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Der Naturalismus der Form.
Wir stehen hier nun bereits mitten drin in der dritten Frage: über die formale Bedeutung der modernen Kunst. Im Allgemeinen gilt auch hier, was vom Stoff, den Ideen, über das innere Leben der Werke festgestellt wurde. Auch hier heisst die Loosung: Annäherung an die Natur.
Wenn gewöhnlich gegen Formeln und Gesetze in der Kunst angekämpft wird, so geschieht dies meist mit der Begründung: sie seien unnötig! Man kann dasselbe erreichen, auch ohne diese Gesetze als unverbrüchlich zu halten. Nichts 113 kann aber thörichter sein, als diese Vorstellung! Wenn ich ohne Einhaltung eines Gesetzes dasselbe erreichen kann als mit demselben, dann habe ich die Verpflichtung, das Gesetz einzuhalten. Denn je schwerer ich mir eine Aufgabe mache, um so grösser ist der Reiz der Ueberwindung, um so zuversichtlicher werde ich, wenn ich meinen Geist einmal geschult habe, dasselbe Experiment wiederholen können, um so feiner und trefflicher muss mir die Ausführung gelingen. Die Gefahr in der Kunst wie im Leben ist, etwas zu leicht zu nehmen. Was mir keine Schwierigkeiten mehr macht, das werde ich nicht mehr üben. Wo nicht eiserne Gesetze herrschen, dort werden freilich keine grossen Verbrecher möglich sein, aber auch keine grossen Tugenden.
Auch hier handelt es sich wieder um ganz positive neue Formen. Ich breche das Gesetz – aber auch nur dieses – das mich hindert, den vollkommeneren Typus Mensch oder Künstler darzustellen. Der Tänzer, dessen Kunst darin besteht, sich im schwindelnden Kreise herumzudrehen, muss dies auf einem Teller oder gar nicht thun. Der Künstler, wenn er zugleich ein Meister in der Technik sein will, darf sich nicht die kleinste Freiheit nehmen, die ihm nicht unbedingt seine Kunst abnötigt! So sehe ich z. B. keinen einzigen Grund dafür, weshalb in neunhundertneunundneunzig von tausend Dramen der Ort in jedem Akt ein paar mal gewechselt sein muss, was ja bei unseren Bühneneinrichtungen die Komposition des Ganzen jedesmal brutal zerreisst! Dieselbe Kraft, die den Dichter zwingt, seinen Stoff in ein Drama von fünf Akten zu zwängen, sollte ihn auch zwingen können, seinen Stoff so zu verteilen, dass mindestens in einem Akte die Einheit des Ortes könnte gewahrt werden! Wie sehr diese uralten, viel verspotteten und viel bekämpften Kunstgesetze mit der dramatischen Wirkung zusammenhängen, dafür spricht auch der Umstand, dass die modernsten Dramatiker zu ihnen wieder zurückkehren, dass selbst Romanziers durch die Einhaltung der Einheit des Ortes ganz imposante Wirkungen erzielen. Nur hat man neuerdings einen anderen 114 Kunstausdruck dafür. Man nennt sie das »Milieu«. Und nimmt man hinzu, dass der Begriff »Entwicklung« für die Kunst, mindestens aber für das Drama gar keinen Sinn hat (er gehört in die Geschichte!), dass sich die Fabel des Dramas nicht historisch oder naturwissenschaftlich entwickelt, sondern aus dem Konflikt herausgewickelt wird: so kommt auch die Einheit der Zeit wieder zu ihrem Recht. Denn was sich herausgewickelt hat, muss sich aus einem Moment entwickeln, ihn also zum Mittelpunkte haben! Könnten die Dramen der Antike – man muss sich das nur vorstellen! – könnten von den Modernen Hebbels »Marie Magdalena«, Ibsens Dramen, besonders die »Gespenster«, die Dramen von Hauptmann, Holz, Schlaf (»Friedensfest«, »Familie Selicke« u. s. w.) auch nur entfernt so in Herz und Nieren packen, wenn nicht durch diese einheitliche, verdichtete Komposition!
