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Wir stecken noch tief drin in der Romantik, wir Modernen, Neutöner und Neuerer! Mit der Kunst, die aber eben sich aus der romantischen Welt herauszuschwingen versucht.
Alle die kleinen Dichterlinge der aufgeklärten Zeit waren schon lange fertig mit ihr. Nur die Grossen, die wie immer auch diesmal nicht so ganz aufgeklärt waren oder es doch so fix nicht werden konnten, sie hatten und haben noch mächtig zu ringen und sind doch die Romantik so eigentlich nie recht los geworden. Sie spukt in den Werken der Neuen und Neuesten, bald als Gespenst, bald als Leichnam, und wieder als Sehnsucht und als Traum, und als Allegorie, als weisse Rosse und als Spukgestalten aller Art treibt sie noch ganz ihr Wesen in den Köpfen der Naturalisten und der Symbolisten, der Ibsen und Zola, der Bleibtreu und Bahr, so wie anderer Décadents, wie dereinst in den romantischen Zeiten der Heine und Tieck. Aber was diesen nur Spiel und teilweise sogar nur Spott war, das ist für die neueren Romantiker, für die letzten und extremsten Ausläufer der Romantik, die genannten Dichter und ihre Geistes-Verwandten, leibhaftige Wirklichkeit und furchtbarer Ernst geworden. Und hier hatten Spiel und Scherz nun ihr Ende erreicht. Alles Romantische wird hier thatsächlich, realistisch, fatalistisch. Mit den Gespenstern hat das seine Richtigkeit. Sie sind sogar so frech, was Lessing noch nicht wusste und ausdrücklich bestritten hatte, am helllichten 140 Tage, bei versammeltem Volke, zu erscheinen. Sie saugen den Leuten das Mark aus den Knochen und verwirren dem Künstler und Priester die Sinne, die Gespenster der alten sowohl wie der neuen Zeit. Und so ward denn der Kampf gegen alle Art von Gespenstern proclamiert, in Kunst und Leben. »Was fällt, das soll man auch noch stossen! Alles das von Heute, das fällt, das verfällt!« ruft auch der Philosoph in den Streit hinein. Man proklamierte den Realismus, um die Romantik los zu werden. Man wollte die Taghelle der Gegenwart, um das Volk der Gespenster zu verscheuchen. Man fürchtete die Nacht und den Traum und Alles, was dunkel ist; denn man war krank, und dem Kranken sind die schlaflosen Nächte die grösste Plage. Man vermied vor allen Dingen die Vergangenheit und die Geschichte, sofern sie Vergangenes erwecken will. Denn »wir leiden Alle an der Vergangenheit!«
Wir stehen noch tief drin in der Romantik, wir Modernen, wir Neutöner und Neuerer der Kunst!
Tiefer als unsere Kunst, die sich doch schon herauszuringen begonnen hat, steckt unsere moderne Aesthetik in der Romantik. Dieselben Schlagwörter, die zu Beginn des Jahrhunderts überall umherschwirrten und die Köpfe verwirrten, ertönen auch heute noch wieder aus den meisten Streitschriften der alten wie der neuen Schule. Teils will man Dinge, die mit der eigenen Auffassung der Kunst in den positiven Werken im schroffsten Widerspruch stehen, teils knüpft man ohne Weiteres und ohne es selbst zu wissen, an die Vergangenheit an. Und so kommt denn die ganz reizend komische Erscheinung, dass die ältesten Theoreme heut als die Ausgeburten der entartetsten Geister verschrieen werden. Und dann kommen die litterarischen Pfiffikusse und verkündigen hochmütig von ihren zu erlangenden und schon längst erträumten Lehrstühlen 141 irgend einer leer gewordenen Professur für Litteraturgeschichte urbi et orbi, dass die Neuesten doch eigentlich das älteste Zeug wollten, was sie, die Professoren in spe, sich längst an den Schuh-Sohlen abgelaufen haben! Etwa so: Was wollt ihr Realisten? Lebenswahrheit und Objectivität? Gut! Das wollen wir auch! Da habt ihr euren Goethe! Der war objectiv und lebenswahr! Die Natur ist euch heilig? Ist Einer unter Euch, der sagen könnte, er wäre Naturgläubiger als Goethe oder von Neueren Gottfried Keller? Was macht ihr doch für einen Höllenlärm? Alle Eure Ideale sind längst erfüllt! Der Goethe, der hat Euch doch alles Beste vorweg genommen! Kommt zu mir in's Colleg, ich will Euch ein Privatissimum über Goethe lesen! Auch wird sich, wenn Ihr vernünftig seid, erweisen, dass wir völlig eins sind. Versöhnen wir uns also, gründen wir eine ideal-realistische-opti-pessimistische Zeitschrift!
