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Es lässt sich demnach die Kunst in ihrer Entwicklung in folgende drei Perioden einteilen:
1) Die Prometheische Epoche. Es ist dies die Zeit der grossen Explosionen. Alles ist gewaltthätig, Alles im Unrecht. Alte Gottheiten müssen gestürzt werden, ohne Gewissheit, dass die neuen sich werden rechtfertigen können. Ihr Licht ist geraubt. Es ist die Zeit aller grossen Schöpfungen und Voraussetzungen. Ihre Helden sind die grossen Sünder und Verfehmten. Man hat sie in der Kunst auf die Namen Aeschylos, Pheidias, Dante, Michel-Angelo, Shakespeare, Kleist, Balzac, Dostojewski getauft. Es ist die Zeit der Männer und Heroen; künstlerisch gesprochen, der Naturalisten, ist es doch selbst ein Stück neuer Natur, das in ihnen geboren wird. Rein ästhetisch gesprochen, ist es die Zeit der grossen Tragiker, das tragische Zeitalter der Kunst.
2) Die olympische Epoche. Die Revolutionäre sind mittlerweise Kämpfer geworden, weil der Sieg sie gerechtfertigt hat. Sie schweben frei, im lichten Aether. Ihnen wohnt wohl noch die gigantische Kraft inne von dereinst, aber sie haben nur selten Gelegenheit, sie zu üben. Daher die Ruhe und das Maass in der Kraftentfaltung. Blitze und Symbole zeugen von ihrer Kraft. Es ist nichts mehr über ihnen, das diese selbst herausforderte. Alles scheint in Freiheit sich zu bewegen. Es ist das Zeitalter, dem man die Gesetze der Schönheit ablauscht, dem die Forderung nach Schönheit und Freiheit entstammt in der Kunst. Alles wird wohlthätig empfunden, und am Ende nur noch als die einzige Möglichkeit künstlerischer Aeusserungen. Es ist ein ewiges Sieg- und Festefeiern, die Zeit, in welcher man noch ohne Pein vor- und rückwärts schauen kann. Es ist auch die weibliche Epoche jeder Cultur, in der alle Art weiblicher 46 Naturen und weiblicher Talente heraufkommt. Es ist die Zeit der Glücklichen, der Sophocles und Praxiteles, der Raphael, Calderon, Mozart, Göthe und Victor Hugo. Alles Künstler mit tief ausgesöhntem Gemüt, mit beruhigter, heiterer, selbst wieder kindlich heiterer Seele.
3. Das Zeitalter der Götterdämmerungen.Oder das peripherische Zeitalter, wie ich es ein ander Mal in Bezug auf das Verhältnis des Künstlers zu seinem Stoff bezeichnet habe. (Deutsche Litterarische Volkshefte Nr. 2, S. 8 f.). Die Herrschaft ist überall befestigt. Man weiss kaum noch, dass man einst um diese Herrschaft hat kämpfen müssen. Man ist des Jubilierens und Feste-Feierns müde und begiebt sich wieder hinunter mit dem Götterherzen zu den Menschen. Aber Alles erscheint schief, Alles erscheint klein. Schliesslich wird man auch des Erdenwallens müde und nun fliegt man wieder hinauf zu Seinesgleichen, in den Olymp. Man ist aber schon viel zu müde, viel zu Gottmüde, um etwas Anderes als den Menschen lieben zu können. Auch ahnt man schon, dass wieder die Erde unterwühlt ist. Man weiss auch, dass man unterliegen muss, hat man doch selbst am allerwenigsten die Kraft, den Kampf mit neuen furchtbaren und noch unbekannten Giganten aufzunehmen. Aber noch ist kein sichtbares Zeichen für die Heraufkunft neuer Götter. Noch einmal bricht die alte Sonne durch die Abendwolken. Die Ahnung nahen Götter-Sturzes war nur ein böser Traum. Götter sind ja ewig. Man fühlt sich noch einmal als ewig, und ein goldenes Gelächter befreit von dem ängstigenden Traume. Die Stunde des Humors hat geschlagen. Und wie oft ist der Humor nicht ein rechter Galgenhumor! Ist es da etwa ein Wunder, dass diese letzten Götter nicht mehr ganz rein, ganz göttlich sind, sie, die in niederen Sphären, bereits unter Menschen geweilt? Will man noch immer dasselbe ethische und künstlerische Maas an die Künstler dreier so verschiedener Zeitalter legen? Begreift man es nicht, dass 47 die Satiriker und Humoristen nun einmal die Verräter unter den Göttern sein müssen. Sie spotten der Götter, deren Untergang sie ahnten. Wer so viel näher