Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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XXXII.

Wann hat ein Künstler seine Zeit? d. h. wann kommt der Zeitpunkt, und es ist nur ein Zeitpunkt, da er als Totalität verstanden und empfunden wird? Oder veraltet ein »wahres«, »echtes«, »grosses« Kunstwerk nie? Naht nie die Zeit, dass es uns leer vorkommt? Ist wirklich die Nachwelt gerechter und verständiger als die Zeitgenossen des Künstlers? Aber das sind thörichte Vorstellungen, denn man weiss nicht, was alles zusammen kommen muss, damit man einen Künstler verstehen kann und dass diese Thatsache vielleicht eine ebenso grosse Seltenheit ist, als das Kunstwerk selbst. Und das geschieht nur in dem Augenblicke, in welchem die Kultur-Verhältnisse so noch im Grossen und Ganzen dieselben sind und man gelernt hat, diese Kultur mit den Augen des Künstlers anzuschauen, wenn man einsehen gelernt hat, dass diese Kultur eine schöne und notwendige ist, wenn man selbst noch für diese Kultur disponirt ist, aber sie um so leidenschaftlicher liebt, als man bereits Grund zur Furcht hat, sie könnte keine ewige Kultur sein. In solch einem Augenblick siegt und geniesst in uns beim Genusse eines Kunstwerks gleichsam unsere ganze Vergangenheit mit. Ich denke mir, dass z. B. Homer niemals, weder vorher noch nachher, so schön und wohlthätig in seiner Totalität empfunden wurde, als von den gebildeten Hellenen der Peisistratiden-Zeit, als noch die Instinkte des alten Volkes ungebrochen und noch einmal in ihrer ganzen Kraft zum Ausdruck kamen. – So, glaub' ich, wird Shakespeare nie mehr das Verständnis und die Verehrung finden, als in unserem Jahrhundert, speziell in der ersten Hälfte desselben! So viel die Poeten auch späterhin geliebt und gefeiert werden, es ist doch Erinnerungs-Feier (Gedächtnis-Fest), unfruchtbare Liebe. Es ist nicht die Sieges-Feier, das Jubel-Jahr, in welchem das Werk plötzlich zur wahrhaftigen Thatsache 63 geworden ist! Was war uns bis heute so sehr Thatsache, als die Shakespeare'schen Charaktere, die Shakespeare'sche Gefühls- und Gedanken-Welt?!

Und jede Kunst bleibt so lange Kunst, bis sie als das Leben, die Sache selbst empfunden wird. In diesem Augenblick übt sie die grösste Gewalt über alle Gemüter, sie wirkt fatalistisch. Aber in diesem Augenblick beginnt sie auch als Kunst sich abzuschwächen und aufzulösen. Man empört sich, wie gegen alles Schauspielern im Leben, so gegen Alles Leben, das mit der Prätension der Kunst auftritt. – In diese Phase ist jetzt Shakespeare's Poesie eingetreten. Als man gesagt hat, Shakespeare stellt die Liebe nicht mehr dar, seine Liebestragödie ist die Sache selber (so Goethe, so Tieck und andere), da war Shakespeare's Kunst in den Zenith getreten. Doch wer mag lange die Sonne sich auf den Scheitel brennen lassen! Und zum Glück verweilt sie nicht zu lange im Zenith. Man beginnt sich gegen ihre heissesten Strahlen zu schützen; aber kaum ist die grösste Glut vorüber, dann dämmert auch schon der Abend herein. Und nun beginnt es dem Philister erst wohl zu werden.Als ein eingefleischter Philister vom Schlage Gervinus' Shakespeare zu begreifen anfing und für ihn das Wort führte – es war hart um die Mitte des Jahrhunderts – da musste es schon mit Macht zu dämmern begonnen haben in dieser Shakespeare'schen Welt. Wenn die Philister an einen alten Gott zu glauben anfangen, dann muss schon ein neuer Gott an's Kreuz geschlagen, ein neuer Charfreitag den Menschen gekommen sein. Seltsam, war es nicht gerade dasselbe Jahr (1849), in welchem ein neuer Shakespeare, ein Shakespeare der slavischen Welt nach Sibirien und in die Verbannung geschickt wurde? War dies Zufall? oder erfüllte sich nur wieder einmal ein altes Weltgesetz? – Die aufgewecktesten und frischesten Geister begehen ihre schönste Feier in der Frühe.

XXXIII.

Die Idealisten unter den deutschen Kritikern geraten jedesmal in eine stille Verzweiflung, wenn man die Lebenswahrheit der von ihnen gepriesenen Kunstwerke in Frage 64 stellt; und doch ist es ihr beliebtester Kunstgriff gegen realistische Werke den kleinlichsten »Wirklichkeitsstandpunkt« einzunehmen. So lautet der ewige Philister-Einwand gegen gewisse naturalistische Produkte der Gegenwart, dass sie das Leben viel zu ernst nähmen, ernster, als es sich selber nimmt, dass sie »peinlich« wirkten; man solle nicht in der Dichtung so ängstlich nehmen, was doch im Leben meist »verschleppt« zu werden pflegt. (So z. B. W. Kirchbach im Magazin, 1889 Nr. 22, gelegentlich einer Besprechung von Ed. Brandes »Ein Besuch«).

Das nenn' ich doch noch einen idealistischen Standpunkt. Das Leben von seiner oberflächlichsten Seite nehmen! Leider thun dies nur auch die idealistischen (klassischen) Dichtungen nicht immer; z. B. der »Faust«, der gewisse Lebens-Fragen, die im Leben auch verschleppt zu werden pflegen, ernst, sehr ernst, ja peinlich ernst genommen hat. In diesem Sinne sind eigentlich die Naturalisten, oder wie man die Modernen immer nennt, die eigentlich Idealisten, weil sie allein die Konflikte des Lebens ernst nehmen und seine Probleme bis zur äussersten Konsequenz, d. h. bis über das Leben und die Wirklichkeit hinaus verfolgen. Solch eines Idealismus sind unsere seichten Ideal-Aesthetiker gar nicht mehr fähig.

O unsere Idealisten! Unter dem Namen des Idealismus antizipiert man heute die Berechtigung, Alles in Kunst und Leben seicht, leicht und leichtfertig zu nehmen. Der deutsche Idealist will nichts ernst, nichts ernsthaft genommen sehen. Er leugnet den Ernst selber. Die deutsche Tiefe ist längst eine fable convenue geworden!

