglicht geboren«. (IV. S. 143).
Nicht allen Dichtern ist diese Empfindung so bewusst gewesen. Aber die Thatsachen sind doch überall dieselben und ähnliche.
Man gebe nur einmal Acht auf diese Wühl- und Bergmannsarbeit dieser Art von Dichtern. Alle ihre Gestalten haben das Licht noch nicht gesehen oder als feindselig empfunden. Was man ihnen z. B. so oft als Affektiertheit vorgeworfen, was man als Schwäche der Technik angegriffen, oder vollends als Kunst gepriesen hat, ist hierauf zurückzuführen. Wie viel Wesens machen nicht oft die Helden der Kleist, Hebbel, Ibsen, Bjoernson u. a., um die allereinfachsten Dinge der Welt auszudrücken. Und darüber lächeln wir dann und dünken uns sehr gescheidt, wenn wir Abendkinder von Gestern oder Vor-Vorgestern uns im harmlosen Spiele gewandter auszudrücken vermögen, als so berühmte Dichter und Propheten in der wichtigsten, drängendsten Sache. Wir wissen eben nicht, dass allen Morgenkindern die stockende Zunge eigen ist. Und darum weiss und kennt solch ein Kind auch so viele Dinge nicht, die jeder Schulknabe doch weiss und kennt. Es bittet mit Hebbels Brunhild:
»Ich bitt Euch Alle, nehmt mich für ein Kind,
Ich werde schneller wachsen, wie ein Andres,«
Doch bin ich jetzt nicht mehr«. –
So sucht z. B. der Kammerherr in Ibsens »Bund der Jugend« einmal lange Zeit nach einem Worte, das ihm auf 37 die Seele drückt, und endlich ruft der »schweigsame Herr« seinem Widersacher noch auf der Schwelle das Wort nach: »Wühler!« In der That, ein schwieriges Wort! Aber, »wir tappen im Dunklen« muss dass Geschöpf eines Dichter-Bergmanns gestehen. Nun, tief unter der Erde, wo sich auf unsere Lungen so dicke Dünste legen, dass uns der Athem beklommen wird, da sollte uns das Wort nicht stocken?
Oder, nehmen wir Bjoernsons »Neues System«, in welchem die liebliche Karen etwas hat, das sie drückt, aber das sie nicht sagen kann, bis sich schliesslich ihre innere Beklommenheit in ein krampfhaftes Schluchzen auflöst.
»Die Worte wollen, wie verschlafene Kinder, mir nicht ans Licht!« heisst es einmal in Kleist's Jugendtragödie »Die Familie Schroffenstein«.
Wer das Dämmern des vergangenen Tages besser versteht als des kommenden, der prüfe auf diese Charaktereigenthümlichkeit einmal Lessing oder die Stürmer und Dränger ganz besonders. Klinger, bei dem sich jedes der Worte erst immer herauswürgen muss, der nicht sagen kann: »es gewittert«, ohne uns vorher ganze Gewitter vorzustöhnen! Ihrer Aller Sprache hat etwas Rollendes, Grollendes, Dumpfes, Unheimliches, Unterirdisches.
Will man dieses Schauspiel unterirdischer Dichterthätigkeit in seiner grausigsten Form studieren, dann muss man den Dänen Sören Kierkegaard lesen, der sich in tiefster Nacht, nur beim dünnen Scheine seines Intellects, gleichsam die eigene Seele aufgeschnitten und hineingeleuchtet hat. Er hat vielleicht noch deutlicher, wie Hebbel, die Gefahren des Individualismus erkannt und gerade deshalb ihn um so tapferer gefordert. »Ueber einer Tiefe von 70,000 Faden, viele, viele Meilen von aller menschlichen Hilfe froh sein – ja, das ist gross. Auf dem Lande zu schwimmen, in Gesellschaft mit Watenden, ist nicht das Religiöse«. («Stadien auf dem Lebenswege« S. 476). – 38
Lichtscheu also wäre die Muse des 19. Jahrhunderts? Gewiss! So wie jede heraufgekommene Kunst! Sie ist des Lichts noch so wenig gewöhnt. Und die Sonne, die ihre hellsten Strahlen auf ihre Feinde, ihre tötlichsten Widersacher, nämlich ihre Vorgänger, fallen lässt, ist sie nicht in der That ihre Feindin? Ist nicht Alles, was sich im Lichte sonnt, ihr feindselig? Ist sie denn nicht wirklich im Unrecht? Alles was da schön ist und holdselig und geachtet, das muss sie vernichten, sie weiss es! Auf Grund welches Befugnisses? Wer ist sie? Ein Nichts! Ein Noch-Nichts! Wird sie etwas werden? Sie hofft es, sie glaubt es, sie weiss es. Aber, wer weiss es, ausser ihr? Kann sie sich rechtfertigen? Kann sie ihr Recht beweisen? Sie rühmt sich dess. Wo sind die Beweise? Haben sie denn Geltung in dieser Welt, in dieser Oberwelt? Werden diese Beweise nicht gegen sie benutzt? Was gilt nun? Sie ist also verfehmt? Die Sonne ist ja doch ihre Feindin? Wer hat ihr dies gesagt? Sie sich selber! Es hat sie ja noch niemand gekannt?! Sie weiss sich verfolgt. Sie muss ja verfolgt werden! Sie trägt das Verderben in sich, und sie sollte nicht verfolgt werden?!