Wenn bei Shakespeare und Kleist diese Gesetze scheinbar nicht beachtet sind, so hat das seinen Grund teils in ihren Stoffen, teils in ihren Bühneneinrichtungen, teils in den gigantischen Handlungen; wenn ein Riese zwei Schritte macht, so befindet er sich ja noch immer an demselben Ort, ob auch zwischen seinen Beinen für den Zwerg ganze Ewigkeiten liegen! Das Streben. ihre dramatische Handlungen in einzelne Knoten zusammenzuziehen, ist auch bei jenen so mächtig, dass ganze Dramen für einzelne Scenen disponiert zu sein scheinen, die sich dann oft über einen einzigen Akt hinerstrecken. Bei H. v. Kleist ist diese technische Kraft besonders bewundernswert; gleich einem grossen Taktiker weiss er alle seine dramatischen Truppen auf einen einzigen Punkt hin zu conzentrieren, um hier jählings und mit gewaltiger Wucht eine dramatische Hauptschlacht zu liefern. (Man studiere daraufhin die Komposition der »Herrmannschlacht«!)
Diese Anmerkung wird nicht unwichtig erscheinen in einem Zeitalter, in der die Anarchie in der Litteratur längst erklärt ist. Die Regel und das Gesetz hat noch kein wahres Genie gehindert sich zu entfalten und wenn's sein muss, dieses Gesetz und diese Regel zu durchbrechen. Es ist schon 115 notwendig, damit es durchbrochen werden kann! Und gerade das mittelmässige Talent kann ohne dasselbe nicht auskommen. Man höre doch, wer sich am ehesten von Gesetz und Kegel emanzipiert! Wie es in der moralischen Welt besonders die Spitzbuben sind, die von allen Freiheiten den grössten Nutzen haben, so profitieren hier am meisten die Dilettanten von jeder Gesetzlosigkeit. Sie produzieren jetzt nur noch schrankenloser und wüster darauf los und bedeuten eine weit grössere Gefahr für das wahre Talent, das jetzt vielmehr leidet als unter den härtesten Gesetzen.
Wer hat heute in Deutschland noch ein Ohr für Feinheiten des Stils, der Technik und Form, überhaupt den Zauber des einzelnen Worts? Und was ist jede Form weiter als ein leibhaft gewordenes Gesetz? Ja, was ist jedes Wort anders, als eine Schranke des Geistes? Und wie geflissentlich noch bei uns von unseren lieben Sprachreinigern auf eine Verlotterung und Versimpelung des Stils hingearbeitet wird! Welch' einen stumpfen, dumpfen, ängstlichen, griesgrämlichen Klang hat die Sprache gerade dieser Zionswächter des Deutschtums! Wir verstopfen uns die Ohren und wollen lieber taub sein, als dass ein Laut von jenseits des Rheins in unsere keuschen Ohren dringe! Wir träumen so süss und möchten es so gern auf ewig vergessen, dass auch Deutschland noch in Europa liegt!
Und schliesslich fällt auch auf das Formale der Kunst, auf die Formfrage selbst ein ganz neues Licht, wenn wir beachten, dass häufig gerade von seiten der Formverletzer die höhere Wirkung ausgeht, gerade hier die grössere Zucht herrscht. Es ist wahrhaftig nicht Bequemlichkeit der modernen Dichter, wenn sie sich vom Verse emanzipieren! Mit welch' tieferem Ernste wird heute von den Prosaikern gearbeitet! Das feinere Ohr, die grössere Kunst ist bei ihnen. 116 Die hervorragendsten modernen Dichtungen sind jedenfalls nicht in Versen geschrieben. Auch heute gilt noch, und, wie es scheint, mit verstärktem Recht das Wort Heines, dass in schönen Versen schon allzuviel gelogen worden sei und die Wahrheit sich scheue, in metrischem Gewande zu erscheinen.
Das zeugt freilich weder für noch gegen den Vers, sowie die sogenannte Einheitslosigkeit der Shakespeare'schen Dramen nichts gegen die Einheiten selbst bewiesen hat. Man hat nur beobachtet, dass Einer ein grosser Dramatiker sein kann, und doch von diesen Einheiten – scheinbar wenigstens – nichts zu wissen braucht. So ist auch heute nichts weiter bewiesen, als dass einer ein grosser Künstler, Dichter und Sprach-Virtuos sein kann und doch nicht einen einzigen Vers gemacht zu haben braucht. Aber in unserer Zeit, die, litterarisch genommen, eine grosse Zeit der Abrechnung ist, muss der Dichter der Sprache des gewöhnlichen Lebens lauschen – nicht, weil sie sein Evangelium ist und weil die Gemeinheit und das Philisterium einen Triumph feiern soll in der Kunst, wie allgemein geglaubt wird, – sondern weil er den Feind nicht anders als mit seinen eigenen Waffen schlagen kann – und diese Sprache ist dem Verse unzugänglich!