Doch die Sache ist zum Spass zu ernst. Sofern die moderne Kritik und Aesthetik nicht gegen bestimmte Tendenzen der älteren Kunst, sondern gegen die Tendenz selbst auftritt, steht sie theoretisch mit der älteren Aesthetik, die seit hundert Jahren in Deutschland die Herrschaft führt, auf einem Boden. Das Streben nach höchster Naturwahrheit ist durch die Realisten und Naturalisten oder Impressionisten in der That nicht in die Welt gekommen! Was pries und preist man denn seit einem Saeculum bei uns, speciell an Shakespeare, als die »höchste Naturwahrheit«, die Objectivität des Weltbildes. Goethe las in seinen Werken »wie in dem aufgeschlagenen Buch des Schicksals selber«. Das ist nicht mehr die Darstellung von Leidenschaften, das ist die Sache selbst. So und gerade so reden die Liebhaber, die Ehrgeizigen, so, gerade so handeln die Shylocks, die Timons, die Othellos, 142 und so, just so benehmen sich ihre guten Nachbarn gegen sie. Das ist ja der Refrain aller Shakespeare-Commentare!
Das Zurücktreten hinter dem Bilde, das Schaffen, wie Gott schafft, oder wie man später in einer aufgeklärteren Zeit sagte, »wie die Natur schafft« (das wissen, anbei bemerkt, unsere Aesthetiker, die ja Alles wissen, auch ganz genau, wie Gott, oder wie die Natur schafft!), – das Zurücktreten jeder Subjektivität, kurz dasjenige Schaffen, das Einen den Schöpfer über dem Geschöpfe vergessen lasse, was ja der verliebte und mithin für objektive Kunst-Urteile auch ganz gestimmte Prinz in der »Emilia Galotti« vor vier Menschenaltern bereits so lebhaft an Conti's Werk pries, und was die verschrobenene Luise Miller ihm später nachgeschwatzt hat, – – eben das preist man, nur mit anderen, wissenschaftlicheren Worten, und das schätzt man, mit anderen modernen Werten, auch heute wieder in und an der Kunst.
Wie die Romantiker zu dieser Schönheits- und Kunst-Theorie kamen, ist oben schon angedeutet worden; eben weil sie Romantiker waren, als Zuschauer des Lebens und der Kunst, weil sie keine Schaffenden und Künstler, sondern rückwärts gewandte Propheten waren!
Wie aber die Neueren zu dieser Art von Kunst-Theorie gekommen sind, die doch in offenbarem Widerspruch zu allen ihren Productionen steht, das dürfte nicht so leicht zu sagen sein und ist eine eigene Geschichte, die ich aber hier nicht erzählen will. –
Wer die Geschichte der Kritik und Theorie in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zu schreiben hat, der wird vor allem die Thatsache zu respectieren haben, dass das grösste und schwerste Stück kritischer Arbeit in den modernen Romanen und Dramen niedergelegt ist. Aber dies ist nicht das natürliche. Gewöhnlich geht die Kritik der Kunst, wie 143 der Aerger und die Unzufriedenheit der That voraus, und hinkt ihr nicht nach, wie man sich im Allgemeinen einbildet.
Am Ende übt jedes Product, schon durch sein bloses Erscheinen eine Kritik an der gesammten vorausgegangenen Kunst. Allein eine solche bewusste kritische Thätigkeit, wie sie heute in den poetischen Werken geübt wird, (und zwar kunstkritische, wie gesellschaftskritische Thätigkeit), ist beispiellos in der Literaturgeschichte, und hat ein Analogon höchstens in der französischen Litteratur des vorletzten Jahrhunderts. – Und damit hängt es sicherlich zusammen, dass die kritischen Werke selber weitaus nicht die Bedeutung haben, die jenen Producten selbst zukommt.
Ich rede nicht von Deutschland. Bei uns bilden die theoretischen Opuscula das traurigste Kapitel der zeitgenössischen Litteratur. Und zwar giebt hier keine Richtung der anderen etwas nach. Aber auch in Frankreich, überall, arbeitet man an der Entselbstung der Kunst in der Theorie tapfer darauf los. Was man in der Praxis mit vollem Bewusstsein und gutem Rechte negativ thut, soll in der Theorie positive Geltung haben. Das ist wohl der markanteste Selbstwiderspruch der französischen Naturalisten!