XXXIV.

Und das hat mit seinem Singen unser Idealismus gethan. Zum Teufel, wer heisst euch auch idealisieren, versöhnen und verschönen! Das besorgt schon die Zeit! Auch die realsten Werke haben ihre Zeit, in der sie ideal erscheinen; auch das tragischste Schicksal findet noch seine 65 Versöhnung. Auch das Leben idealisiert sich, wenn es Geschichte geworden ist. Das Greisenalter versöhnt und vor allem – der Tod idealisiert. Aber lasst, o lasst der Zeit doch ihr Recht! Wollet nicht immer mit dem Ende gleich anfangen!

Die Ferne idealisiert. Die ideale Ferne! Das Fernste das Idealste, so nach Zeit, so nach Ort! Wisst ihr auch, dass alle Idealisten die schlimmsten Rückwärtsler sind? Irgend ein blaues Ziel, weit weg von uns in ferner Vergangenheit, steht ihnen vor Augen. Sie sehen mit den Augen der Vergangenheit, sie sehen rückwärts und haben vielleicht sogar ihre Augen auf dem Rücken. Rückwärts gewandte Propheten sind sie allesammt! Auch das Leben nehmen sie zuweilen ideal. Warum auch nicht? Sie sehen weit weg von sich, auch das Leben schwebt in idealer Ferne! Träumer sind sie und keine lebendigen Menschen. Vielleicht Künstler in Bezug auf das Leben, nur nicht in Bezug auf die Kunst. Mit zwanzig sind sie oft mit dem Leben fertig, oder ist auch das Leben mit ihnen fertig, ist es ihnen ein vollständiges Kunstwerk geworden, schwebend im hehrsten Lichte der Idealität. Es giebt Menschen, die sich in den letzten zwei Dritteln ihres Lebens fast nur noch selber geniessen. Fünfzig Jahre lang sind sie ihre eigenen Zuschauer! Und nun mach Einer diesen Leuten klar, dass sie das Leben gar nicht kennen! Ihnen, die doch in Amt und Würden sitzen und schon manches amüsante Kapitel ihres Lebensromans hinter sich haben! Sie werden Dir anfangen von Weltversöhnung und künstlerischer Verklärung zu erzählen! O diese Heuchler, die sich den Optimismus als schmerzstillendes Opiat reserviert haben und alle mutigen Seelen Pessimisten nennen! O diese Feiglinge, die Ideal-Optimisten! Diese Erzphilister, die Alles lieben, was alt und grau und Asche geworden, die nicht mehr idealisieren, um sich den Gegenstand vom Leibe zu halten, sich nicht erdrücken zu lassen, ihn besser überschauen und beherrschen zu können, die vielmehr von einem geheimen Misstrauen gegen alles Lebendige erfüllt sind und schliesslich sich mit ihren Gegnern, den 66 Realisten, (d. h. den philiströsen Gegenwarts- und Wirklichkeits-Menschen) zu einem Bunde der Real-Idealisten vereinigen, um so unisono Alles, was Leben, und Alles was Kunst, Alles was Form und Alles was Geist ist, zu ersticken. Ihr gemeinsamer Instinkt, der den Bund geschlossen, ist einmal gegen Alles, was Leben und Kunst oder Form und Geist ist. Das Klima, das hier herrscht, könnten sie auch nicht eine Minute lang aushalten. Um die Kunst aushalten zu können, haben sie sie erst kastrieren müssen! –

XXXV.

Auch der Idealismus lässt eine mannigfache Erklärung zu. Es ist oben schon angedeutet, wie auch er als Kunstprinzip und als Motiv der Technik von grosser Fruchtbarkeit für die Kunst sein kann. Hier aber haben wir es nur mit dem Idealismus als verschönernde und verbessernde Kunst- und Weltanschauung, als optimistischen Selbstbetrug zu thun. Als solcher tritt er uns in folgenden drei Phasen entgegen:

1) Der Idealismus der Gegenwart. Ich nenne ihn den Vogel-Strauss-Idealismus. Es ist die schäbigste, unanständigste und dümmste Art von Idealismus. Er entspringt einer Art von Götzendienerei und Erfolgsanbetung; alles, was oben auf ist, wird durch ihn verherrlicht. Selbst diese Wirklichkeit, der heutige Tag, der gerade, weil er heute ist, auch gut ist, wird den feigen und unterjochten Seelen derer, die ihm huldigen, zum Ideal. Er betrachtet die Dinge, um im Jargon unserer Idealisten zu reden, »unterm Gesichtspunkt der Idee«. Diese Kunst- und Lebensauffassung, die noch weit niederträchtiger ist als die materialistische, hat man neuerdings auf den Namen »Real-Idealismus« getauft. Es findet die Feigheit doch immer ein Thürchen, durch welches sie entschlüpfen kann. 67

2) Der Idealismus der Vergangenheit. Der Idealismus aller spät geborenen und müde gewordenen Geschlechter. Man lebt und schafft nicht mehr, aber man träumt von verlorenen Paradiesen, von den glücklichen alten Geschlechtern, von den guten vergangenen Zeiten. Kurz Alles, was alt ist, d. h. was dermaleinst jung gewesen ist, wird Einem zum Ideal. Traurig und schlimm ist die Gegenwart, aber wir selbst tragen die Schuld, wir sind entartet. Nicht, dass der Idealismus dabei zu kurz käme! Die Ideale, sie haben gelebt in den alten Sitten, in den alten Gesetzen und den alten Handlungen. O, die entschwundenen Ideale! Fliehen wir, fliehen wir zurück in die Vergangenheit! Kurz, das ist der Idealismus, der aller historischen, aller antiquarischen Arbeit zu Grunde liegt. Ich nenne ihn den Kirchhofs-Idealismus. Jedes Grab ein verschlossenes Ideal. –Vornehmer als der erste Idealismus ist er gewiss, denn er wahrt sich doch wenigstens den Mut und die Selbständigkeit der Gegenwart und der Wirklichkeit gegenüber. Unter Umständen hat man sogar den Mut, diese durch die Vergangenheit »auszuschämen«!