Vor allem aber, weil er aus der Umgangssprache Nutzen ziehen will. Er will die Kunst anfüllen mit tausend Realitäten, die vorher nicht für die Kunst vorhanden waren, und er darf auch vor der anscheinend prosaischen Bezeichnung dieser Realitäten nicht zurückschrecken. –
Für und wider die Prosa ist schon so unendlich viel beigebracht worden, dass man auch hier nicht weiter kommt, wenn man nicht die ganze Frage auf ein anderes, freieres Feld hinüberspielt.
Man hat gegen die Prosa als realistisches Darstellungsmittel eingewandt, dass ja das Leben rhythmisch dahin flute, dass im Rollen der Lokomotive, dass im Dengeln der Sense ein Rhythmus rausche, dass aber die Prosa die abgezogene (abstrakte) nachträgliche Denkform sei. 117
Wer nun aber die Prosa unserer grossen Naturalisten (Zola's z. B.) kennt, der weiss, dass dies auch von den Naturalisten gewusst wird. Was wollen sie denn anders, als dem modernen Leben, dem Treiben der Kessel in den Maschinen, der Menschen in den Strassen den Rhythmus des Modernen zu schaffen.
Das aber ist nicht der Rhythmus der Homerischen oder Mozartischen Welt. Wie das Dichten und Thun unserer modernen Dichter nur darauf ausgeht, den modernen Menschen zu suchen, das moderne Leben zu belauschen, – so suchen sie auch seinen Rhythmus zu verstehen und nachzuschaffen. Es ist noch Prosa, es ist noch Chaos! Aber weshalb noch einmal die untergegangene Welt im Traume auferstehen lassen, noch einmal das Chaos erleben wollen? Warum immer die Sehnsucht nach dem Vorleben dieser verschütteten Welten! –
Und noch eins: Ist die Prosa wirklich immer prosaisch? Ist sie prosaischer als der Vers, weil sie komplizierter, zusammengesetzter ist? Ist, was dem prähistorischen Menschen ein ungeheueres Complexum von Vorstellungen war, auch den modernen Menschen ein gleich Mannigfaltiges? Der Rhythmus des Verses ist einfacher, die Prosa mit ihrem durchgebildeten Satzgefühl setzt ein feineres Unterscheidungsvermögen, das Umfassen grösserer Vorstellungsgebiete und Gedankenreihen voraus. Aber umfasst dergleichen der Verstand eines modernen Menschen nicht? Nimmt er nicht mehr und nicht Grösseres auf einmal in sein Bewusstsein auf als der prähistorische Mensch im Vergleich zum Tiere? Ist das Reich seiner Vorstellungen nicht mächtiger, mannigfaltiger geordnet, beziehungsreicher? Wir handeln vielleicht noch ebenso rhythmisch als die Vorzeit, aber wir denken nicht mehr in den kleinen, kurzen, ohnmächtigen Rhythmen derselben. Für unseren Geist ist zuweilen eine ganze Satzperiode fast nichts Grösseres, Schwierigeres, als jener Zeit ein Versfuss, ein Daktylus, ein Trochäus. 118
Nicht die Freiheit, sondern die Befreiung ist das Prinzip der Kunst. Jedes höhere Glied oder Organ in der Darstellung oder in dem Dargestellten erhält erst seine höchste Bedeutung, wenn es die geistig consequente und naturwissenschaftlich richtige Entwicklung darstellt; nicht, dass sie ihm schlechtweg zukäme! So ist z. B der menschliche Arm auch künstlerisch ein höheres und würdigeres Objekt als etwa ein Flügelpaar, den Schultern angeheftet, das so lange eine höhere Freiheit, die Freiheit sich über diese Erde hinwegzuschwingen, nicht bedeutet, so lange sich der Mensch nicht auch selbst bis zu dieser Fähigkeit hindurchgerungen hat. So lange bedeutet es eben nur die Freiheit, ist Symbol der Freiheit, und eigentlich auch das nicht einmal, sondern erst Symbol eines Wunsches. Nicht Aufhebung, sondern Ueberwindung des starren Gesetzes ist die Aufgabe des menschlichen Intellectes.
Es ist ein Naturalismus der Form, d. h. ein Fortschritt im Sinne der Natur, wenn der griechische Künstler plötzlich die Statue ausschreitend und mit bewegten Armen darstellt, weil eine also gebildete Statue dem Leben ungleich näher kommt.
Wie viel Kunstregeln mussten wohl über den Haufen geworfen, aber auch wie viel neue aufgestellt werden, damit dieser Fortschritt in der plastischen Kunst möglich war!
