Leo Berg
Der Naturalismus
Leo Berg

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Annäherung an die Natur.

Ich sage Euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
                      Also sprach Zarathustra I. 5.

I.

So weit bedeutete der Naturalismus ein Hinab, ein Hinweg, ein Hinaus! Also Romantik, Reaction, Revolution. Und diese Art von Realismus ist so weit im Uebergewicht, dass er vielen, und oft gerade den tiefsten Geistern, als eine »bedauernswerte Verirrung« erschien; so schon im vorigen Jahrhundert, so noch heute. Man denke, wie einer unserer feinsten Geister, wie Lichtenberg noch über »die Originalgenies« der Sturm- und Drangperiode gedacht hat! Und ist man vielleicht immer noch geneigt, Lessings cynische Bemerkung zum »Werther« als nichts weiter als eine litterarische Tölpelei, vielleicht gar geheimen Neid anzusehen? Ohne dass bestritten werden kann, dass Lessing den Werther thatsächlich nicht verstand! Aber wer verstand denn damals Lessing? Und ist es immer Unverstand oder Dummheit, eine Zeit, eine Bewegung nicht zu verstehen? Und muss man etwas, das man nicht versteht, gleich missverstehen? Lessing verstand etwas im »Werther« nur zu wohl und besser als jemand nach ihm – sein Denker-Instinkt hatte ihn sofort darauf verwiesen, nämlich, dass der »Werther« geistig genommen, einen Rückfall bedeute. Culturell betrachtet, lag ja in diesem »Werther« zunächst gar kein Hinauf, so wenig als in Rousseau, so wenig als in aller Romantik. Zunächst! Und in diesem Falle sah Lessing, wie alle geraden Denker, 16 eben nur das Nächste! Das war seine Kurzsichtigkeit. Denn dass die Cultur keine geraden Wege einschlägt, begreifen sie nie: dass in jedem Umschlag schon das Mittel zum Fortschritt liegt; und dass die Natur gescheidt genug ist, wo sie nicht vorwärts kommt, ein resolutes Zurück sich zuzurufen! So geht der Mensch, der sich verirrt hat, lieber noch einmal zurück, um sich zu orientieren. Am Ausgangspunkt angelangt, ist er damit schon ein Stück vorwärts gekommen. Er weiss nun, wo er hinaus muss.

Und so ist in jedem Rückwärts auch zugleich die Möglichkeit zu einem neuen und entschiedenen, jedenfalls erfolgreicheren Vorwärts gegeben. Aber so wollen es die Rückwärtsler niemals verstanden haben!

II.

Ich habe das Gleichnis vom Weg und vom Umweg gebraucht. Ein anderes, ein einfacheres liegt näher. Natur und Geist verhalten sich wie Kreis und Polygon. Alle geistige, d. i. vernünftige Arbeit, ist eine geradlinige; und jedesmal wird ein Stück Natur dabei negiert, geleugnet. Das ewige Bemühen aller Cultur ist, den Kreis durch Polygone auszudrücken. Anfangs grob, in wenigen geraden Linien, aber immer feiner, in immer verzweigteren, in immer kleineren, immer häufigeren Strichen. Das Polygon nähert sich sichtbar dem Kreise. Aber niemals vermag es ihn ganz auszufüllen. Immer noch bleibt ein Stück Rest, immer geht eine Vergewaltigung an der Natur vor. Dies Stück Naturrest immer kleiner zu machen lautet die Aufgabe in Kunst und Leben.

III.

Dies Stück Natur, wie manigfaltig wird es benannt! In der Grammatik sind es die Ausnahmen, in der Jurisprudenz heisst es Ungerechtigkeit, in der Philosophie nennt es sich das Unerforschliche, das Geheimnis, das Rätsel, Problem, 17 das Göttliche, oder das Ding an sich, zuweilen Unwahrheit oder freche Lüge u. s. f. Das heisst, wenn es sich als nicht ausgedrückte, als nicht umfasste Natur bereits fühlt. Jahrtausende hat es gar keinen Namen, zählt es gar nicht mit in der Cultur, ob es sich gleich auch schon geheimnisvoll ankündigt. Hier ist die Natur eine ausgestossene und fühlt dies gar nicht einmal als Ungerechtigkeit. Sie weiss selbst noch gar nichts mit sich anzufangen. Die Formel für sie ist noch nicht gefunden, die Projection der letzten Linien auf sie hin noch nicht vorgenommen. Ja nicht einmal als das unbekannte X ist sie gedacht und mit in die Rechnung gezogen. Die Arbeit der Wissenschaft und Politik ist es, diese Projektion vorzunehmen, d. h. das Polygon zu vergrössern und so einem Stücke Natur zu seinem Rechte zu verhelfen. Die Kunst aber, sofern sie eine neue, originelle, eine »dionysische« ist, schwingt sich jählings mit einem salto mortale über diese Grenzlinien und wird so orgiastisch, selbst Natur, und das ist in einem höheren Sinne – naturalistisch. Wie sie hier bereits Natur ist und nicht erst sein will, so will sie auch den Fortschritt nicht, sondern bedeutet ihn eben schon. Ihr Reich ist eine Sphäre, die vielleicht erst nach Jahrhunderten von der Wissenschaft ausgemessen und von der Cultur angebaut wird. –