der Erde mit seinem Götter-Instincte war, der muss wol am ehesten erfahren, was da tief unter der Erde geschieht! Sie spotten der Menschen, deren kleines, kleinliches Treiben sie aneckelt! Sie spotten ihrer selbst, weil sie den Widerspruch empfinden! – Und das ist die Zeit aller zwitterhaften Erscheinungen, das Zeitalter der Verschwendung, maasloser und unsinniger Verschwendung. Nun weiss man erst, wie reich man ist. Man hat nur geerbt und nichts gethan. Wozu also sparen? Weshalb sich eine Laune versagen? Man hat wol gemerkt, dass auf die grossen Humoristen und Satiriker (die Aristophanes, Ariosto, die Cervantes, Byron und Heine) eine grosse Skurilität in der Poesie zu folgen pflegt! –
Hier haben wir die drei Epochen jeder Kunst; und je nachdem man selbst mit seinem Herzen in eines dieser Zeitalter gehört, je nachdem wird man in der Wertmessung der Künstler entscheiden. Es sind im Grunde genommen drei Welten, die ein gegenseitiges Verstehen beinahe ausschliessen! Im Zeitalter Mozarts und Goethes galt die Schönheit par excellence als das einzig Erstrebenswerte in der Kunst. Auf die Namen Homer, Sophokles, Antinous und die knidische Venus hat man fast die Schönheit selber getauft. Im 19. Jahrhundert hingegen, ganz besonders in England, schwärmte man nur noch für die Humoristen und die humoristische Litteratur. Und erst in neuester Zeit haben die Aeschylos, Pheidias wider ihr Verständnis und Anerkennung gefunden. In Deutschland war es z. B. selbst einer von den aufrührerischen Giganten (J. L. Klein), der für die Grösse des Einen mannhaft eingetreten ist. 48
Auch giebt es ganze Völker und Kunstgattungen, bei denen nur oder vorzugsweise die eine der drei Epochen zu ihrem Rechte und ihrer Vollendung kommt. Oft hat dies nur ein Zufall, die historische Ueberlieferung, verschuldet. Zuweilen finden wir jene fehlenden Epochen in anderen Künsten, und Völkern wieder. So hat z. B. der satirische Roman seine Voraussetzung im Volks-Epos, was vielleicht parodoxer klingt, als es ist. Des Homer satirische Nachfolger sind nicht Epiker, sondern die ältesten hellenischen Komiker, die Verfasser der Götterfarcen, z. B. der einst so hoch gepriesene Epicharmos. Unter den romanischen Völkern sind die Franzosen die geborenen Satiriker, während ihre Kunst in Italien und Spanien ihren Morgen und Mittag hat (Dante, Michel-Angelo-Raphael, Calderon). Und schliesslich wird der Typus auch zuweilen dadurch getrübt, dass der Künstler in einem ihm ganz conträren Volk oder Zeitalter wirkt, also etwa ein tragischer Dichter in einem ästhetischen Zeitalter (Kleist) oder in einem Volke, das seiner historischen Stellung nach ein olympisches ist, z. B. die, Griechen (der oben gedachte Fall Sophocles-Oedipus). Denn nicht der Tragödiendichter allein ist der tragische Dichter, ja er ist nicht einmal vorzugsweise der tragische Dichter seiner Zeit. Sophocles, Calderon, Racine und Schiller waren nicht die eigentlichen Tragiker. Der Deutschen grösste Tragödie ist ihr National-Epos, ihr Lied von der Nibelunge Not. Aus der neueren Zeit der deutschen Litteratur wüsste ich kein besseres Beispiel, aus dem sich das Wesen des Tragischen ableiten liesse, anzuführen, als H. v. Kleists Novelle »Michael Kohlhaas«, die fast noch tragischer ist, als Kleist's ohnediess schon an tragischer Wirkung höchst stehenden von allen deutschen Tragödien. Aus unserer Zeit wieder, was giebt es Tragischeres als den Roman Raskolnikows, was, das Tragödienschwangerer wäre, als Zola's grössere Gesellschaftsromane (Germinal, L'Assommoir)? Wohl gemerkt, tragischer! Kein Irrthum könnte schlimmer sein, als die übliche Annahme, nur innerhalb des 49 Drama's gäb's ein Tragisches. Das Tragische ist eine allgemeine Kunstwirkung und Seelenbeschaffenheit, die nicht einmal auf die Poesie als solche, ja in weiterem nicht einmal auf die Kunst allein sich beschränkt. Es ist kein Gattungs-, sondern ein Zeitbegriff.