3) Der Idealismus der Zukunft. Aber auch jener Idealismus genügt ernsten Naturen nicht mehr. Er ist auch am Ende zu naiv! Man hat sich diese alte Welt genauer angesehen und ist dahinter gekommen, dass sie noch schlimmer, jedenfalls nicht besser sei als die moderne. Ja, in gewissem Sinne ist diese sogar schon als Erfüllung der Vergangenheit anzusehen. Die Poesie und die Philosophie der Verzweiflung folgt der Romantik auf dem Fusse. Da kam wie eine Offenbarung, wie eine Himmelserscheinung die moderne Naturwissenschaft mit ihren Entstehungs- und Entwicklungstheorien. Ja, was verzagen wir denn! Wir stehen ja erst an der Schwelle der Kindheit des Menschengeschlechtes. Und wieder tauchte ein »Dermaleinst« in der Seele des Menschen als tröstendes Eiland, als führender Stern auf. Mutig, mutig verzagte Seele! Nur fortgesteuert auf dem wilden Ocean! Mögen Winde Dich immer umbrausen, mögen die Wellen turmhoch Dir über dem Kopfe zusammenschlagen! Heils schon genug, wenn Du auch 68 nur als Sterbender noch die Küste erblickst, wenn Du auch nur schon auserkoren bist, zu ahnen die Herrlichkeit der neuen Welt!

Es ist dies ein schönerer, vornehmerer, gleichsam ein idealerer Idealismus. Jedenfalls kein Idealismus der Faulheit, wie der erste! Er ist das Leitmotiv aller Sänger von Menschheitsliedern. (In Deutschland z. B. des alten Schack, des edelsten, und des jungen H. Hart, des talentvollsten Idealisten der Gegenwart.)

Aber schliesslich ist auch dieser Idealismus, der Idealismus des Fernglases, wie eben fast jeder Idealismus, eine Flucht vor den Dingen, die er in Begriffe auflöst. Ja, im Grunde ist er noch wesenloser als der Gräber-Idealismus der Romantik. Man operiert da mit lauter Grössen, z. B. Lichtjahren, Myriaden-Meilen-Räumen, bei denen wir uns nicht einmal etwas denken können, geschweige denn, dass sie uns zur poetischen Vorstellung würden. Höchstens noch, dass sie zur ungeheuren und mächtigen Stimmungs-Erregung zu gebrauchen sind (wie dies Schiller z. B. in seinem Jugendgedichte »Die Grösse der Welt« so ausgezeichnet gelungen ist).

Die männlichsten und produktivsten Naturen aber sind niemals Idealisten, ebensowenig als sie im gewöhnlichen Sinne Realisten sind! Sie prophezeien nicht und sie sehnen sich nicht, sie schaffen sich selber eine Zukunft und sie werden auch immer auf irgend eine Weise mit dem Leben fertig, so wie die Männer (und das sind ja die produktiven Talente!) noch stets mit den Weibern fertig werden!

Wo aber der Idealismus herrscht, da ist immer das Weib oben auf! 69

* * *

So ist, um obige Ausführungen durch ein Beispiel zu illustrieren, der Patriotismus der Polen Romantik, derjenige der Deutschen, euphemistisch gesprochen, »Real-Idealismus«, und endlich derjenige jugendlicher Völker, die ihre Geschichte noch erst in der Zukunft haben, etwa der Russen, Zukunfts-Idealismus, zuweilen sogar, wenn er sich in positiven Thaten und Werken äussert, politischer Naturalismus. Aber er ist bei allen und immer ein Idealismus. Denn die Patria ist immer ein Ideal, nur, dass es in dem einen Falle (bei den Polen) ein verlorenes, im anderen (bei den Deutschen) ein greifbar gegenwärtiges, und schliesslich im dritten (bei den Russen) ein noch zu erfüllendes, etwas Zukünftiges ist.

XXXVI.

Zuweilen versteht man unter Real-Idealismus einen subjektiven Realismus. Und ist diese Erkenntnis auch nicht gerade neu (schon der eine Goethe musste zu ihr führen!) so ist sie doch wenigstens richtig. Man geht dabei von der Voraussetzung aus, dass der Mensch nur von sich selbst etwas wissen kann, und dass alles andere Wissen erst von hier seinen Ausgangspunkt nimmt. Das erste also ist das Subjekt des Künstlers, die hervorspringende Individualität des modernen Menschen, der erst auf die Welt (das Objekt) als auf seinen Raub, sein Eigentum, seine Schöpfung, als auf den Gegenstand seiner Wünsche, Zwecke, Absichten, die Realisierbarkeit seines Willens ausgeht. Das Erste also ein Wunsch, ein Wollen, dann das Vorstrecken der Fühlhörner, das Aufspüren des Objekts (seines Objekts), Studium und Durchforschung und schliesslich Besitzergreifung desselben, Vereinbarung der subjektiv-objektiven Welt, Realisierung des Ideals, – also Real-Idealismus. Nur dass unsere Real-Idealisten auch so weit noch nicht gehen, zu einer Realisierbarkeit des Ideals, zu einer Wirkung des Willens, 70 kurz zu einer resoluten Besitzergreifung der Welt, des Reals oder des Objekts kommt es bei den schwächlichen, impotenten Männlein überhaupt nicht, sodass die Kluft zwischen Idee und Realität, Subjekt und Objekt ewig bei ihnen klafft, sodass nur durcheinander gesteckt ist, unorganisch neben einander gestellt, was nicht zusammenkommen, in einander fliessen und sich vereinigen kann. Ein Mann neben ein Weib gestellt – gibt eben noch lang keine Ehe!

Also auch der Real-Idealismus ist noch erst ein Ideal, eine Ehe in der Idee, eine Möglichkeit, eine Wünschbarkeit, ein Sein-Können.

XXXVII.

Die Idealisten verkehren mit der Welt gewöhnlich nur noch durch ein Medium.

Ein Beispiel:

Th. Storm behandelt in einer seiner letzten Novellen »Der Doppelgänger«, das Doppelleben eines Verfehmten, welcher sich vergeblich abmüht, sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu rehabilitieren. Der Vorwurf ist nicht neu; aber psychologisch jedenfalls interessant, weil es einer derjenigen Stoffe ist, der schon vermöge der Verschiedenartigkeit der beteiligten Personen so wie aller Nebenumstände die mannigfaltigsten Variationen zulässt. Es ist auch vor allem ein moderner Stoff, ein Stoff, den fast alle Modernen einmal irgendwie episodisch behandelt haben.