IV.

Hier liegt der Hauptfehler Schillers, moderne und sentimentalische Poesie als identisch zu nehmen. Die moderne Kunst ist ebensogut eine naive (Natur) als die griechische. Nur ist die griechische Natur nicht mehr unsere Natur. Was den Griechen noch Natur war, ist uns bereits Cultur und als Natur selbst schliesslich gar nicht mehr verständlich und fassbar. Und unsere Natur wieder ahnten jene noch gar nicht. Was hätte z. B. wohl Aristoteles zu Shakespeare – diesem Stück moderner, nordischer, germanischer Natur – gesagt? Der Stagirite hätte sich wahrscheinlich diesem Phaenomen 18 von Natur gegenüber sehr unweise geäussert! So unweise, wie noch alle Weisen dem Zukünftigen gegenüber. Z. B. Lessing gegen Goethe. Das Stück Vergangenheit, rückfälliger Natur in Goethe hat Lessing sofort und trefflich begriffen, die Zukunft in Goethe hat er kaum geahnt, geschweige denn begriffen.

Was wir als Naivetät der Griechen ansehen, erschien ihnen zuweilen als höchst sentimental. Uns erscheint überhaupt alle alte vererbte Natur naive Natur – und nur die neue und verlorene sentimental, da eben die neue es gerade ist, die den Verlust der alten oft am deutlichsten oder krassesten erkennen oder ahnen lässt (wie in dem Fall »Werther«). Euripides hingegen, der uns ja heute auch naiv geworden ist, war einst ein Ausbund von Raffinement und Sentimentalität; während unser grosser Melancholiker Lenau ein durchaus naiver Dichter ist. Wir sprechen ja auch immer noch von Werther'scher Sentimentalität. Nur von Goethe'scher Sentimentalität mögen wir nichts mehr wissen! –

V.

Wie? Und was eben noch als ein Atavismus bezeichnet war, als ein Rückfall in irgend eine Vergangenheit, hier soll es nun ein Sprung in die Zukunft sein? Warum nicht? Ja, es ist eigentlich schon angedeutet. Kann nicht gerade das, was in ihnen nach vorwärts drängte, sich zunächst in einer Sehnsucht nach einer Vergangenheit geltend machen? Kann nicht die Sentimentalität der modernen Welt eben die erste entscheidende Aeusserung moderner Natur sein? Und ist es so seltsam, dass sich die Geister gerade im Höchsten belügen? Zurück nennen, was vielleicht ein Hinauf ist? Und sind nicht genug Geister, die edelsten und besten, an diesem tiefen, unerklärten, ihnen ewig unerklärlichen Widerspruch zu Grunde gegangen? Sollte es – vielleicht mit dem »Kainsstempel« auf der Stirne doch etwas auf sich haben? Wer kennt die Schmerzen und Qualen derer, die jenseits aller 19 Gesetze und Regeln, kurz aller Kreise des gegebenen Augenblicks, d. h. also mitten drin in der Zukunft leben, und ihre Existenz, d. h. diese Zukunft, just ihre Gegenwart, durch die Vergangenheit rechtfertigen wollen, vielleicht auch müssen! Sich also nicht rechtfertigen können, sich selbst verdammen müssen durch das ihnen innewohnende Gewissen der Vergangenheit, d. h. sich selbst negieren! Und das thun alle die, welche nicht den Mut der Zukunft haben und doch Zukunft sind, also den Mut nicht zu sich selber haben! Und dieser Fall ist gar nicht einmal so selten, vielleicht sogar der gewöhnliche! Und namentlich unter den Deutschen, den prädestinierten Historikern! –

VI.