Ebenso das Komische. Je älter eine Cultur ist, um so mehr Stoff zur Komödie ist vorhanden, um so komischer ist sie. Jedes Volk, jede Cultur tritt eines Tages in ihr komisches Zeitalter ein. – Wenn so oft die Klage erhoben wird über den Mangel eines deutschen Lustspiels und im Gegensatz dazu der Reichtum der Franzosen in dieser Gattung betont wird, so sollten wir uns doch sehr ernstlich fragen, ob dies für uns so bedauernswert ist. Die Romanen sind eben eine ältere Race, ihre Kultur eine verjährtere. Ja, man darf sogar weiter gehen und behaupten: die ganze moderne französische Litteratur seit Voltaire – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – ist in der Grundstimmung satirisch, negativ, Komödie. Die Satire ist hier so in den Vordergrund getreten, dass man sie geradezu zum Maassstab aller Poesie gemacht hat. Diese allgemeine Grundstimmung giebt der französischen Litteratur gerade ihre Grösse und – ihre Freiheit. Der französische Dichter steht heute seiner Zeit und seiner Nation weit freier und selbstständiger gegenüber als der Deutsche. Der französische Dichter darf heute Alles wagen und wagt auch Alles. Im übrigen Europa giebt es schon gar nicht den Mut zur Kunst, diese Souveränetät in der Beherrschung des Stoffes. Und am allerwenigsten bei uns in Deutschland. Auch wir haben köstliche Humoristen und grosse Satiriker, Lustspiele, doch kein Lustspiel, Satiren, aber keine Satire. In Deutschland glaubt man eben nicht an die Satire, sondern noch an sich selber, an seine eigene Kultur oder thut doch wenigstens so! Aber im Grunde ist es genau so thöricht, einer Nation die Komödie abzusprechen, als einer andern die Tragödie. Man muss ihr nur Zeit lassen zur Komödie! Sie muss erst zwei Stadien durchlaufen haben, ehe sie hier anlangt. Und dann entdeckt man eines Tages, 50 dass man an Komödien und Komödien-Stoffen so reich ist als irgend ein anderes Volk. Man muss sich erst selber überwunden haben. Das Lachen ist das letzte und höchste Geschenk, welches die Himmlischen den Menschen bescheert haben. Aber viel schwere Arbeit, viel Zwang und Furcht muss erst vorangegangen sein, ehe man sich den Luxus des Lachens gestatten darf. – Es läuft übrigens auch, nebenbei bemerkt, bei der Klage um den Mangel eines deutschen Lustspiels etwas Heuchelei mit unter (und wo läuft die nicht mit unter?). Man tröstet sich über diesen Mangel gern mit der »deutschen Tiefe« und dem »deutschen Ernst«. Und vor nichts muss man heute mehr auf der Hut sein als vor der nationalen Heuchelei, der ohne Zweifel erfolgreichsten. Wir sind hier schon glücklich so weit gekommen, uns jede Schuftigkeit als deutsche Tugend zu verzeihen. Aber das ist Geschmacksache, und nur in Paranthesi zu lesen! – –
Was aber unsere drei Kunst-Stadien mit ihren Parallelläufen anbetrifft, so lassen sich doch meist auch im selben Volke und innerhalb derselben Kunstgattung diese drei Epochen deutlich nachweisen, so ungleichwertig sie auch im Einzelnen ausfallen mögen. In der deutschen Lyrik z. B. sind sie bezeichnet durch die drei Namen: Klopstock, Goethe und Heine, die noch immer miteinander zu vergleichen und zu messen zu den Capricen unserer Litteraturhistoriker gehört. Es ist lächerlich zu fragen: wer ist der grössere von den dreien oder von irgendwelchen drei anderen Vertretern dieser drei Kunststufen; oder wer ist der schönere (in seinen Werken), wer der witzigere? Weil eben die Stärke jedes Einzelnen nur in einer dieser Eigenschaften liegt! Im Allgemeinen darf man gerechter Weise nur Promethiden unter einander ob ihrer Kraft und Olympier ob ihrer Schönheit und Humoristen, ob ihres Witzes vergleichen! Auch muss man, wenn man selbst einem dieser Zeitalter angehört, den Mut zu seiner Zeit haben.