Welchen Fortschritt kann aber der Dichter bezwecken, wenn er heute die Vers-Form und so viele andere wichtige Forderungen der Technik unbeachtet lässt, z. B. die Gesetze der Handlung verletzt (Zola) oder vollends gar keine Handlung mehr bieten zu müssen glaubt (z. B. Tolstoi in »Luzern«).
Was wollen sie? Soll die Willkür proklamiert werden? Hat das Witzwort Recht, das einen Dichter auf die Frage, was er schreibe, antworten lässt: Was es gerade wird? Aber die Willkür herrscht überall nur auf Seiten der Idealisten, 119 – auch der Real-Idealisten! Der Idealismus befreit von jedem Lebensernst und jedem Kunstzwang. Er feiert die Feste, wie sie fallen!
Aber es handelt sich auch heute nur in letzter Linie wieder darum, die Fähigkeit zu erlangen, das menschliche Seelenleben in allen seinen Schwingungen, mit seinen modernen Differenzierungen, Entartungen, Raffinements, überhaupt den ganzen Thatbeständen einer modernen Psyche schärfer, tiefer, feiner, sicherer darzustellen. Nur dass die älteren Naturalisten oft unendlich einseitig verfahren, auch oft viel zu plump zugreifen, überhaupt die menschliche Psyche viel zu feindselig belagern und oft heimtückisch umlauern, zu sehr von aussen her an sie herantreten und nicht bedenken, dass sie ihnen, während der Leib unter dem Messer des Analytikers blutet, immer zwischen den Fingern durch entschlüpft!
Aber wenn ihnen die Psyche schon selbst davonfliegt, schon die genaue Kenntnis ihres Leibes erweist sich für die künstlerische Form von hohem Nutzen. Mit dieser Kenntnis braucht der Dichter nur einmal in seine eigene Brust hineinzugreifen, und er wird uns ein Stück Seelenleben enthüllen, das uns schaudern machen und entzücken wird, dessen Anblick uns auf einmal auf Jahrhunderte hinaus weiterbringen muss.
Ist aber ein Dichter, wie Dostojewsky, der als Psycholog und überhaupt an reicher Innerlichkeit nicht seines Gleichen hat, formlos, er darf, ja er muss es sogar sein! Für diesen Inhalt eben giebt es noch gar keine Form, für das, was er in den Gründen der menschlichen Seele gesehen hat, giebt es noch keine Bezeichnung! Er hat plötzlich einen gewaltigen Schacht der menschlichen Seele gesprengt, und er sollte schon die Mittel haben, das seltsame Gestein an's Tageslicht zu bringen?
Er stürmte nur hinein und stimmte ein wildes Schreien an vor Schrecken und Erstaunen und überlässt es füglich Andern, die nötigen Anbauten zu machen!
Man muss sich das Bild dieses Gruben-Arbeiters vergegenwärtigen! Wie gebrochen taumelt er mit seinem Oberkörper 120 voran, bleich und übermüdet, gleichwie von unüberwindlichem Schauer geschüttelt, ein ewiger Epileptiker. Sein Blick krank und dämonisch, man weiss nicht ob um Mitleid bittend, ob vergewaltigend, ein echtes Bild der gequälten Menschheit der modernen Welt, wie nur Christus eines der alten war.
Viele glaubten das Leben der Seele zu kennen. Aber er hat sie in seinen Fieberträumen belauscht, in ihren krankhaftesten Träumen und Ausschweifungen.
Man begegnet oftmals bei Romanschriftstellern der Phrase: »Was hier auf vielen Seiten geschildert ist, trug sich in Wirklichkeit in einer einzigen Minute zu . . . war das Werk weniger Sekunden . . . durchflog in einem Augenblick seine Seele.«
Dies blieb eine Phrase, weil es bisher kaum Einer wusste, geschweige denn darzustellen vermochte, was Alles in einer Minute durch eines Menschen Seele gehen kann, weil noch Niemand die Kraft hatte, dieses Leben einer einzigen Minute, all' diese unbewussten Empfindungen und wirren Gedanken, die ein Mensch in einem einzigen Augenblicke haben kann, darzustellen. Diese Hast eines Kranken oder Gefolterten, zu denken, empfinden, sprechen, diese Wüstheit der Handlungen, wer hätte sie sich bisher selbst gestanden? Wer also hätte sie wiedergeben können?
Hier in dem heissen Seelenklima Dostojewsky's, wo Alles im Fieber-Tempo sich rasend fortbewegt, hier in der brodelnden Siede-Temperatur war es allein möglich.