Also ein realistischer, ein moderner, ein interessanter Stoff! Ist aber Storms Novelle eine realistische Erzählung, wie seine Verehrer uns einreden wollen? Allein – die Sache ist wichtig genug, um ihr nachzugehen – was hat Storm nicht alles aufgewandt, um sich den Stoff in die Ferne zu rücken, vom Leibe zu halten. Nicht auf dem Doppelgänger, obgleich nach ihm die Novelle benannt wurde, liegt der Accent, wie in Kleist's »Kohlhaas«, in Lie's 71 »Lebenslänglich verurteilt«; nicht von ihm geht Inhalt und Erzählung aus, noch auch ist er End- und Zielpunkt des poetischen Interesses, sondern – eine Mittelsperson, ein Medium, durch das das ens reale des Doppelgängers betrachtet wird. Die Tochter des Unglücklichen an der Seite ihres liebevollen Gatten, selbst bereits wieder Mutter eines hoffnungsvollen Sohnes, also ausgesöhnt mit dem grausamen Schicksal, das sie die Tochter eines Zuchthäuslers sein liess – diese Erscheinung schwebt vor jenem ens reale, dasselbe in das holde Licht ihrer eigenen Verklärtheit tauchend – den Leser sofort mit jenem ens reale versöhnend. Das Ganze als eine Erinnerung vergangener Tage, längst ausgetobter Stürme, vernarbter Wunden aufgefasst und dargestellt.

Das ist, was unsere Real-Idealisten, die man mit einer Uebertragung eines politischen Parteinamens die National-Liberalen unter den Künstlern nennen könnte, »poetische Verklärung«, »Lächeln unter Tränen«, »weltversöhntes Gemüt« u. s. w. nennen.

Aber sind Wunden, die vernarbt sind, überhaupt noch Wunden, sind Stürme, die vertobt sind, überhaupt noch Stürme? Kann ein Maler einen Sturm zeichnen und doch zugleich ein hold verklärendes Sonnenlicht auf die Gegend fallen lassen? Ist dies noch Darstellung des Sturmes? Ist die Erinnerung überstandener Qualen noch Darstellung dieser Qualen? Sind diese Qualen, sind diese Wunden, ist dieser Sturm noch immer realistisch, als Realismen dargestellt? Der Maler kann eine Landschaft nach dem Sturmwind zeichnen, aber dann zeichnet er den Sturmwind nicht mehr. Der Dichter kann Erinnerungen von Erlebnissen erzählen, doch dann erzählt er die Erlebnisse eben selbst nicht mehr, keine Thatsachen, keine Realismen.

Diese, durch das Medium einer Erinnerung, eines Traumes, einer Zwischenperson gesehen, sind eben keine Realismen mehr, nicht mehr leibhaftig, nicht mehr wirkend, sondern nur durch ein Reflex geschaut: Bestien in ihren Käfig eingesperrt, durch das Gitter betrachtet. Wer darf sich rühmen, Löwen 72 und Leoparden zu kennen, weil er sie hat füttern gesehen und brüllen gehört, wie sie der Tierbändiger kennt, der in ihren Käfig selber hineindringt, der die ganze Gefahr eines Löwen- oder Leoparden-Faktums hat kennen gelernt, der sich aber stärker erwies, als dieses Löwen- oder Leoparden-Faktum, der es mit seinem Blick bannt, der in unmittelbarster Gegenwart dieses Faktums sicherer steht und handelt, als der ängstliche Zuschauer draussen vor dem Gitter, dem die Haare zu Berge steigen, indessen sich die Bestien sanft zu den Füssen ihres Herrn schmiegen und kaum noch zu grollen wagen, dass sie der schwache-starke Mensch vor ihnen so ganz in seiner Gewalt hat.

Man muss mitten drin gewesen sein im Zwinger der wilden Bestien, man muss draussen gekämpft haben mit ihnen in Urwäldern und traurigen Wüsten, wenn man den Blick für Realismen zu besitzen sich rühmen will; man muss endlich die Realität bezwungen haben, man muss ihrer Herr sein, wenn man sie auch künstlerisch sich zu eigen gemacht, in sich aufgenommen zu haben vorgiebt! – Wen aber die Realität bezwungen hat, der ist natürlich eben so wenig Realist. Denn man kennt die Wirklichkeit nur, wenn man ihrer Herr geworden ist. Was kommt dabei noch weiter darauf an, ob jene Thatsache (der Kampf, die Bewältigung) eben jetzt oder vor Jahrhunderten geschah, ob die »Handlung« in der Gegenwart oder in der Vergangenheit spielt! Es gibt Dichter-Naturen, die schon vermöge der ihnen angeborenen Feigheit, jeden, selbst den gegenwärtigsten, den aktuellsten Vorgang sich erst durch irgend ein Medium vergegenwärtigen müssen (zuweilen ist dieses Medium die Wissenschaft), die die Realität dieser Welt nur durch die blaugefärbte Brille von Erinnerungen und Mittelpersonen mit »weltversöhntem Gemüte« betrachten können, während der tapfere Realist und Naturalist auch in die fernste Vergangenheit wie mitten in die Gegenwart hineinspringt, weil er eben seine eigene Gegenwart, die Gegenwärtigkeit seines mutigen Geistes gleichsam in die Vergangenheit hineinträgt. 73

Wo Realisten des Lebens oder der Kunst weilen, dort ist immer Gegenwart. Don Quichote leben selbst und nur in Vergangenheiten, indessen Promethideische Künstler überall, wo sie eben sind, Gegenwarten schaffen. Sie sind bei sich, und deshalb ist in ihnen immer Gegenwart, Realität.

Man vergleiche – so wenig solche Vergleiche bei dem so unermesslichen Talentunterschiede Beider sonst frommen – Storms Novelle (sie ist 40 Jahre nach dem Ereignis erzählt), mit Kleist »Kohlhaas«, der geschichtlich fast volle 300 Jahre zurückliegt! Aber hier ist die Gegenwart, hier das Leben, hier Realität und Modernität! Alles ist erlebt und alles wird erlebt. Alles wickelt sich mit harter Notwendigkeit ab, grausam, gewaltthätig und voller Gefahren und Schrecknissen, wie das Leben selbst, wie die Realität des Lebens selbst. Dort Alles traumverklärt, weich, gefahrlos vorbeischwebend, verschollen und vergessen und nur mühsam herausgeholt aus dem Schoosse der Erinnerungen, aus Lethe's dunklem Grunde. Ist es überhaupt noch Wahrheit? Nicht der Schatten der Wahrheit? Nicht ein verklungenes Lied? Ist's nicht die Gemütsstimmung eines Dichters, die Geibel nicht müde wurde anklingen zu lassen:

Einstmals hab' ich ein Lied gewusst;
Einst
in goldenen Stunden
Sang ich's,bez. hört' ich's, erlebt ich's u. s. f. da ich ein Kind noch war,
Aber mir ist's entschwunden . . .