Grosse und volle Naturen, wie Goethe und Shakespeare, können auch alle drei Epochen in sich durchmessen. Bis in 51 seine Weimarer Zeit hatte Goethe noch selbst etwas von einem Promethiden, und im Alter hatte er bereits die Alles besiegende Heiterkeit sich gewonnen, mit der das humoristische Zeitalter der deutschen Litteratur anhebt. Man muss das ironische Lächeln, das über seinen späteren Produkten schwebt, beachten. Und die Weisheit – ein Symptom des Niederganges. Was deutet den Abend einer Kultur? Wenn schliesslich ein Knabe schon weise ist und – leichtfertig wie ein Greis!
Parallel mit diesen drei Kunst-Epochen laufen drei Unterströmungen, welche, ohne an der Grossheit und Produktivität derselben zu partizipieren, doch alle ihre Privilegien und Vorrechte in Anspruch nehmen.
1. Das Herostratentum. Der Herostrat-Charakter ein rein negativer, künstlerischer und Kultur-Typus, der nicht zerstört, um Raum für neue Schöpfungen zu gewinnen, auch nicht einmal aus Lust am Zerstören, sondern aus geheimem Neide gegen Alles, was da ist und sich der Sonne freut, sein tiefstes Wesen ist die Unproduktivität und Unfruchtbarkeit; – dieser Charakter ist deshalb so schwer zu begrenzen, weil alle seine äusseren Erkennungszeichen auch dem promethideischen eigen sind. Er ist besonders tief in der modernen Litteratur erfasst worden (z. B. von Ibsen in den »Kronprätendenten«), am tiefsten aber von zwei deutschen Dichtern, die trotz aller Gegensätze doch in ihrer eigensten Natur durchaus verwandt gewesen sind, – aber verwandt, wie Bruder und Schwester mit einander verwandt sind – Friedrich Hebbel (in »Das Trauerspiel von Sicilien« und vor allen Dingen in der »Genofeva«) und Otto Ludwig (in der Jugendtragödie »Das Fräulein von Scuderi« und der Meister-Novelle »Zwischen Himmel und Erde«, gleichsam die zwei Tragödien 52 der Unfruchtbarkeit). Dieser Typus pflegt auch heraufzukommen, wenn ein nichttragischer Dichter, sondern ein durch Zeit- und Nebenumstände oder durch den Volkscharakter verdorbener Tragiker einen tragischen Charakter behandelt, wenn sich ein Tragiker zu sehr in's Unrecht setzt und sich selbst als Verbrecher behandelt; mit andern Worten ein Tragiker, dem der Mut zu seiner Tragödie fehlt – ein gar nicht so seltener Fall. – In der modernen Gesellschaft finden wir den Herostrat-Typus besonders häufig im Lager der Anarchisten und Nihilisten, und vor allem auch unter jungen, unbefriedigten und für Kinder nicht disponierten Frauen.Vgl. im »Sexuellen Problem« das Kapitel über das Problem der Unfruchtbarkeit.
2. Das Epigonentum (auch das ästhetische Zeitalter) – alles Menschen zweiten Grades, im Ganzen ein unschuldigerer Typus, auf den noch ein schwacher Abglanz der olympischen Sonne fällt. Ihre Vorherrschaft beschwört gewöhnlich eine grosse Gefahr für ein Kulturvolk dadurch herauf, dass schliesslich das ganze Leben nur noch aus einem ästhetischen Gesichtswinkel betrachtet wird. Mit ihnen kommen die tragischen Charaktere meist in den unversöhnlichen Konflikt um die Herrschaft. In diesen Epochen befinden wir Deutschen uns gegenwärtig; aber sie geht zum Glück mit Macht ihrem Ende entgegen.
3. Das Pasquilantentum. Die komische Farze des Herostratentums und diesem verwandt. Die Schadenfreude ist der Pasquilanten innerstes Lebensprinzip, da sie von der Freude ausgeschlossen sind. Grosse, gewaltige Wirkungen abzuwehren, verhöhnen sie sie. Sie gleichen dem Satiriker in manchem Punkt und werden leicht mit ihm verwechselt. Das Pasquilantentum ist ein beliebtes Kampfmittel des Epigonentums wider den tragischen Kunst- und Lebens-Empörer (politisch heute sehr beliebt bei der lieblich degenerierten Bourgeoisie wider die Sozialdemokratie). 53
So angesehen verlieren die Dinge eine Reihe von sogenannten »Fragen«, die nur Fragen waren, so lange man von der Entstehung des Naturalismus nichts wusste. Freilich tauchen wieder sofort neue Fragen auf, tiefere, geheimnisvollere, quälendere Fragen. Und viele verlieren schon ihren Sinn, wenn man nur den Glauben an etwas Absolutes in der Kunst entschlossen aufgiebt.