Begreift Ihr nun vielleicht den Entrüstungsschrei, den Ingrimm der modernen Poeten? Wer hat ihnen nur ein Leides gethan? Niemand, als sie sich selber! Aber eben das wissen sie nicht, und deshalb toben sie in blinder Wut.
Einige haben das begriffen, und diese ihre Verblendung tragisch dargestellt. Aber man hat sie ausgelacht und von »Schicksals-Dramen« gesprochen, von »peinlicher Zufallswirkung«!
Was Wunder auch! Noch hat kein Hahn nach ihnen gekräht, und schon schreien sie Rache! Eben das war die tötliche Beleidigung! Warum habt ihr sie nicht getötet? 39 Sie hätten es euch verziehen! Aber sie gar nicht achten, sie verachten, sie gar bemitleiden, sie, die euren Olymp zu stürzen heraufgekommen sind, diese Beleidigung vergeben sie euch in Ewigkeit nicht! Jetzt wissen sie sich im Unrecht, jetzt haben sie Unrecht, weil Ihr nicht in Wahrheit ihre Feinde geworden seid; und dies – ist Euer beider Verderben!
Jetzt versteht man vielleicht den tragischen Moment in dem Verzweiflungsruf zum Schluss von Otto Ludwig's »Erbförster«: Ich habe Unrecht? Oder König Skule's schicksalsreiche Frage (in Ibsen's »Kronprätendenten«): Ist es eine Sünde, einen schönen Gedanken zu töten? Nämlich Gedanken, die die Sonne, die das Glück beschienen hat! Oder Julian's Kampf gegen den neuen Gott? Oder des alten Odoardo That zum Schluss? Ist sie euch noch Feigheit? Misstrauen gegen sein eigen Kind? Und noch dazu ein so tugendsames Jungfräulein! Ist dies wirklich nicht mehr rein? Oder ist es vielleicht nur eine allgemeine Titaniden-Eigenthümlichkeit, den Zeus zu fürchten, den Olympiern zu misstrauen? Sollte der Titanide nicht an der Schwelle zum Olymp noch lieber umkehren, wenn er sieht, dass, einen Schritt nur hinein, und mit seiner Titanenkraft ist es vorbei?! Ist der Olymp nicht ein Verführer? Ist die Schönheit nicht eine Zauberin? Liegt in ihrem Auge nicht verderbliche Kraft? Soll der rohe Gesell es wagen, in dies täppische Auge zu blicken? Kehrt er da nicht lieber um und stürzt sich in schwindelnde Tiefen? Flieht er ein Kind nicht, wenn's zur Familie der Olympier gehört? z. B. den kleinen Amor? Hat dieser Bengel nicht schon in tausend Fällen ein tragisches Schicksal heraufbeschworen, weil er Titanen mit Olympierinnen zusammenzukoppeln versuchte? O dieser Erzkuppler! 40
Und wenn man das Alles begriffen hat, dann versteht man auch den geheimsten Sinn der grossen Verblendungs-Tragödien unseres Jahrhunderts; z. B. H. v. Kleist's, dessen gesammte Werke eine einzige Verblendung waren! Der umnebelte Blick ein tragisches Motiv! Wie kleinlich! Nicht wahr! Die grosse Thorheit war ja das Tragische an diesen Dichtern, dass sie allesammt das Leben zu ernst nahmen! Und das Leben will gar nicht ernst genommen sein, just wie das Weib! Sie ahnten gar nicht, wie gemütlich man es sich hier einrichten kann. Sie wussten freilich nicht, was man sich Alles gestatten darf, und dass man doch dabei ein braver Kerl sein kann! »Lasst mich, Ihr Unmenschen mit Eurer Menschlichkeit!«, stöhnten sie dann vielleicht. Und was thuts? Sie wussten es eben nicht, diese plumpen Titanen, dass Humanität, das »rein Menschliche« eben den modernen Olymp bedeute!