– die Gemütsstimmung eines alternden Dichters, eines Epigonen, eines – Enkels von Heroen?

Man sieht, wo Realismus und Idealismus sich ewig scheiden; nämlich dort, wo sich der Blick für Realitäten zu trüben beginnt, wo die Kraft sie zu beherrschen gebrochen – oder noch nicht stark genug ist! –

Aber nicht dadurch, dass der Eine Ideen und Ideale hat, der Andere nicht! Denn das unterscheidet den Realisten vom Idealisten, dass er sie hat! Diesen hatten die 74 Ideen und Ideale, er war ideengläubig und idealsüchtig. Den Realisten zeichnet es eben aus, dass er sich nie von Ideen haben lässt, und immer wie des Stoffs, so auch der Ideen Herr bleibt.

XXXVIII.

Der Realismus ist so wenig ein künstlerisch prägnanter Ausdruck, dass die Realität eines Kunstwerks sich auf die verschiedenartigsten Dinge beziehen kann. In rationalistischen Epochen, z. B. bei Lessing's Nachfolgern bezog sie sich meist auf die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der Lebenssätze: der Realismus eines Kunstwerkes bestand in seiner Vernünftigkeit. Gegen diesen Realismus der Lehrpoesie hob sich unsere klassische Periode, namentlich Herder und Goethe ab, sodass sie schliesslich nichts so sehr verabscheuten, als Alles, was nur entfernt an diese Gattung erinnerte. Heut hingegen bezieht man den Realismus vorwiegend auf den Stoff. Er soll realistisch, d. h. alltäglich sein, was freilich wieder charakteristisch für ein Zeitalter sozialer Kämpfe ist. Man verschmäht das Wunderbare, Ausgetiftelte, nicht, weil es wunderbar und ausgetiftelt, sondern weil es das Seltene ist. Man würde es auch verschmähen, wenn es nachweisbar und vorhanden wäre. Den Faust, den Hamlet und Don Juan liebt man nicht mehr, nicht weil es Fabelgestalten, sondern weil es Aristokraten sind. Hier kommen die Realisten zuweilen in Konflikt mit ihren Theorien. Man bekämpft gerade, was man selber übt. Der Faust und der Hamlet sind realistische Gestalten und umgekehrt die Coupeau's und die Oswalds, die man gar nicht anders als im Plural sich denken muss, typisch gefasste Figuren.

Mancher fasst auch den Realismus so auf, dass er die Natur wie eine Art von Zwiebel behandeln zu müssen glaubt. Er löst Blatt auf Blatt, und bildet sich ein, so ihrem 75 innersten Wesen auf die Spur zu kommen. Jenen ist der nackte Mensch in seiner Haut noch viel zu bekleidet. Sie halten es jedesmal für einen Triumph des Realismus und der Kunst, wenn sie wieder ein neues Blatt gelöst. Das setzen sie so lange fort, bis sie schliesslich nichts mehr übrig behalten. –

XXXIX.

Die Scheidung von Realismus und Idealismus ist also für uns keine Prinzipien-Frage mehr, vor allem keine Partei-Frage, sondern eine Lebensfrage, die Jeden einzeln und zwar als Frage berührt. Die Strömungen sondern uns nicht in Parteien, sondern höchstens Parteien in uns; der Kampf, er wird nicht zwischen zwei Lagern gekämpft, ausgekämpft wird er in uns, in jedem einzeln. In uns steckt der Idealist und zugleich der Realist.

Und deshalb soll man nicht die Dichter in den Idealisten und Realisten, sondern innerhalb desselben Dichters die Scheidung von Idealismus und Realismus vornehmen. Denn es giebt keinen, der völlig das Eine oder Andere verträte, sowenig der Eine die ganze Wahrheit hat und ein Anderer Erbpächter der Lüge ist!

Nein! Die verschiedenen Empfindungen und Organe, die einzelnen Seelenthätigkeiten selber können verschiedenen Graden von Realitäten zugänglich sein. Wie Einer scharf sehen und dabei taub sein kann: so hat man zuweilen Augen für Realitäten, d. h. sieht realistisch, und hört doch nur, was nach Herkommen und Sitte gehört zu werden pflegt; oder Jemand liebt konventionell, aber er denkt oder handelt individuell, als Realist; oder der Sinn für Realitäten bezieht sich nur auf bestimmte Vorgänge, Erscheinungen, Zeiten und Oertlichkeiten u. s. w. u. s. w. Uns aber beschäftigt doch 76 bloss der partielle Realismus in jedem Falle. Auch da liegt eine Gefahr der bestimmten Personen angepassten oder abgenommenen Dogmen.

Begreift man denn gar nicht, welch' ein schweres Unrecht gegen den einzelnen Dichter darin besteht (ob er nun Ibsen oder Tolstoi, Hauptmann oder Conradi, Maupassant oder Bahr heisst), welche Sünde wider das Leben und mithin wider den Realismus selbst man begeht, die ganze Erscheinung, dieses litterarische Phänomen, auf den einen oder andern Namen zu taufen?! Ungefähr dieselbe Sünde, die gegen den Menschen des Mittelalters geübt wurde, wenn man ihn christlich taufte, zu einem Spiritualisten taufte und seine Leiblichkeit, seine Leidenschaftlichkeit schlechthin ignorierte oder als nicht zu recht bestehend hinstellte. Was ist der Naturalismus in Kunst und Wissenschaft, was im Leben selbst als ein umgekehrtes Christentum! Man tauft den Menschen wieder um zu einem Heiden-Menschen, man will ihn religiös wieder unschuldig, künstlerisch wieder naiv, wissenschaftlich natürlich machen! Als ob dies so ginge! Als ob die zweitausendjährige Angewohnheit des Menschengeschlechts, sich als geistig zu wissen, als ob das Misstrauen gegen den Leib und die Natur, welches das Christentum dem Menschen einmal anerzogen hat, so einfach aus der Welt zu schaffen wäre! Als ob man nicht gerade durch diese Umkehrung hinlänglich bewiese, dass dieser Gegensatz noch immer ungeschwächt besteht!

