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Gottfried Keller an Theodor Storm

Zürich, 26. Februar 1879.

Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Brief an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum erstenmal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondschein liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis.

Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe und Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch Bäume setzen. Sie sind aber ja ein Hexenmeister von Fleiß, wenn wir drei neue Arbeiten zu gewärtigen haben; sie sollen und werden Ihrem guten Namen nichts schaden, da Sie ja das Vermögen nicht besitzen, absichtlich unter sich selbst herabzusteigen, wie gewisse Industrielle, und unabsichtlich hat es doch auch seine Mucken.

Den koketten Rhapsoden Jordan hab ich vor Jahren hier auch gehört, und zwar in den gleichen Kapiteln; gar wunderbar war es, das kränkliche Knäblein der Brunhild (welch modernes Romanmotiv!) zu Siegfried sagen zu hören: »Du bist lieber als Papa.« Jordan ist gewiß ein großes Talent; aber es braucht eine hirschlederne Seele, das alte und einzige Nibelungenlied für abgeschafft zu erklären, um seinen modernen Wechselbalg an dessen Stelle zu schieben. Jenes Nibelungenlied wird mir auch mit jedem Jahr lieber und ehrfurchtgebietender, und ich finde in allen Teilen immer mehr bewußte Vollkommenheit und Größe. Als man nach der besagten Vorlesung in Zürich aus dem Saale ging, hatte sich der Rhapsode unter der Türe aufgestellt, und jeder mußte an ihm vorbeigehen. Vor mir her ging Kinkel, auch ein Vortragsvirtuose und »schöner Mann«, und nun sah ich, wie die beiden sich kurz zunickten und lächelten in einer Weise, wie nur zwei Frauen sich zulächeln können. Ich wunderte mich, wie zwei so lange Kerle und geriebene Luder sich gegenseitig so schofel behandeln mögen. Wahrscheinlich verdirbt das reisende Deklamierwesen etwas die Poeten.

Petersen ist ja eine fürsorgliche edle Seele; wenn es auf ihn ankäme, so ließe er uns den Verlegern schön mitspielen, daß ihnen Hören und Sehen verginge. Indessen schenken wollen wir den Herren gerade auch nichts. Da wir an Geldsachen sind, so will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehn-Pfennig-Marken frankiert, während es nach außerhalb des Reiches zwanzig sein müssen. Nun habe ich eine Schwester und säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des dritten Stockes hinunterläßt, das Zetergeschrei erhebt: »Da hat wieder einer nicht genug frankiert!« Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls und schon von weitem: »Jungfer Keller, es hat wieder einer nicht frankiert!« Dann wälzt sich das Spektakel in mein Zimmer: »Wer ist denn da wieder?« (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Konkurrenz in den österreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassikers aus dem Buche ersichtlich ist.) »Den nächsten Brief dieser Art«, schreit die Schwester fort, »wird man sicherlich nicht mehr annehmen!« – »Du wirst nicht des Teufels sein!« schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse und Poststempel zu studieren, verfällt aber, da sie meine offenstehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studierzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. »Raus mit der Suppe!« heißt's jetzt, »und stell sie in deinen Ofen!« »Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!« Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab, und die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage gewechselt.

Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen. Machen Sie es aber nicht wie Paul Lindau, der mir seinerzeit nach einer Reihe von halbfrankierten Mahnbriefen um irgend einen Geschäftsartikel schnöd bemerkte, so was könne bei ihm gar nicht vorkommen; höchstens könne es sich um ein einmaliges Versehen seines Sekretärs handeln, er bitte deshalb um Nachsicht wegen des unliebsamen Vorfalls usw. Da hatt' ich von diesem Humoristen mein Teil weg!

Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich und hoffe, daß ich in der Tat einen Ruck vorwärts tue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an, unsicher zu werden, und ein Altersgenosse nach dem andern wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste, vor allem Beruhigung wegen des mysteriösen Übels, von dem Sie mir schrieben, und an das wir vorderhand nicht glauben wollen.

Ihr G.Keller

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Nietzsches Freund, der Basler Professor für protestantische Theologie und Kirchengeschichte Franz Overbeck, ist eine der großen Mittlergestalten gewesen. Was Sinclair Hölderlin bedeutet hat, ist Overbeck für Nietzsche gewesen. Solche Männer, in denen man oft nur eine Art wohlmeinender Helfer, wenn nicht gar Interessenvertreter gesehen hat, sind unendlich viel mehr: Repräsentanten einer einsichtsvolleren Nachwelt. So oft sie auch die primitivste Sorge für jene übernehmen, deren Rang sie ein für alle Mal erkannten, niemals übertreten sie die Schranken, die sie als Stellvertreter zu wahren haben. Kein Schriftstück aus dem langen, brieflichen Verkehr zwischen Nietzsche und Overbeck bezeugt das eindrucksvoller als das folgende. Und dies, weil von allen Briefen, die der Freund an Nietzsche gerichtet hat, dieser der kühnste sein mag. Nicht nur dem Vorschlag nach, mit dem er sich an den Verfasser des Zarathustra wendet: eine Gymnasiallehrerstelle in Basel anzunehmen – sondern gleich sehr durch die Beschwörungen, die Nietzsches Lebensform, ja seine innersten Konflikte angehen. Wie diese sich mit nüchternen Informationen und Erkundigungen durchflechten, das macht die eigentliche Virtuosität des Schreibens, das somit nicht nur wie von einem Paß den Blick auf Nietzsches Daseinslandschaft öffnet, sondern zugleich ein Bild vom Schreiber gibt. Und zwar von seiner innersten Natur. Denn dieser Mittler konnte, was er war, nur sein, weil er den schärfsten Blick für die Extreme hatte. Seine Streitschriften – »Christentum und Kultur«, »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« – haben das auf das rücksichtsloseste bekundet. Echte Christlichkeit ist ihm Religion unbedingter eschatologisch begründeter Weltverneinung, der gemäß ihm ihr Eingehen in die Welt und deren Kultur als Verleugnung ihres Wesens, alle Theologie von der patristischen Zeit ab als Satan der Religion erscheint. Daß er sich selber mit diesen Schriften »als Lehrer der Theologie zu Deutschland heraus geschrieben« habe, hat Overbeck gewußt. Hier der Brief, dessen Schreiber und Adressat freiwillig aus dem Deutschland der Gründerzeit sich verbannt hatten.


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