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Cassel, 9ten Januar 1825.
Liebes Fräulein Jenny!
Ich danke Ihnen für die beiden Briefe, die ich von Ihnen erhalten habe, und für die freundschaftliche und wohlwollende Gesinnung, die daraus spricht: ich habe sie von Herzen gefühlt und erkannt. Ich könnte das vielleicht noch besser und schöner ausdrücken, aber warum sollten Sie die Wahrheit davon nicht in den wenigen Worten empfinden. Es ist nun schon lange, seit ich Sie zuerst gesehen habe, und viele Jahre sind jedesmal verflossen, ehe wir uns Ihrer Gegenwart wieder erfreuten, und doch ist mir jedesmal gleich vertraulich in Ihrer Nähe vorgekommen, darum stelle ich mir auch nicht vor, daß Sie uns vergessen würden oder Ihr Andenken an uns in der Zeit verblassen könne. Es ist schön, wenn es Menschen gibt, an die man mit Vertrauen und Sicherheit zu allen Zeiten denken darf. Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal geschrieben, daß mir unser Leben oft wie ein Gang in einem unbekannten Lande vorkommt, denn ungewiß ist ja alles, was uns begegnet. Der Himmel ist überall in gleicher Nähe über uns und um uns, und ich vertraue wie Sie, daß er mir wird begegnen lassen, was mir gut ist; gleichwohl sind unsere Füße an den Boden gefesselt, und wir empfinden es schmerzlich, wenn wir in dürrem und heißem Sand dahin schreiten, und wir dürfen uns wohl nach den grünen Wiesen, Wäldern, nach den Orten sehnen, die liebreiche Menschen angebaut haben. Dies wird Sie wieder an meine Erzählung von meinen Spaziergängen erinnern, auf welchen ich so ungern einem Gesicht begegne, dessen Ausdruck mich stört; denn ich kann es doch nicht lassen, die Menschen anzusehen. Diese vielleicht allzugroße Empfindlichkeit mag auch daher kommen, daß ich seit vielen Jahren, eigentlich so lange ich mich besinnen kann, allein spazieren gegangen bin. In früheren Jahren mußte ich es tun, weil ich wegen Kränklichkeit langsam ging, und so ist es mir als Gewohnheit geblieben; ich bin auf diese Art am liebsten mit mir selber allein, und es ersetzt mir die Einsamkeit, nach der ich mich manchmal, so gerne ich unter Menschen bin, und so wenig ich lange allein sein möchte, außerordentlich sehne. Ich begreife Ihre Abneigung, die Sie manchmal gegen Gesellschaft hegen; es ist gewiß immer recht und gut, wenn man sie bezwingt, aber ich werfe mir doch auch die Artigkeit gegen Menschen vor, die mir gleichgültig sind.
Ihre Blumen, die Sie uns geschickt haben, sind so schön, wie ich sie noch niemals in dieser Art gesehen habe. Sie dachten nur einen Sommer zu blühen und sind nun für so lange Zeit bewahrt, daß sie wohl einen Menschen ausdauern und länger. Wie schnell das Leben vergeht, mitten in der Beschäftigung und Arbeit fliegt mir die Zeit dahin. Vor einigen Tagen, am 4. Januar haben wir Jacobs Geburtstag gefeiert; glauben Sie wohl, daß er schon 40 Jahre alt ist? Manchmal ist er noch ganz wie ein Kind und ist auch ein so guter und edeldenkender Mensch, den ich vor Ihnen einmal loben möchte, wenn sichs schickte.
Sie hatten versprochen, die Cassiopea, die ich Ihnen hier zeigte, zu behalten; ich will Sie mit noch einem Sternbild bekannt machen, welches man in dieser Zeit sieht und das schönste unter allen ist. Wenn Sie an einem hellen Abend, etwa um 8, 9 Uhr mitten zwischen Osten und Süden gerade aufblicken wollen, so wird es vor Ihnen stehen; es sieht so aus, wenigstens in meinen Gedanken:
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Das Ganze heißt Orion, die zwei großen Sterne Rigel und Bellatrix, denn mit dem arabischen Namen des dritten will ich Sie nicht quälen. Die sechs in der Mitte stehenden Sterne heißen auch der Jacobsstab oder der Rechen, was Sie nun gar der Gärtnerei wegen nicht vergessen dürfen. Am Pfingsten versinkt es wieder im Westen und steigt im Herbst im Osten wieder auf.