Also: Realist ist, wer Realitäten schafft – sagte ich oben. Hier füge ich, berichtigend und präzisierend, hinzu: Realist ist jeder Künstler, wann und sofern er Realitäten schafft.

Realist ist z. B. in hohem Grade der Lyriker Hermann Conradi, aus dessen Liedern eine sehr starke, eine sehr hervorragende Realität zu uns spricht, wenn auch eine sündhafte, wie unsere Moralisten sagen, eine krankhafte, wie unsere Philister meinen. Aber desselben Dichters phrasenhafte Romane: was zeigen die? Im besten Falle noch – 77 und damit dürfte ein wichtiges Charakteristikum gegeben sein – eine verflogene, eine in der Auflösung sich befindende Realität, eine Realität, die keine Realität mehr ist, die aber selbst in ihren absurdesten Erscheinungen eine grössere Realität ahnen lässt, also ein – Décadence-Realismus, – eine Realität in der Décadence. Da fliegen überall noch Sternschnuppen von Realitäten umher, die uns an zerstobene Welten gemahnen. Auch hier ist Conradi nicht schlechtweg ein Phraseur, als der er ausgeschrieen wird. Als Phraseur geberdet er sich nur, wenn er uns über die Klüfte dieser zerschellten Gestirne, deren einzelne Teile kaum noch etwas von einander wissen oder ahnen, – hinwegzutäuschen sucht. – Und etwas Aehnliches können wir bei Karl Bleibtreu gemahnen, der gleichfalls nicht schlechthin als Realist zu nehmen oder zu verwerfen ist. In einem ist Bleibtreu sehr entschiedener Realist: in ihm lebt eine sehr starke Empfindung für Realitäten. Schon das zeugt von Realismus eines Dichters. Er aber erlebt jene vielleicht viel mehr, als dass er sie erleben will. In seinen Dichtungen ringt ein Etwas nach Darstellung. Seine Poesie ist, in ihren wichtigsten Teilen, ein verzweifeltes Reagieren gegen ein Etwas in der Welt, das er nur nicht mit Namen benennen kann, dessen Vorhandensein, Macht und Feindseligkeit in der Wirkung er aber deutlich fühlt und Andern fühlbar zu machen weiss. Er darf vielleicht mit grösserem Recht von sich sagen, was H. v. Kleist einmal über sich an seine Schwester schreibt: »Ich weiss sehr wohl, dass, was ich empfinde, ein Glied in der Reihe der menschlichen Empfindungen bildet. Es wächst (!) noch irgendwann ein Stein für den, der das auszudrücken vermag!« So ist Hauptmann, so ist Hermann Bahr, und so sind sehr viele unserer Dichter nur in ganz bestimmten Stücken, in ganz bestimmten Beziehungen Realisten.

Wohl verstanden: damit soll nicht etwa nur, was ja lächerlich selbstverständlich wäre, die Verschiedenwertigkeit der einzelnen Stücke desselben Dichters dargethan werden! Das Alles ist nur hinsichtlich des Realismus gemeint, des Stücks 78 geformter, geschauter, erlebter Natur. Kein Dichter, selbst Shakespeare, der Alles, was er gedichtet hat, selbst erlebt hätte, geschweige denn, dass er es als ein Neues erlebt hätte! Und nur in sofern könnte es ein Realistisches sein, das er darstellt. Die Uebernahme älterer Formen, älterer Stoffe und Konflikte braucht desshalb noch nicht ein Unrealistisches zu sein, wohl aber ist es jede Rücksichtnahme auf die äussere Form, auf das Publikum, auf die herrschenden Anschauungen. Und wo gäbe es Einen, der niemals und in keinem Falle diesen Götzen geopfert hätte?!

Aber will man einen Gegensatz zum Realismus: Ohnmacht vor der Realität heisst er. Idealismus nur in sofern, als dieser Idealismus ein Abstraktes, eben der Ausdruck jener Furcht und Ohnmacht vor der Realität ist! Idealisten in diesem Sinne sind zum Teil die älteren Dichter der jetzt lebenden Generation, aber nicht als Ideendichter schlechthin. Es giebt sogar eine Art von Idealismus, die im Grunds nur ein sublimierterer, durchgeistigterer Naturalismus ist; nämlich die Vorwegnahme eines Stückes Natur in der Idee. Der Hamletische, Werther'sche, Kleist'sche Idealismus ist ein solcher.

Ein Ideen-Dichter, ein Spruchdichter, ein Epigrammatiker (man denke an Logau) kann deshalb noch in hohem Grade Realist sein. Was ist Lessings Poesie z. B. anders als epigrammatische Realistik! Seine Personen, sie reden oft in Epigrammen, sie bauen sich auf aus Epigrammen (Gedanken- und Gefühls-Epigrammen), die Komposition ist gewiss nicht ohne Epigrammatik. Wie? Ist dies ein Grund, ihn deshalb nicht unter die Realisten zu rechnen? Aber er dachte epigrammatisch, er lebte epigrammatisch, er war auch im Leben ein ewiger Skeptiker, er lebte es gleichsam kritisch. Jedes Erlebnis meisselte sich dieser scharfe Geist zu einem Epigramm um – (man denke an die schmerzlichsten Epigramme, die je geschrieben, die bekannten Briefe an Eschenburg und seinen Bruder Karl über den Tod seiner Frau und seines Sohnes!) – mithin war seine Epigrammatik als eine erlebte, als eine Leben 79 concentrierende und Leben formende, als die Epigrammatik einer starken Persönlichkeit gleichfalls eine realistische Kunstform, die Art eines Realisten. Und wie viel Epigrammatik steckt nicht in Ibsen, in Hebbel, in Zola. – Und Tolstoi – hat es je einen grösseren Idealisten mit Bezug auf das Leben gegeben! Aber die Kunst der Darstellung, die subjektive Lebenswahrheit dieser Idealität macht auch ihn zum Realisten, und, wie Einige meinen, zu einem der aller vorgeschrittensten.

XL.

. . . Ja, und darin sind sich wohl Alle einig: in der Forderung, dass der Künstler das Faktum, das er darstellt, auch in sich durchlebt haben müsse! Darin stimmen die Idealisten vollkommen mit den Realisten überein. Es ist sogar der gewöhnlichste Einwand, den die Ersteren gegen die realistischen Produkte erheben, dass sie nicht immer vom Künstler durchlebt seien.