Und sie waren auch gar nicht »rein menschlich«! Etwa mehr? Wer weiss!
Vielleicht sind wir hier gar dem Wesen des Tragischen selbst auf der Spur. Die Thatsachen sprechen wenigstens nicht dagegen. Zwei der berühmtesten Tragödien der Weltlitteratur, des Sophocles »Oedipus« und »Ajax«, waren Verblendungstragödien. Auch Schillers »Fiesco« und »die Braut von Messina« sind ebenso Verblendungstragödien. Auch »Othello« und »König Lear«, und ebenso »Timon« sind es dergleichen. Es sind Alles die im Kampf mit dem Olymp geblendeten Titanen. War nicht auch des Brutus Kampf ein Aufstand wider einen Olympier (Cäsar)? Und ist es nicht der Geist Cäsar's, der ihn tötet? Gehen auch nicht hier schon Gespenster um? Ist es nicht das Milieu, nachdem schon hier ein Drama benannt ist? Denn nicht Julius Cäsar, der schon 41 im dritten Act fällt und so wenig zu thun hat in der Tragödie, ist der Held, sondern der Cäsar, der Repräsentant des Cäsarenthums.
Gerade das, was man so vielen Tragikern zum Vorwurf macht, ihre pathologische Belastung, gerade das prädestiniert sie zum Tragiker. Belastet sein von Schuld oder Natur, d. h. mit oder wider Wissen, das könnte beinahe die Definition des tragischen Charakters abgeben. Wenn dies nicht in jedem einzelnen Falle so offenbar erkenntlich ist, so liegt das meist daran, dass ein tragischer Charakter, z. B. ein Oedipus, der nächst Prometheus vielleicht tragischeste aller dramatischen Charaktere der alten Welt, von einem untragischen Dichter behandelt ist. Der verschleierte Blick, die schwere Hand, die ewig Felsblöcke hinaufzuwälzen oder bei Seite zu schleudern scheint, das gerade gehört zur eigentlichsten Charakteristik des tragischen Künstlers. Denn wo ist tragische Schuld, wenn sie hier nicht ist? Der tragische Künstler steht eben so naturgemäss unter seinem Stoff, d. h. belastet von der Schwere seiner Natur, als der Humorist über beiden. Freiheit in der Bewegung und ein weltversöhntes Gemüt sind diejenigen zwei Dinge, die man vernünftigerweise zu allerletzt vom tragischen Dichter wird erwarten dürfen, und die nur eine schwächliche und blasierte Zeit immer und ewig von ihm wird fordern können.
Wenn man von Richard Wagner's Musikdrama absieht, dann ist Deutschlands grösster Tragiker einstweilen noch H. v. Kleist. Der Tragiker des 18. Jahrhunderts aber ist Lessing. Von Schiller lässt sich nur sagen, was von den Stürmern und Drängern gesagt werden muss: Er hatte die Kraft zum grossen tragischen Dichter. Aber er hätte niemals Weimar betreten sollen! Er ist der Verräter unter den 42 Tragikern, der Titan, der sich in den Olymp hat aufnehmen lassen, oder um modern-politisch zu reden: der Proletarier, der sich zum Bourgeois herausgebildet hat. Der Olymp muss für den Tragiker, wie die Akademie für den Philosophen ewig eine terra incognita bleiben. Nach »Kabale und Liebe« hat Schiller keinen tragischen Helden mehr gehabt, bis er sich in der »Braut von Messina« und im »Demetrius« seines Berufes wieder erinnerte. Aber der Zauber hatte schon seine Wirkung gethan. Der Hauch seines tragischen Schwanengesanges erstarb ihm in der entkräfteten Kehle, und der ist ein Torso geblieben in der deutschen Litteratur, ein wahrhaft tragischer Torso, der wie Kleist's »Robert Guiscard« nicht durch einen Zufall unvollendet blieb, sondern durch ein Verhängnis, durch Schuld, durch Schicksal. Durch dieselbe Schuld, durch dasselbe Verhängnis, dasselbe Schicksal, dem der Hamlet als tragische Person, dem die Penthesilea, der Brutus, dem der Prometheus zum Opfer fiel. – –
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Die Vorsichtigeren unter den minierenden und wühlenden Dichtern, z. B. ein Lessing oder Ibsen, behalten sich auch in allen grossen Fragen eine vornehme Reserve vor! Man sieht sie nur leise, bei jedem Schritte, den sie vorwärts dringen, mit dem Finger an die Wand klopfen und aufmerksam lauschen, ob dort eine Gold-Ader liegt oder irgend ein Leben rinnt. Das Fragen ist ihr Amt, besser das Tappen, Forschen, Suchen.Man hat sich hier des Lessing'schen Ausspruchs zu erinnern, durch welchen er mit Leidenschaft das Recht des Suchens nach der Wahrheit für sich proklamiert; – ein Ausspruch, der natürlich keinen absoluten Wert beanspruchen darf, – denn schliesslich sucht man nicht um des Suchens, sondern um des Findens willen – der aber mit Bezug auf Lessing's Stellung zur Entwicklung eine ganze neue Interpretation erfährt. – –