Das Theater hat 40 Fuß Breite, 43 Fuß Höhe und 155 Fuß Tiefe. Hierin erhalten Sie die genaue Nachricht. Aber wie es mit den Schwänen gehalten wird, habe ich noch nicht erfahren können. Eigentlich glaube ich, man schneidet den Jungen die Flügel gar nicht, wenn sie auch auffliegen, kommen sie doch zur Heimat wieder zurück.
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Diesen Sommer ging ich einen Abend die Fulda hinauf; da hatte sich ein Schwan auf eine kleine Insel niedergelassen, saß da ganz stolz, dann ließ er sich in die Flut hinab und zog ein paar Kreise; der ist gewiß aus der Aue hierher geflogen, auch habe ich sie da einige Mal fliegen gesehen. Sonst brauchen Sie mir keine Zuneigung zu diesen Tieren anzuempfehlen: ich habe sie immer gerne gehabt; das stille, ernste und ruhige und doch heitere, das geistige, – denn man denkt, Meerschaum habe sich gebildet und belebt, das begeisterte, das sie neben dem kühlen und ruhigen zu haben scheinen, gefällt mir immer von neuem. Am schönsten habe ich sie im Anfang des Dezember gesehen: ich ging, wie ich es gerne tue, bei einbrechender Nacht an einem von den lauen und milden Abenden hinab in die Aue zu dem Wasser, weil ich das besonders gerne betrachtete. Mich erfreut immer das reine, leicht bewegliche Element. Die Trauerweiden hatten noch alle ihr Laub, nur war es hellgelb geworden, und die dünnen Zweige trieben sich mit sichtbarem Vergnügen in der Luft langsam hin und her. Im Osten leuchteten durch die Fichten und Tannen ein paar dunkelrote Streifen, während die andern schon in tiefer Dämmerung steckten. Nun schienen die Schwäne erst recht lebendig zu werden, zogen auf dem Spiegel hin und her, ihr Weiß leuchtete durch die Dunkelheit, und sie sahen wirklich wie übernatürliche Wesen aus, so daß ich mir die Nixen und Schwanenjungfrauen lebhaft vorstellen konnte, bis es endlich finstere Nacht wurde. Die Namen von Ihren Schwänen gefallen mir, nur Weißfüßchen ist mir ein Rätsel, oder soll er dadurch Bescheidenheit lernen? Nennen Sie nun auch einen Wassernix!
Damit will ich diesen Brief an einem Sonntagmorgen schließen, nur noch die herzlichsten Grüße von uns allen müssen Sie annehmen, ehe sie ihn hinlegen.
Wilhelm Grimm.
Den folgenden Brief hat der 75jährige Zelter an den 78jährigen Goethe gerichtet, ehe er nach seiner Ankunft in Weimar dessen Schwelle betrat. Es ist oft bemerkt worden, daß in unserer Literatur Glanz und Ruhm am meisten den Jünglingen, den Beginnenden und noch mehr den Frühvollendeten anhaften. Wie selten die Erscheinung des Männlichen in ihr ist, bekräftigt jede neue Beschäftigung mit Lessing. Vollends aus dem bekannten Raum der deutschen Bildungswelt ragt die Freundschaft heraus, in welcher zwei Greise in einem geradezu chinesischen Bewußtsein von der Würde des Alters und seiner Wünschbarkeit die Neige ihrer Lebenstage einander mit den erstaunlichen Trinksprüchen zubringen, die wir in Goethes Briefwechsel mit Zelter besitzen und von denen der folgende der vollkommenste sein dürfte.