Aber wem ist eingefallen, den Begriff des Erlebens selbst zu prüfen!

Was erlebt man? Wie erlebt man, d. h. wie lebt man mit dem Leben? Dasselbe Faktum wird nicht von allen gleich durchlebt, sowie nicht jede Erscheinung gleich gesehen wird.

Wie? Muss der Dichter deshalb selbst an jenem Leiden erkrankt sein, weil er es darzustellen pflegt? Wenn nur Epileptiker, Paralytiker, Säufer etc. sich zum Beobachten ihres Zustandes bequemen wollten! Ich glaube in demselben Augenblick müssten die letzteren mindestens aufhören, Säufer zu sein! Ein praktischer Weg für alle Aerzte, Soldaten der Heilsarmee, Pastoren und andere Heilige. Das beste Rezept gegen den Suff oder erotische Ausschweifung: Werde naturalistischer Dichter und dann geh' aufs Land! Ich glaube, daran hat noch Niemand gedacht. Der Naturalismus als Heilmethode, das wäre ein Thema, das . . . . 80 Kann man eine Krankheit (um bei dem Beispiel zu bleiben!) nicht unter Umständen noch ganz anders, und zwar viel tiefer, er- und durchleben, als indem man an ihr leidet, nämlich gerade nicht als Kranker? Erleben wir denn nur in unserer Passivität? Nicht auch handelnd, schauend, beobachtend, experimentierend, wollend? Erlebt nicht auch der Arzt die Krankheiten seiner Patienten mit? Nicht auch die Wärterin, kurz Jeder, der irgend welches Interesse an der Person, dem Leiden, den Umständen des Kranken hat? Aber freilich Jeder auf seine Weise, Jeder mit anderem Interesse, mit anderen Empfindungen, mit anderen Gedanken! Die lachenden Erben anders als die weinenden! Erlebt nicht z. B. jeder gute Ehemann die Kindeswehen seines Weibes von den leisen Anfängen bis zur Katastrophe und dann von dieser bis zur Genesung selber mit? Nicht jede gute Mutter die ganze Geschichte ihres Kindes?

Und selbst, was wir als unser Erlebnis darstellen, wissen wir denn gar zu genau, ob das auch Alles unsere Erlebnisse sind? Was wir davon erlebt, blos weil es Andere erlebt haben, was sympathetisches, was experimentelles. was historisches, was anticipatives, was künstlerisches, was kontemplatives und was persönliches Erlebnis an unseren Erlebnissen ist?

Vielleicht lässt sich noch eher mit Umkehrung eines alten Glaubens behaupten, dass noch nie ein Erlebnis vom Erlebenden selbst seinen künstlerisch-klassischen Ausdruck erhalten habe. Der Strom muss immer schon im Erfrieren begriffen sein, der Künstler muss erst wieder als an ein Fremdes an sein Erlebnis – gesetzt eben, es sei wirklich sein Erlebnis – herantreten, wenn er es künstlerisch verwerten will. Dass er am Ende sich selbst objektivieren kann, dass er an seinem eigenen Leibe herumexperimentieren darf, dass er bis zur Selbstvernichtung grausam mit sich umgeht (in der Tragödie zum Beispiel) – das Alles beweist, dass er sich bereits als ein Fremdes behandelt, das er geniesst, belauscht, befeindet, vernichtet! 81

Man trete nun aber einmal nur aus der beschränkten Sphäre rein körperlicher Erlebnisse heraus. Man nehme ein historisches Faktum! Wie anders erlebt dies der Staatsmann, wie anders eine Privatperson; und wieder wie anders das Geschlecht, dessen Geschichte dasselbe angehört, und wie anders ein fremdes, ein feindliches Volk und Geschlecht; wie verschieden, wen dieses Faktum in die Höhe und wen es zu Falle gebracht hat, wem es ein Sporn, wem es eine Schande ist! Und nun erst Jeder nach seiner eigenen Individualität, nach dem Charakter seiner Umgebung! Ist das immer noch dasselbe Faktum?

Kurz auch der strengste und consequenteste Realist, auch wer das grösste Gewicht auf das Milieu legt, auch dieser Künstler wählt immer noch aus der Fülle der Erlebnisse; auch er sieht, er braucht tausend Dinge nicht gesehen zu haben, die doch von der grössten Wichtigkeit für das Gesamt-Faktum gewesen sein mögen!

Wenn es doch auszurechnen wäre, was Jeder von seinen Erlebnissen mit nach Hause bringt, wie viel man schon auf dem Heimwege vergessen und verloren hat! Ich kann mir denken, dass ein Mensch von grossem Willen und starker Phantasie so sehr Zweck und Ziel seines Weges im Auge hat, dass er, nachdem er erreicht, was er gewollt, Alles vergessen hat, was er auf diesem Wege sah und erlebte, dass er auch nicht einmal weiss, wie er eben dort hingekommen. Er kann mit Siebenmeilenstiefeln gewandert sein, er kann im Fluge ein Ziel gewonnen haben und jetzt Alles aus so unendlichen Höhen und Perspektiven anschauen, dass er nichts mehr von der Fülle des Lebens auf den Zwischenstationen und auf der Strecke des Weges selbst kennen gelernt hat. Und man kann im Schneckengang seinen Weg gehen und in jedem Sandkorn sein Erlebnis finden. Es giebt Menschen (es sind die mit drängendem, unterdrücktem und gequältem Willen, z. B. unser Kleist), die in Allem nur Hemmnisse oder Beförderung erleben. Und wieder Andere giebt es, die so wenig bei sich sind, die immer über sich und weit von sich leben, dass sie bei ihren internsten Angelegenheiten nicht 82 einmal gegenwärtig sind, die ihre Krankheiten, Zufälle, die Armut, Verlust, Niedrigkeit u. s. w. gar nicht mehr erleben.

Wir modernen Menschen vollends, die wir nicht allein das Leben, sondern zugleich auch mit dem Leben eine mehrtausendjährige Cultur, eine Kunst und Wissenschaft erleben, wir, die wir im Vergleich mit der Vergangenheit ein paar Sinne, Kräfte und Zwecke in Bezug auf das Leben mehr haben; wir werden mit dem Realismus nicht so kurzer Hand fertig, ob man ihn nun als experimentelle Methode, als technisches Problem oder als was sonst betrachtet. Wir müssen erst Psychologen werden, um hier Fragen stellen und Fragen beantworten zu können. –

XLI.