Die Heuchelei ist ganz eklatant! Man zeigt seinem Leser ein Messer und beweist, dass es der Natur ganz getreu nachgezeichnet sei; was man aber nicht sagt, das ist, dass man ein Messer auch gebrauchen kann. Aber man gebraucht es; ehe sich das Publikum, das sich, um es zu betrachten, über dasselbe gebeugt hat, noch recht versieht, hat man ihm die Kehle schon mitten durchgeschnitten!
Für meine Behauptung, dass die moderne naturalistische Dichtung die Wandlung der Poesie zur entschlossenen Tendenz, eine Abwehr von der bisherigen ästhetischen Formel bedeutet – der Thatsache zum Trotz, dass ihre Schöpfer selbst 144 vorgeben, eine tendenzlose Kunst zu üben – für diese Behauptung stütze ich mich auf ein paar Momente, die freilich nicht auf der Oberfläche liegen. Aber was bedeutet denn, im Grunde genommen, der Realismus, wenn nicht ein Eingreifen in's Leben? Ist denn ein Künstler noch Realist, wenn er in interesseloser Objektivität über dem Leben schwebt?
Aber ich habe noch ein greifbareres Argument. Will man sehen, wogegen eine Kunst Opposition macht, so muss man ein Auge haben für das, was sie mit ihrem Odium belegt, was in ihr schlecht wegkommt. In der moralischen, religiösen Poesie sind es die Untugenden des Menschen, in einer aufgeklärten, durchgeistigten: Dummheit, Heuchelei; alle Art menschlicher Bevormundung; und in der heutigen? Oder kennt die heutige kein Odium? Gibt's nichts, das da gegeisselt wurde? Werden Wert-Urteile wirklich nicht mehr gefällt?
Ich glaube vielmehr, nichts lässt sich sicherer erkennen. Ueber das, was eine neue Kunst Neues will, lässt sich stets viel streiten; häufig genug kann man es gar nicht wissen, häufig genug will sie auch gar nicht etwas bestimmtes Neues! Jedenfalls herrscht heute über nichts ein wilderer Streit, als über die Gegend, wo das Neuland der Poesie liegt. Sie schreien nur Alle, dass es ein Neuland der Poesie gibt, dass es ein's geben muss. Dagegen über das Nichtgewollte, Weggewünschte, zu Tode gegeisselte, herrscht seitens der Schaffenden beinahe Uebereinstimmung.
Was ist es! Welches ist das Land, von dem man heute so entschlossen, mit so wildem Grimme fortrudert, zunächst, um nur wegzukommen, und eher gewillt unterzugehen, als hierher zurückzukehren?
Welches ist dies Land? Ist es nicht gerade das Land des ästhetisch Schönen, Reinen, Interesselosen? Man achte nur einmal darauf: Wer bildet in beinahe allen modernen Werken den negativen Pol? Ist es nicht gerade der oder das Aesthetische? Der Interesselose, der unthätige Genüssling, der gerade, weil er nur geniesst und nicht schafft und 145 nicht wertet, jedes Objekt seines Genusses entwertet, oder, um mit H. v. Kleist zu sprechen, »tief entwürdigt«. So schon bei diesem, so bei Hebbel, bei Ludwig, bei Ibsen, bei Bjoernson, bei Dostojewsky, so überhaupt bei den Russen, bei den Norwegern, bei den Deutschen und schliesslich auch bei Zola und den Franzosen, wenn auch hier nicht immer so erkenntlich.
Ibsen speziell hat diese Spezies Menschen ganz besonders mit seiner Satire bedacht und im »Peer Gynt« beinahe vollständig gezeichnet. Er hatte freilich einen genialen Vorgänger in dem Verfasser von »Entweder-Oder«, der bereits in einer Zeit, als die alte Aesthetik noch vollständig herrschte, das Würdelose und Nichtswürdige eines ästhetischen Genuss-Menschen gegeisselt hat.
Nach der einen Seite ist allerdings diese Stimmung gegen das Aesthetische, Schöne, Abgeklärte und zur Ruhe gekommene eine allgemein tragische Stimmung, der Hass gigantischer Emporkömmlinge gegen die siegreiche Lichtherrschaft der Olympier, das tragische Sentiment, wie ich es oben gezeichnet habe.
Allein dies ist nur die eine Seite der Erscheinung. Das spezifisch Moderne an derselben ist die Tendenz gegen die Tendenzlosigkeit, wie sie die ältere Aesthetik gelehrt hat, die von einer Tendenz der Tendenzlosigkeit sprach, – die Negation einer Negation. –
Was ist ein ästhetischer Mensch? Streng genommen der äusserste Gegenpol des Naturalisten, speziell des tragisch gestimmten Menschen. Dieser, der selbst ein Stück Natur ist, nimmt die Kunst als Leben, geniesst sie jedenfalls als ein Lebendiges und begnügt sich auf keinen Fall mit dem bloss interesselosen Schauen, während der ästhetische Mensch, 146 wie oben gezeigt ist, selbst noch das Leben als Kunst betrachtet und ohne lebendiges Interesse anschaut.