So eine Frage ist die Frage nach der Berechtigung des Hässlichen in der Kunst, die nicht anders, als zu gleicher Zeit bejaht und verneint werden kann.
Gewiss giebt es ein Hässliches in der Kunst, ja es giebt sogar eine hässliche Kunst, die nicht allein berechtigt, die sogar notwendig ist. Nämlich jedes Neugeborene, Neue ist hässlich, schmutzig und widerlich. Und gerade deshalb pflegen sich die ästhetisch Gebildeten jedesmal am entschiedensten gegen die ersten Aeusserungen neuer Kunstgattungen zu wenden. Aber lasst diesen nur Zeit, und sie erstrahlen im Glanze blendender und verführerischer Jugend!
Denn schliesslich haftet das Hässliche gerade so wie das Schöne nicht an den dargestellten Dingen, auch nicht an der Darstellung, sondern ist Erscheinung für das schauende Auge. Was diesem aber hässlich scheint, kann ja gerade seine tiefere Schönheit, seine höhere Weihe sein! In der Kunst gilt es – und dies pflegt man heute mehr denn je zu vergessen – für den Zuschauer eben so viel mitzubringen als zu empfangen. Und weil er dieses zeitweilig so gerne vergisst – und zwar ganz vergisst, wenn er ganz gebildet ist – desshalb fühlt er sich dann durch das Neue in der Kunst so verwirrt und beleidigt.Vgl. hierzu den Aufsatz des Verfassers in der »Modernen Dichtung«, Heft 6, »Weshalb die moderne Poesie so deprimierend wirkt.« 54
Und das ist noch nicht das Wichtigste. Das Auge gewöhnt sich an Alles und auch an das Neue. Aber dieses Neue bedeutet auch jedesmal etwas Vergeistigteres, Vergeistigerendes. Und was das Seltsamste ist, diese Vergeistigung kündigt sich gewöhnlich noch als eine Vergröberung an. Weshalb wieder die Thatsache sich erklärt, dass gerade die Gebildetsten und Intelligentesten sich gegen sie erklären müssen.
Woher nun dieser Widerspruch? Weil jener Fortschritt eben nach dem Prinzip der »Annäherung an die Natur« vor sich geht. Dieses Stück eliminirter Natur, von dem wir oben sprachen, ist gerade das Erste, dessen der Künstler gewahr wird. Er will und muss einem Stück verkannter, geleugneter oder gemisshandelter Natur zu seinem Recht verhelfen. Er begreift es mit Einemmale nicht, weshalb gerade diese Situation zu schildern, diese Mittel anzuwenden ihm nicht gestattet sein soll. »Ich schere mich nicht im Geringsten um Hamlet, den ich nicht mehr fassen und greifen kann,« ruft Zola in der bekannten Vorrede zur dramatisirten Bearbeitung des Assommoir aus, »indess der Anblick Coupeau's, den ich unter der Hand habe, und an dem ich allerlei interessante Erfahrungen machen kann, mich leidenschaftlich bewegt« Und eben jener Hamlet hat einst ganz ähnlich gefragt: »Was ist ihm Hekuba?«
Was ist dem modernen Menschen die Kunst einer verflossenen Zeit, solang er selbst noch auf die Formel für sein eigenstes und persönlichstes Weh, für die Wehen seines Gemütes sinnt? Was dem Kind der best gearbeitete Rock seines Vaters, so lang es selbst noch in den Windeln liegt?
Und dieses Kind, das dereinst dazu bestimmt ist – ganz gleichgültig, ob es seine Bestimmung späterhin erfüllt oder nicht – seinen Vater an Kraft und Schönheit zu übertreffen, noch liegt es hilflos und jammervoll da! Noch ist es weniger Geist als Stoff und Tier! Wie ja eben gerade das menschliche Kind an Hilflosigkeit, Hässlichkeit und Geistlosigkeit tief unter den Jungen der meisten höheren Tiere steht. 55
So bedeutet jede neue Kunst zunächst einen Atavismus, einen Rückfall in eine tiefere Bildungs- und Schönheitsphase. Hier bleiben so viele ihrer Jünger stehen, weil sie nicht begreifen, dass es schliesslich gerade auf eine um so höhere Vergeistigung dieses neu gewonnenen Stücks Natur ankommt. Nicht wir müssen der Natur, sondern die Natur muss uns gewonnen werden. Aber man muss das Land bestiegen und erforscht haben, das man erobern will. Bei dieser Arbeit finden wir heute die grössten europäischen Schriftsteller, vor allem den kühnsten und unerschrockensten, aber auch den arbeitsamsten und robustesten: Emile Zola.