Nicht ohne besondere Absicht ist hier Ibsen mit Lessing in Parallele gebracht, mit dem er allein verglichen werden darf, wenn man ihn denn einmal mit Dichtern älterer Generation vergleichen will! Nur, dass sie nicht einmal wissen, was 43 sie suchen! Sie ahnen nur, dass es etwas Wunderbares sein muss! Auf das Wunderbare wartet Nora. Was ist das Wunderbare? Ist es die Liebe? Ist es Seelengrösse? Ist es das Glück? Es ist vielleicht von Alledem etwas? Aber irgend eine neue Art von Liebe, Glück und Seelengrösse, etwas, für das sie noch gar keinen Namen weiss und daher nur als das »Wunderbare« bezeichnet, das süsse Unbekannte, das geheimnisvolle X. Es ist irgend ein Licht, irgend eine neue Sonne, von denen unterirdische Geschöpfe träumen, kurz ein Wunderbares, das die Nora's, das die Ellida's suchen, auf das sie warten als auf eine neue Offenbarung.
Eines der interessantesten Probleme in der modernen Kunst und Gesellschaft ist das Problem der Wartenden, vielleicht ein weibliches, ein feministisches Problem; – der Gegensatz zum positiv, productiv, männlichen Problem, das in den früheren Capiteln besprochen wurde, dem Prometheus-Problem, dem Cardinal-Problem aller Tragödien. Man scheint beständig etwas zu suchen, das man verloren hat, während man es doch noch gar nicht besessen hat. Man will entfliehen, irgend wohin, weit weg von dieser Gesellschaft, die man vielleicht beschuldigt, das Verlorene geraubt zu haben; und man weiss nicht, dass das Gesuchte erst kommen soll, dass es ein Erwartetes ist. Man erwartet das Wunderbare, seine Liebe, seine Sonne, sein Glück und – dies ist vielleicht das tragische Verhängnis – sieht irgend ein Irrlicht für seine Sonne an. Aber man weiss es nur nicht, dass man eben nur ein Wartender ist, und dass, sofern man warten kann, auch Trost, Heilung und Glück in der Welt ist. »In allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wie fern sie warten, noch weniger, dass sie umsonst warten. . . . 44 Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die ›Erlaubnis‹ zum Handeln giebt – dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie mancher fand, eben, als er aufsprang, mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! »Es ist zu spät,« sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz . . . Das Genie ist vielleicht nicht so selten; aber die fünfhundert Hände, die es nötig hat, um den Kairos – »die rechte Zeit« – zu tyrannisieren, um den Zufall am Schopf zu fassen! (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. St. 274).
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Das Bewusstsein davon, dass gerade unsere Zeit eine Periode neuer Wertschaffungen, im ethischen wie im ästhetischen Gebiete ist, kann man schon an einer Titelfolge moderner Werke erkennen, aus denen die Ahnung eines »kommenden Reichs«, zweier sich scheidender Geschlechter, spricht.
Ich lasse hier, wegen des eklatanten Augenscheins, eine Reihe der bekanntesten, aber zufällig herausgegriffenen, und nach Belieben zu vermehrenden Namen folgen:
»Vater und Söhne« (Turgenjew), »Gespenster« (Ibsen), »Gift« (Kielland), »Staub« (Bjoernson), »Dunst« (Turgenjew), »Sumpf« (Julius Hart), »Fallobst« (Heinz Tovote), »Am Vorabend«(Turgenjew), »Götzendämmerung« (Fr. Nietzsche), »Fin de siècle« (H. Bahr), »Das verlorene Paradies« (Fulda) »Sodoms Ende« (Sudermann) »Macht der Finsternis« (Tolstoi), »Vor Sonnenaufgang« (Gerhardt Hauptmann), »Morgenröte«, (Nietzsche), »Sturm« (Mackey), »Germinal« (Emile Zola), »Weltpfingsten« (Heinrich Hart), »Neuland« (Turgenjew), »Neue Menschen« (Bahr), u. s. w. in infinitum.
Nicht nur Zahlen, auch Namen beweisen. 45
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