»Ich liebe die kleinen Mädchen, besonders wenn sie hübsch gekleidet gehen«, sagt solch ein negativer Held in einem modernen Schauspiel, »ich geniesse das, wie ein Gemälde«. »Es scheint mir denn doch«, antwortet ihm verletzt die Heldin, »dass diese Ihre Liebe nicht aus dem Herzen kommt.« –
Ein entschlossener Realist hingegen würde sagen: ich geniesse selbst das Gemälde nicht einmal als ein Gemälde, ich erlebe es, ich liebe es, ich nehme es in mich auf, oder auch umgekehrt: ich hasse es u. s. w.; jedenfalls aber: ich habe ein persönliches Verhältnis zu ihm. So sprach sich Goethe über Kunstwerke als über persönliche Erlebnisse aus, und so jeder ehrliche Künstler und Dichter von entschiedener Individualität, der da weiss, dass ein starkes und lebendiges Gefühl niemals kompromittieren und dass mithin der lebendige Mensch auch niemals die Verpflichtung zur Objektivität auf sich nehmen kann. Das Alles überlässt man den Gelehrten, den Leichenbittern der Realität. –
Von hier aus lässt sich auch eine andere Thatsache erklären. Wenn ein Volk, eine Klasse, die ihren Ausdruck in einer abgeschlossenen Kunst-Epoche gefunden hat, in der Décadence steht, dann pflegt das neue Volk, das neue Geschlecht mit seinem Hass gegen jene auch einen ganz allgemeinen Kunst-Abscheu zu verraten, der bald völlig in wüste Bilderstürmerei und Verketzerung aller Kunst ausartet (z. B. als unsittlich bei den ältesten Christen; oder als unökonomisch bei den heutigen Sozialdemokraten u. s. f.). Man zerstört damit dem verhassten Vorgänger, dem scheinbar so Bevorrechtigten und Glücklichen seinen Himmel selbst; man entwertet seine Ideale.
Und bei dieser Gelegenheit zeigt es sich denn jedesmal, dass diese Barbaren und Kunstzerstörer einen weit höheren Begriff von der Macht der Kunst haben als selbst deren Verehrer. Die christlichen Bilderstürmer wussten nur 147 zu wohl, dass, so lange noch die geweihten Gestalten griechisch-römischer Plastik unversehrt ständen, so lange kann auch der Glaube an die alten Götter noch nicht aus seinen letzten Schlupfwinkeln aufgescheucht sein. Man kennt, ahnt oder fühlt die Macht, Wirkung, das verführerische Leben der Kunst nur zu gut, besser jedenfalls als ihre stillen, interesselosen Anbeter. Man empfindet die Tendenz dieser Kunst, und diese Tendenz ist gegen sein eigenstes Lebensprinzip; sie droht mit ihren weichen, schmeichlerischen Armen das neue rauhe Leben zu ersticken. Und deshalb tötet man sie, die Kunst – aus Furcht vor ihrer Tendenz.
Tendenz? Was ist Tendenz? Was versteht man nicht Alles unter Tendenz? Macht die leitende Idee eine Dichtung zur Tendenz-Dichtung? Oder sind es die Zwecke, die ein Künstler mit seinem Werke verfolgt, welche es zu einem Tendenz-Stücke machen?
Bald ist es die Idee, bald ist es der Zweck, bald wieder die mathematische Beweisform (die Thesenstücke der Franzosen, Echegaray's etc.) und dann die programmmässige Komposition (Faust, Brand, die göttliche Komödie u. a.); bald wieder die Rhetorik, die Beredsamkeit und Ueberredsamkeit des Künstlers. Alle diese Dinge gelten als unkünstlerisch; denn die Dichtung soll nichts beweisen, sie soll keine Zwecke verfolgen und auch selbst nicht als Zweck dienen. Die Kunst soll nicht auf den Willen wirken und keine Idee die Komposition beeinflussen. Sie sei realistisch!
Vielleicht lassen sich alle diese Forderungen, resp. Negationen von Forderungen aber dennoch auf ein Grund-Prinzip zurückführen? Liegt denn nicht eine gewisse Folgerichtigkeit in diesen Theoremen? 148
Vielleicht!