Der Schrei des Entsetzens über das Hässliche jeder neuen Kunst ist ein stereotyper. Von Thespis bis Shakespeare, von Shakespeare bis Heine, von Heine bis Dostojewski und Strindberg, ewig das alte Einerlei, die alte Klage. Man hat sich schon oft darüber verwundert, wie doch selbst Goethe, dieser Universalmensch, den beiden grössten poetischen Erscheinungen in Deutschland, die er noch erlebt hat, nämlich H. v. Kleist und Heine, so verständnis- und lieblos gegenübergestanden habe. Sehen wir von Heine ab, dessen Bekanntschaft für Goethe eine zu flüchtige gewesen ist, um hier in Betracht zu kommen! Aber Heinrich von Kleist, zu dem doch selbst unsere Litteraturgeschichte heute Ja und Amen gesagt hat! O, hat ihn denn Goethe wirklich nicht verstanden? Sollte Goethes Universalismus etwa darin bestanden haben, dass er, gleich unseren Bildungsphilistern, Alles verstanden hat, nur das Grosse nicht? Dieser feine Geist sollte für die grössten Wirkungen stumpf gewesen sein? Ach, er hat Kleist nur zu sehr verstanden! Aber – die Sache verhält sich weit schlimmer, er hat ihn nicht gemocht. Einige Urteile Goethes über Kleist gehören zu dem 56 Treffendsten, was überhaupt über diesen geschrieben, und werden auch in Zukunft stets respektiert sein wollen. Allein, er fühlte, dass sich hier ein fremdes, ihm feindseliges Kunstprinzip ans Licht wagte, und –; nun er, der so viele Duldung gegen kleinere und kleinste Geister übte, hier wäre Duldung ein Selbstverrat gewesen. Hieran erkenne ich, selbst wenn die Aeusserungen Goethe's über Kleist weniger vortrefflich gewesen wären, dass er ihn ganz verstanden hat, aber wie sich Feinde sofort verstehen. Doch dieser Zug, so bedauernswert es für den deutschen Litteraturfreund sein mag, dass sich zwei seiner vergötterten Götter nicht sofort liebevoll um den Hals gefallen sind, er zeugt mehr für Goethes Grösse und Charakter, den man so häufig angezweifelt hat, als sein liebenswürdiges Entgegenkommen gegen die kleineren Geister. Goethe fand Kleist unerträglich hässlich – er spricht es deutlich genug aus – d. i. hassenswert. Ganz anders der kleinere, gutmütigere, liebenswürdigere und charakterlosere Wieland, er war sofort ganz einverstanden mit Kleist, ein Herz und eine Seele. Natürlich! Er hatte ja nicht so viel zu verlieren!
Es wiederholt sich hier nur das Schauspiel: Lessing–Goethe, Schopenhauer–Wagner, Voltaire–Shakespeare, Solon–Thespis, Pericles–Aristophanes u. s. w.
Auch der Sinn für das Schöne muss uns angeboren, anerzogen, vererbt sein; oder eigentlich, noch viel bestimmter gesprochen, der Sinn für ein bestimmtes Schöne. Wenn die Antike unserem Auge so wohl thut, so liegt das nicht sowohl an der Antike, als an unserem Auge, welches ein paar Jahrhunderte sich daran gewöhnt hat, in der Antike das Schöne zu erblicken. Aber weil diese Arbeit für uns eine ganz unbewusste war, haben wir sie längst vergessen und schliessen jetzt falsch und rückwärts: die Antike ist schön, und deshalb gefällt sie uns. 57
Wir sagen auch, wenn eine Kunst zur Jünglingsreife gekommen ist (abermals sind wir es, die da reif geworden sind): Diese Kunst, z. B. Sophocles, Calderon, Raphael, Mozart, Goethe, Byron, muss den Gipfel des Schönen bedeuten; denn sie hat etwas Strahlendes, Sieghaftes. Und zum dritten Male schliessen wir falsch: Nicht diese Kunst hat etwas Sieghaftes, nicht sie siegt, sondern wir sind die Sieger; ein Stück vererbten Geschmacks in uns – ehedem selbst bezwungen und besiegt – feiert hier seinen Sieg. Unsere Art zu sehen, zu empfinden, zu hören und zu denken siegte in diesen Werken.