Ich will dies durch ein Beispiel illustrieren. Im vierten Bande von Gottfried Keller's »Grünem Heinrich« wird durch viele Seiten hindurch das Traumbild des Helden erzählt, das doch, hervorgerufen durch den Hufschlag des Pferdes eines patrouillierenden Wächters, alles in allem in Wirklichkeit auch nicht mehr Zeit gebraucht hat, als der Hufschlag selbst. Diese ganze sehr poetische Darstellung ist aber durchaus 121 unrealistisch. Denn ob wir gleich Alle schon dergleichen im Traume einmal erlebt haben, wir können uns doch gleichwohl nur schlecht oder gar keine Vorstellung davon machen, dass z. B. das in aller Gemütsruhe geführte Gespräch mit dem Phantasie-Pferde nicht länger als nur einen flüchtigen Moment gedauert haben sollte. Der Fehler kommt daher, dass, was im Traume doch nur geschaut ist (selbst das Gespräch ist mehr geschaut als gehört und gesprochen) dass das nun hier als ein wirkliches Gespräch dargestellt wird; dass Alles, was im Traume im Fluge durch unsere Seele fliegt, hier mit aller Gemächlichkeit ausgemalt und vorgeführt wird, dass Alles so fest, so gedrungen, so gegenständlich ist, was doch nur flüchtig und körperlos war. Käm's auf die Gegenständlichkeit und Anschaulichkeit allein und immer nur darauf an, wie unsere plumpen Real-Idealisten sich einbilden, dann wär' an solchen Bildern nichts auszusetzen. Aber was seelische Vorgänge, Träume, Gedanken, Selbstgespräche erst wahr macht, das ist das Tempo der Darstellung, der Sinn für das Unreale, Flüchtige, Vorbeiziehende, Unbegrenzte, Unvorstellbare, Namenlose in der Seele. Wer weiss denn, was Alles an Gefühlen, Gedanken wahr oder unwahr ist, ja was in dem Wirbel der Vorstellungen und Empfindungen oben oder unten ist, wenn das Oben und Unten in einem einzigen Momente durcheinander gewirbelt werden kann! Was wir allein erraten können, das ist das Tempo des Lebens, mit dem dieser Wirbel erfolgt, den Siede-Grad in dem Gedanken- oder Empfindungskessel unserer Seele; was als feste Substanz am Boden zurückbleibt und was als Dampf davon zieht. Und solange nicht Grad und Tempo dieser Vorgänge selbst in die Darstellung übergeht, solange bleibt sie poetisch unwahr, wenigstens ist sie nicht naturalistisch. Das macht eben Shakespeare so naturwahr, dass seine Darstellungen der Liebe, der Eifersucht, der Leidenschaft eben nicht richtig beobachtet, auch nicht gegenständlich real, oder was sonst sind; sondern von der Sache selber Ton, Farbe und Temperatur haben. Wer da erst beobachten und gegenständlich machen 122 muss, der wird wohl noch manches Richtige und Zutreffende zeichnen können, aber die Seele selber ist entflohen, die Flamme ist erloschen. Es werden nur noch bestenfalls die richtigen Proportionen herauskommen!
Diesen Künstler-Instinkt für Grad und Tempo der Leidenschaften hat vielleicht Niemand seit Shakespeare in so hohem Grade besessen als Dostojewsky.
Man lasse sich durch unsere Gesundheits-Apostel unter den Kritikern nicht irre machen, dass Dostojewsky in Wahrheit ein kranker und gebrochener Mensch gewesen ist. Aber welcher Gesunde weiss etwas von seinem Leibe? Die Krankheit vergeistigt am Ende jedes Glied. Und der seelisch Kranke? Nun er sieht und weiss und versteht sich auf Dinge, von denen kein wohlgepflegter Philosoph etwas erfahren wird!
Oder waren, noch einmal gefragt, unsere grössten Dichter gesund (mit Ausnahme des alten Goethe vielleicht!)? Sollte es mit dem Kains-Stempel doch etwas auf sich haben?
Man lebt nicht umsonst jenseits der Vernunft! Man kann vielleicht ein Riese sein. Aber auch die Riesenkraft zeugt nicht von Gesundheit; sie ist immer schon ein Beweis von irgend einer Erkrankung oder Not in uns! Man spannt nicht umsonst seine Kräfte so riesenmässig an!
Er hat seine Gefahren, dieser Sprung – mitten in die Natur hinein! 123