Der Kampf um die Tendenz ist im letzten Grunde ein Kampf um die Einheitlichkeit der Poesie!
Seit mehr als einem Jahrhundert werden in Deutschland und dann auch im übrigen Europa Einheiten bekämpft. Der Glaube über all' diese Einheiten ist so fest in unserer modernen Aesthetik begründet, dass man gegen ihn kaum aufzustehen sich erdreistet. Und gleichwohl haben die Dichter, und keineswegs die schwächsten, diese Einheit in ihren Werken hergestellt und gerade hierdurch ganz gewaltige Wirkungen ausgeübt. Darauf ist oben schon hingewiesen. Und gerade, weil dies so ohne Sang und Klang geschah, ist um so sorgfältiger darauf zu achten. Zuweilen aber haben trotzige Poeten, wie Byron, in seiner Vorrede zum Sardanapal auf dieses ihr Thun einen ganz besonderen Accent gelegt. Am Ehesten gestand man noch die negativen Absichten, dass es der aus Rand und Band gekommenen Kunst wieder Fesseln anzulegen gilt. Zola nennt es, die Phantasie wieder auf die Wirklichkeit lenken. – Seltsam! Während sonst die Jungen um allerhand Freiheiten kämpfen und die Alten Sitten und Gesetz wahren müssen (so gestaltete sich der Sieg vor hundert Jahren), – heute ist es gerade umgekehrt. Die Jugend legt sich Fesseln an und wird enthaltsam, während das Alter leichtsinnig schwelgt und für möglichst viele Ungebundenheiten schwärmt. Diese Jugend muss es freilich nötig haben, sich Fesseln anzulegen. Aber wess ist die Schuld? –
Einheit des Ortes? Wozu? Was kann sich denn Alles an einem Ort begeben? Einheit der Zeit? Wie absurd! Gut Ding will Weile haben! Lassen wir den Dingen Zeit sich zu entwickeln, so wird Alles natürlicher, vernünftiger, realistischer.
Viel weiter ging man in praxi im vorigen Jahrhundert noch nicht. Jetzt aber hat man mittlerweile die Consequenzen 149 daraus gezogen. Wozu auch Einheit der Handlung? Wozu schliesslich überhaupt Handlung? Einheit der Charaktere, Einheit der Ideen? Wozu das nur Alles, wozu?!
Zunächst hat man aber (in praxi wie in der Theorie) doch immer nur bewiesen, dass man auch ohne diese Einheiten auskommen könne! Und nicht, dass man ohne diese Einheiten besser auskomme! Man bekämpfte die falsch verstandenen Einheiten und hielt sich doch selbst nur erst wieder in der Negative wider Falsches!
Und wenn nun alle diese Einheiten gefallen sind, wenn das Alles nur Vorurteile und Kurzsichtigkeiten älterer Dichter und Aesthetiker waren: dann stehen wir jetzt, consequent, wieder vor der Frage: Was ist ein Kunstwerk?
Die Folge war, dass man auf der einen Seite alle Lyrik auf Stimmungs-Lyrik verwies, dass man den Roman auf die Moment-Schilderung hinausspielte und alle Kunst in Fetzen zerriss. Keine Einheit, aber möglichst viele Einheiten! Mit anderen Worten: Zersplitterung der Kunst, Auflösung, Niedergang.
Mögen auch alle bisherigen Forderungen im Einzelnen fallen gelassen werden, so gehen doch alle auf in die eine: Einheit des Interesses. Und aus ihr lassen sich doch wieder alle Consequenzen eines einheitlichen Kunstschaffens herleiten: vor Allem Einheit des Plans und Einheit der Absicht; d. h. ein Willenszentrum, um das sich alles Uebrige (Charakter, Handlung, Idee u. s. w.) wie um eine Ur-Zelle architektonisch herumlagert.
Und der Kunst ist, wie von Alters her, eine Tendenz aufgeprägt; und wenn ich die moderne Kunst recht verstehe, noch kräftiger, noch handgreiflicher! Wenn immer auch der Femininismus in der modernen Kunst, der Wille zum ewig Weiblichen jeden anderen Willen auch brechen oder doch abstumpfen möchte! Wenn immer auch, wie in der modernen Gesellschaft so auch in der Kunst, die Tendenz zunächst gegen Alles, was männlich und Charakter ist, 150 gegen alle Energie und Zweck- und Vernunftmässigkeit sich richtet! Aber noch wird einstweilen dieser Kampf vom Manne selbst gekämpft, – und noch nie hat das Weib das letzte Wort in der Geschichte behalten, so oft es dasselbe auch in der Gesellschaft behalten muss.
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