Und wie mit der Schönheit, so verhält es sich mit der Menschlichkeit und den Ideen.
Aber freilich, bei uns spricht man ja noch immer von absoluten Ideen. Wir kennen ja auch absolute Leidenschaften und Gefühle. Wir begnügen uns nicht, einen Liebenden, Ehrgeizigen, Leichtsinnigen darzustellen, wir wissen immer nur von der Liebe, dem Ehrgeiz, der Eifersucht zu singen und zu sagen, jenen »ewigen menschlichen Leidenschaften«, in Bezug auf welche die Menschheit sich immer gleich bleibt. Daher auch die vielen Schemen in der Dichtung. Ganze Gebiete unserer neueren Litteratur sind nur noch eine einzige Allegorie! Und als ob die Liebe, der Hass, die Eifersucht und der Neid nicht ewig ungleich seien – so ungleich, dass sie gar nicht mehr zu demselben Worte passen und auch thathsächlich von Zeit zu Zeit unter ganz veränderten Namen auftreten – als ob sie nicht ewig in veränderter Gestalt erschienen, sich anders einführten und rechtfertigten! Als ob zur Liebe, Eifersucht u. s. w. nicht die ganze Summe von Vorstellungen gehörte, all' die Träume und Phantastereien, die gesellschaftlichen Conventionen und religiösen Ahnungen! 58 Als ob der Begriff und die Empfindung der Eifersucht z. B. nicht auch ganz besonders von der gesellschaftlichen Stellung der Frau abhinge! Was wohl die Eifersucht Don Gutierres mit der eines modernen Geschlechts-Invaliden zu thun hat? Was die Othello's mit der eines modernen Salon-Gecken? O, ihre Eifersucht ist sich so ganz gleich, dass, wo in dem einen Fall Hass, Abscheu, geschwollenstes Selbstbewusstsein, in dem anderen Furcht, Demütigung, Misstrauen gegen sich die stärksten Beimischungen derjenigen komplizierten Gefühle sind, welche man die Eifersucht nennt; dass, was in dem einen Falle aus der Stärke, in dem anderen gerade aus der Schwäche des männlichen Individuums entspringt! Und ewig gleich sind sich auch die Folgen: Der Eine tötet sein Weib, der Andere vielleicht sich selber!
Aber, was thut's! Die Sache ist doch ewig die gleiche! Shakespeare ist deshalb so gross, weil er das ewig Menschliche dargestellt hat. Selbst Goethe, nachdem er erkannt, dass Shakespeare's Römer doch eigentlich nur verkappte Engländer seien (richtiger hätte er sagen müssen: verkappte Shakespeare's und erst als solche Engländer) fügt hinzu: »Aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga«; und vorher: »Er kennt recht gut das innere Menschenkostüm, und hier gleichen sich alle.«
Aber hier gleichen sich alle – nicht! –
Was ist Wahrheit? Was ist Lüge in der Kunst? Sind Kunst und Leben und Kunst und Wahrheit Gegensätze, wie es gewissen Zeitaltern, in denen neue Wahrheiten gelten, z. B. den ersten Christen, gegenüber einer älteren Kunst erscheint? Es sind dies aber jedesmal Gegensätze zweier 59 Zeitalter, die nur äusserlich zusammen fallen! Die Kunst ist so lange wahr, als das Leben, das es darstellt und repräsentirt, besteht und Geltung hat. So lange man z. B. noch an Götter glaubt, hat in der Kunst das Auftreten von Göttern auch objektiv Wahrheit, sind eben diese Götter Realitäten. Nicht das Geschehene oder Gehörte oder irgend wie durch die Sinne Wahrnehmbare, sondern immer nur das Geglaubte, das Gewollte und Notwendige ist wahr. Und nicht nur von dem Schauspieler gilt das Schiller'sche Wort: Denn wer den Besten seiner Zeit (das Wort als Kultur-Maass genommen) genug gethan, der hat gelebt für alle Zeiten! Ein Vers, der vielleicht nicht schlechter wird, wenn ich mir zwei Konjekturen gestatte:
Denn wer's den Besten seiner Zeit zuvor gethan,
Der hat gewirkt für alle Zeiten!
* * *
Was nicht irgend einmal Jemandem als durchaus wahr und notwendig erschienen ist, das ist, selbst wenn es sich thatsächlich so zugetragen hätte, eben nicht wahr, besitzt gar keine Realität.
Der grosse Künstler schafft nicht Typen, sondern Prototypen.