Was heisst künstlerisch gesprochen Vergangenheit? Ist es die Zeit, die, von diesem Augenblick an, verflossen ist, das, was wir sprachlich als das Praeteritum bezeichnen? Ist es die historische Bedeutung?

Mit nichten! Vielmehr nur, was ich als realistisches, als Naturphänomen hinter mir habe, was ich überwunden, in mich aufgenommen, mir aus dem Bewusstsein geschafft habe: mein Perfektum. Für mich, das schauende oder schaffende Individuum, kann ein nach unserer historischen Zeitrechnung tausendjähriges Ereignis erst eine Zukunft, ein Zu-Erlebendes sein. Doch da das bereits vergessene und noch nicht erlebte Erlebnis mir gleich unfassbar, gleich uninteressant ist, so giebt es für den Künstler nur eine Zeit, die Gegenwart, die helle und starke Gegenwärtigkeit des Geistes, des Handelns und des Leidens. Und der Künstler hat auch nur diese eine Zeit. Denn wie könnte er schauen, als in der Gegenwart. Aber Jeder hat, wie gesagt, seine Gegenwart in einer andern Zeit, z. B. politisch noch in Rom, religiös noch in Judäa, sozial noch im Mittelalter, artistisch noch in Hellas; und Jeder thut Recht und hat ein Recht, seine 83 Gegenwart aufzusuchen. Lieber im gegenwärtigen Athen, als ein noch nicht erlebtes Berlin!

Und das ist kein Paradoxon! Jeder frage sich, vorausgesetzt, dass er überhaupt sich auf derartige Fragen eingeübt hat, am besten nach grossen seelischen Ereignissen, wann er eigentlich diese Erlebnisse erlebt hat, in welches Jahrhundert die Geburt dieser Gefühle fällt. Wie viele Jahrhunderte liegen z. B. zwischen dem seelischen Ereignis der Liebe, das einem hinterpommer'schen Bauern widerfährt, und der hochgesteigerten, hochmodern gespannten Liebe eines Künstlers! Als ein wie Vergangenes, resp. Zukünftiges erleben nicht die Deutschen in politischer Hinsicht das Reich, und gewisse politische Phänomene! Der alte Schulmeister, den selbst Shakespeare unter den Neueren noch kalt lässt, dem aber das Herz aufgeht bei der Lectüre sophocleischer Chöre, Horazischer Oden, was geht mit dem anders vor, als dass er Sophocles und Horaz eben jetzt erst erlebt. Und er erlebt sie wirklich, ist für die Kunst keineswegs unempfindlich, wie ja sein leuchtendes Auge, sein begeisterter Ausdruck zeigt. Er ist vielleicht blos Schulmeister geworden, um sein ganzes Leben lang seinem geliebten Sophocles und Horaz leben zu dürfen. Shakespeare hat derselbe Schulmeister noch nicht erlebt, der bleibt für ihn noch eine weite Zukunft, während der junge Primaner vor ihm vielleicht schon seit langem in den Schauern der Hamlet- und Leartragödien erbebt und schon nach neueren, nach neuesten und allerneuesten Litteraturprodukten greift. – Es giebt auch heut noch immer, trotz allem Fortschritt, Rokoko-barock- und Renaissance-Seelen, klopstockische, alexandrinische, hexametrische Seelen.

Welch eine Torheit, dieser ganze Kampf für und gegen die historische Kunst – wenn man freilich die nicht unwichtige technische Frage der Sache bei Seite lässt! Es ist nicht Jedem dasselbe Historie, dem Einen noch lange nicht neu, was dem Andern modern ist. Dem Einen ist z. B. alle Religion Historie der menschlichen Seele, dem Protestanten speziell der Katholizismus, dem Christen der Judaismus, was eben dem Juden, dem Katholiken, dem Religiösen noch nicht 84 Historie, sondern lebendige, süsse und furchtbare Gegenwart ist. Natürlich Christ, Jude, Protestant, Katholik, sofern sie es ganz und nur sind! Es giebt immer noch Juden, die noch an jedem Passah-Feste ihre Errettung, in jedem Herbste den Sieg der Makkabäer einmal erleben, deren Seele noch vor jedem Fluche und Donnerworte ihres alten Jehovas erbebt; – so wie gläubige Christen Christi Leben von seiner Geburt bis zur Kreuzigung immer noch mitzuerleben und mitzuleiden fähig sind, für die Alles noch rührende, reelle Wahrheit ist.

Wohl dem, der seine Gegenwart in der Gegenwart hat! Denn er ist ein zwiefach lebendiger, einer der lebendigsten und stärksten Menschen, die es geben kann. Aber man lasse sich durch Prinzipien und Theorieen, deren Urheber nur an der Aussenseite der Sache rühren, nicht beirren! Jeder suche seine Gegenwart und wenn sie auch im grauesten Altertum liegt! Er darf auch gewiss sein, er findet sein Publikum. Denn jedes Menschenalter ist unter den Menschen, jedes Weltalter unter den Phänomenen vertreten. Noch täglich, stündlich wird die Welt erschaffen und täglich, stündlich sinken Welten unter in das alte Chaos. Wir leben gleichsam unter allen Zeitaltern und unter allen Zonen, wenn auch nicht gerade im Sinne Schacks und unserer Kosmopoliten und Humanitätslehrer. Weshalb sich also hinaufschwingen zu Höhen und Gegenwarten, wo man nur eine klägliche Figur spielt, indess man eine Stufe niedriger seinen Platz wol auszufüllen im stande, und auch wol glücklicher wäre!

Und vor allen Dingen: weshalb das Heut durch ein Gestern lächerlich machen! Wer von Heut ist, wird ja, wenn er sich den Schlaf erst aus den Augen gerieben hat, schon noch merken, dass ein neuer Tag ist. Aber freilich! Im Verschlafen und im Verliegen liegt alle Gefahr des Menschen. Es muss also immer unanständige Wecker geben – lärmende Nachtschwärmer, schlaftrunkene Wächter, krähende Hähne. Der Hahn, der mich wach kräht, ist deshalb noch kein Geschöpf von Heute, gleich mir, – ist, weil er früher aufgestanden ist und mich geweckt hat, nicht moderner als ich! – 85

 


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