Unsere Promisskritiker, die keine »Idealisten« mehr sein möchten und doch den »Naturalismus« – bei uns in Deutschland fast immer noch ausschliesslich als »Zolaismus« und besten Falls als »Ibsenmanier« verstanden – noch nicht zuzugestehen wagen, haben sich, immer »die mittlere Tugend« übend, auf den »Realismus in der Kunst« hin geeinigt. Als ob das nicht, wie sie den Realismus verstehen, die Negation von beiden wäre.

»Realismus« – Wirklichkeits-Sinn, Thatsächlichkeits-Sinn, Erkennbarkeit, Beweisbarkeit, Vernünftigkeit im gemeinen Verstande des Worts.

Brauch' ich noch zu sagen, dass Naturalismus nichts von alle dem ist. Der Realismus, wie er sich in unserer zeitgenössischen Litteratur meist äussert, ist augenscheinlich, thatsächlich, vernünftig. Der Naturalismus aber ist schlechtweg unvernünftig, von der Vernunft unbegriffen. Denn sobald die Vernunft dahinter kommt, ist es mit dem Naturalismus zu Ende. Er muss erst wieder auf's Neue unvernünftig werden, um Naturalismus zu sein! In seiner Unvernunft allein dokumentiert er sich. Den Künstlern, die sofort von den Vernünftigen begriffen werden, prophezeie ich keine lange 20 Dauer. Der Künstler wendet sich daher auch mit Vorliebe an die Unvernünftigen – das Volk. Als Goethe anfing von den Vernünftigen begriffen zu werden, wurde er unpopulär.

Ich habe auch gefunden, dass die grossen Künstler, und das sind die grossen Naturalisten, wie vom Standpunkt der Vernunft, so der Realität bekämpft, werden. Sie haben im gemeinen Sinne keine Realität, oder besser: noch keine Realität. Was sie sehen, was sie darstellen, hat keine Greifbarkeit, meist noch keine Form, fast niemals einen Namen. Sie eben als Sprach- und Formenschöpfer müssen ihnen beides erst geben. Man lasse sich nicht beirren dadurch, dass sie oft aus irgend welchem Grund gegebene Worte, gegebene Formen oder Motive verwenden. Oft ist es ein Betrug, vielleicht ein Selbstbetrug! Der Inhalt ist doch ein anderer. Wie ungeniert bediente sich Shakespeare der heterogensten Stoffe und Formen! Er bereitete seinen Zeitgenossen, die vielleicht nichts als diesen Stoff, diese Formen sahen, ein Gaukelspiel! Was dahinter steckte, das war sein Geheimnis, seine Schuld. Wer sagt, dass er es nicht selbst also aufgefasst hat?

VII.

Was ist das »Unerfreuliche«, um Goethisch zu reden, am Realismus gewöhnlicher Art? Das Kleinliche, das Kokettieren mit der Philistermoral, mit der Philistervernunft. Es ist die Not und keine Notwendigkeit, die zu ihm hinleitet. Der Realist steht am Ende einer Cultur-Epoche, wie der Naturalist am Anfang. Jener vergeht mit dem Tage, dessen Götze er ist. Er hat zwar Realität, d. i. Thatsächlichkeit – die Welt, wie er sie sieht, ist in dem Augenblick thatsächlich so – aber keine Natur. Er steht gerade auf der äussersten Linie, die der Cultur gegenwärtig gezogen ist und tanzt auf ihr herum wie der Seilkünstler auf dem Seile, unsicher, schwankend, ängstlich, ohne Mut, vor- und rückwärts, nach oben oder unten zu schauen. Er ist ein Stück abstracter Cultur, und deshalb ist ihm alle Natur gleich unleidlich, ob sie sich als 21 Vergangenheit oder Zukunft äussert. Er will, er kennt nur den Tag. Und wenn man seinen Kunststückchen zujubelt, o, beneidet ihm nicht sein Glück: es ist das fragwürdigste! Jeden Augenblick fürchten zu müssen, hinunterzustürzen in ungemessene Tiefen! Nie festen Boden unter den Füssen zu haben! Aber, o Glück, er kennt seine Gefahren nicht! Und das giebt ihm Sicherheit, kurzes Behagen! Doch die Wissenden lassen sich nicht täuschen. Er hat in die Luft gebaut! Und alle anderen, – sie haben nicht einmal dieses Seil. Sie müssen sich selber tragen und ganz ihrer Kraft vertrauen. Aber sie haben Flügel, und da können sie's schon eine Weile aushalten. –

VIII.

Ist der Naturalist kein Künstler, sondern ein Handelnder, etwa ein Reformator, Religionsstifter, Staatengründer, so wird er von der übrigen Welt, von den Thatsächlichen als Verbrecher empfunden, und sofern er die Thatsächlichkeit nicht von sich streifen kann, empfindet er sich selbst als solchen.