Realistisch ist daher alle Kunst, die auf das Leben (lebendig) wirkt, deren Realismen sich auf das Leben (den Menschen, Staat, Natur) verpflanzen. Die Realität fliesst also nicht vom Leben in die Kunst über (oder doch nicht allein), ein Werk ist deshalb nicht realistisch, weil dies geschieht, sondern nur deshalb, weil es auf das Leben (Staat, Menschen, 60 Gesellschaft), realisirend einwirkt, und so lange es dies thut. Der verlogene, durch die Kultur idealisirte Mensch soll wieder wirklich, real, Natur werden – durch die moderne Kunst. Der letzte Zweck des Realismus geht also nicht auf die Kunst, sondern auf das Leben selbst.
Die Realität eines Kunstwerks kann also niemals durch das Objekt oder die Objektivität, sondern immer nur durch die Darstellung erwiesen werden. –
Ein Werk beginnt freilich nicht sofort zu sinken mit dem Glauben an dasselbe. Aber sein Wert beginnt jetzt zu variieren. Es wird, um mit Nietzsche zu sprechen, »umgewertet«. Das lässt sich am besten beim Märchen wahrnehmen. Das entwertet nicht sogleich, weil der Leser eines Tages erwachsen ist und nicht mehr an seinen Inhalt glaubt. Wohl aber wird es als Kunstwerk mit jenem Tage eine veränderte Bedeutung erhalten, und zwar je nach dem künstlerischen Empfinden des Lesers eine höhere oder geringere. Dem Einen steigt es an Wert: ihm ist die grössere Freiheit, die sein Geist dem Stoffe gegenüber hat, der grössere Reiz; dem Andern wird es gleichgiltiger, weil ein reines Phantasiespiel sein höchstes künstlerisches Bedürfnis nicht befriedigt, weil die blosse Erinnerung verjährter Genüsse und Eindrücke ihn mehr peinigt als entzückt. –
Als nun der Kampf um den Realismus und Idealismus ausgebrochen war, da kamen die Ueberschlauen und erklärten: Idealismus und Realismus, das sind ja gar keine Gegensätze, alle grossen und wahren Kunstwerke sind zugleich ideal und real. Anstatt, was weitaus klüger gewesen wäre, sie beide auszulachen und zu erklären, dass sie beide Thoren seien, sowohl die Idealisten als auch die Realisten; doch jedesmal diejenigen die Thörichteren von den beiden, die gerade am 61 Worte seien! Denn es ist wahrhaftig eine Thorheit, ein ideales oder reales Werk schaffen zu wollen, was die Gescheiteren denn auch gar nicht thun, weil alle besseren Werke bei ihrem Entstehen nicht Beides zugleich, sondern keins von Beiden sind, weder realistisch noch idealistisch. Denn das ist mein Satz: Kein Werk ist von Haus aus real oder ideal, sondern wird es. Ein Jahrhundert macht es zu beiden, zum realistischen und idealistischen Werke. Denn was jene Ueberschlauen immer im Sinne hatten, das war nicht die neue, sondern die alte Kunst. Sie hatten richtig bemerkt, dass die Dichtungen der klassischen Periode heute auf uns zugleich ideal und real wirken. Aber sie haben sich niemals, wie sie doch als Historiker, wenn sie Kritiker und Aesthetiker sind, oder als Künstler, sollten, auf den Standpunkt der schaffenden Dichter gestellt, sondern sie immer nur als Zuschauer, als Geniessende, als Nachwelt betrachtet. Wir Nachkommen der Goethe und Shakespeare, wir sollten ihre Welt nicht als Realität ansehen, die wir doch ihre eigenen Schöpfungen sind, die wir mit ihren Augen zu sehen gelernt haben? Wenn das keine Realitäten sind, dann sind wir am Ende selber keine! Zum Teufel auch, sollte für die Hamlets etwa die Hamlet-Tragödie keine Realität besitzen? Aber wie stands vor hundert, vor zweihundert Jahren? Hat damals nicht Alles das, was uns heute als Realität erscheint, verwirrend, falsch, thöricht und unwirklich erschienen? Und gerade den Gebildetsten vorerst? Ist Shakespeare also in der That nicht im Laufe der Zeit real geworden? Und zwar je realer, je älter er wurde? Und sind die ältesten Werke (Homer, die Bibel) nicht die realsten und idealsten zugleich? Die Realität und Idealität eines Kunstwerkes sind also durchaus keine Voraussetzungen, sondern historische Folgerungen. 62
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