Es ist nur eine von den vielen Banalitäten, welche die »Realisten« in die Welt gesetzt haben, den Begriff »Schuld« in der Tragödie zu leugnen. Und wenn sie noch wenigstens so klug gewesen wären, aus der sogenannten Schuld der Helden diejenige ihrer Dichter herauszulesen, aus jeder Tragödie eine fürchterliche Anklage des Tragöden herauszuhören! Man hat das kaum bei Goethe vermocht, trotz seiner ausdrücklichen Erklärung, dass alle seine Werke als Selbstbekenntnisse hinzunehmen seien!

Welches ist die Schuld Romeo's und Julia's? Oder hätten sie in der That keine? Vielleicht doch? Etwa so aufgefasst: das Durchschlagen des Individualismus, das in ihren Handlungen zu Tage tritt, und in Folge dessen das Durchbrechen einer Schranke? Wenn man will, kann man das »tragisches Schicksal« nennen statt »Schuld«. Allein eine Schuld, d. h. ein Verbrechen, ein soziales Vergehen liegt im Augenblick immer vor! Eine Julia, die sagt, ja, die nur 22 denkt: »Was ist mir Montague?« u. s. w. ist schuldig an ihrem Geschlecht, an ihrer Familie! Nur muss man freilich das Wort »Schuld« nicht im spiessbürgerlichen, kriminalistischen Sinne nehmen!

Schuld kann schon allein in der Existenz einer Person, ihrer ganzen Beschaffenheit, ihrem Denken und Empfinden liegen.

Faust ist im theologischen Sinne immer schuldig, auch wenn er nie ein Gretchen verführt hat. Und ihm darf man eine theologische Schuld schon anrechnen, denn er ist ein theologischer Charakter. Das macht freilich den Prolog im Himmel etwas problematisch. Der Theologengott wird den Fausttrieb, ja er kann ihn gar nicht mehr mit dem Bewusstsein des rechten Weges vereinbar halten. –

Irgend eine Schuld muss sogar notgedrungen in der Tragödie vorhanden sein. Denn ist nichts dergleichen vorhanden, dann giebt es ja auch keinen dramatischen Gegensatz, also keinen dramatischen Charakter, mithin kein Drama. Ist es aber eine Schuld, die nur für den dramatischen Gegenpart, nicht für den Dichter, nicht für den Zuschauer besteht – vielleicht nicht mehr besteht – man wird eine solche Art von Kunst oft in Dilettantenstücken finden – dann ist das Drama auch ethisch indifferent und verliert mithin seine letzte Daseinsberechtigung.

IX.

Den Griechen galt das Durchbrechen der politischen und sozialen Schranken, das Nicht-Maas-halten-können, (die Hybris), als das furchtbarste aller Verbrechen.

Wer sagt, dass diess bei uns anders sei? Dass die moderne Gesellschaft weniger furchtbar sei? Wir haben nur andere Modalitäten, andere – Namen. Nicht ohne ein tiefes Mitgefühl eliminierte der Grieche seinen Uebelthäter als einen 23 politischen Verbrecher aus der Polis. Wir Modernen sind viel furchtsamer vor unseren Verbrechern, und eliminieren ihn daher aus der Gesellschaft, und wenn es irgend geht, (und wir haben Mittel auch ausser dem Henkerbeil) aus dem Leben.

»Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit teilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Flut von Leiden und Kümmernissen, mit denen die beleidigten Himmlischen (?) das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen – müssen«. (Fr. Nietzsche, »Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik«. S. 49.)

Doch warum die beleidigten Himmlischen? Warum nicht das Menschengeschlecht sich selber, das stehengebliebene, das emporstrebende?

Oder mit anderen Worten: der Frevel ist ein zwiefacher, die Schuld auf beiden Seiten; auf Seiten des Individuums, welches die Gesellschaft zu vernichten droht, auf Seiten der Gesellschaft, die das Individiuum tötet. Oder es ist die Zukunft, die die Gegenwart gefährdet oder die Gegenwart, welche die Zukunft erstickt. Das Individuum als Zukunft genommen.

Das ist die wahre, ewige Tragödie des Menschengeschlechts, ob sie sich Prometheus, Faust, Hamlet, Romeo oder Raskolnikow nennt!

Der Gang der Geschichte ist ein ewiges Durchbrechen von Schranken, eine fortgesetzte Individualisierung, ein ewiges Sich-schuldig-machen.

 


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