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In der Nacht saß Marie Tonsard an der Straße nach Soulanges, am Rande eines Mohnfeldes und wartete auf Bonnébault, der seiner Gewohnheit nach den Tag über im Café herumgelungert hatte. Sie hörte ihn von weitem, und sein Schritt zeigte ihr an, daß er betrunken war und verloren hatte; denn wenn er gewonnen hatte, sang er.
»Bist du's, Bonnébault?«
»Ja, kleine . . .«
»Was hast du?«
»Schulde fünfundzwanzig Franken, und man würde mir wohl fünfundzwanzigmal den Hals umdrehen, ehe ich sie finde.«
»Gut, wir können ihrer fünfhundert haben,« sagte sie ihm ins Ohr.
»Oh, es handelt sich drum, einen umzubringen, ich aber will leben.«
»Bist du still! Vaudoyer gibt sie uns, wenn du ihn deine Mutter an einem Baume packen läßt.«
»Lieber will ich einen Menschen umbringen, als meine Mutter verkaufen. Du hast ja deine Großmutter, die Tonsard, warum lieferst du ihm die nicht aus?«
»Wenn ich's versuchte, würde mein Vater wütend werden und das Spiel verhindern.«
»Das ist wahr. Aber 's ist gleich, meine Mutter soll nicht ins Loch wandern . . . Arme Alte! Sie bäckt mir mein Brot, treibt Lumpen für mich auf, ich weiß nicht wie . . . Ins Gefängnis wandern . . . und das um meinetwillen! Ich würde ja kein Herz im Leibe haben! nein, nein. Und damit man sie ja nicht verkaufe, will ich ihr noch heute abend sagen, daß sie keine Bäume mehr zirkeln soll.«
»Nun gut; mein Vater soll tun, was er mag. Ich werd' ihm sagen, daß es fünfhundert Franken zu gewinnen gibt, und er wird meine Großmutter fragen, ob sie das will. Eine siebzigjährige Frau wird man doch niemals ins Gefängnis werfen! Uebrigens würde sie's dort im Grunde doch besser haben als auf ihrem Speicher.«
»Fünfhundert Franken! . . . Ich will mit meiner Mutter darüber reden,« sagte Bonnébault. »Wahrlich, wenn's sich machen läßt, daß ich sie kriege, werd' ich ihr 'ne Kleinigkeit davon lassen zum Leben im Gefängnis. Sie wird spinnen, sich unterhalten, wird gut genährt werden und gut untergebracht sein; sie wird viel weniger Sorgen haben als in Conches. Auf Morgen, kleine . . . Ich hab' keine Zeit, mit dir zu schwatzen.«
Am andern Morgen um fünf Uhr, bei Tagesgrauen, klopften Bonnébault und seine Mutter an die Tür des »Grand-I-Vert«, wo noch niemand auf den Beinen war als die alte Mutter Tonsard.
»Marie,« rief Bonnébault, »die Sache ist abgemacht, ich nehme sie auf mich.«
»Die Geschichte von gestern wegen der Bäume?« fragte die alte Tonsard. »Alles ist abgemacht, ich nehme sie auf mich.«
»Warum nicht gar? Mein Junge hat für diesen Preis einen Arpent von Monsieur Rigou versprochen gekriegt!«
Die beiden Alten stritten sich darum, welche von ihnen von ihren Kindern verkauft werden sollte. Der Lärm des Wortwechsels weckte das Haus auf. Tonsard und Bonnébault nahmen jeder für seine Mutter Partei.
»Lost doch mit Hälmchen,« sagte Frau Tonsard, die Schwiegertochter.
Der kürzere Halm entschied für die Kneipe. Drei Tage später führten die Gendarmen bei Tagesanbruch die alte Tonsard durch den tiefen Wald nach Ville-aux-Fayes. Sie war in flagranti von dem Hauptwächter und seinen Gehilfen und von dem Feldhüter erwischt worden. Man hatte bei ihr eine schlechte Feile gefunden, die ihr dazu diente, den Baum zu zerfleischen, und einen Durchschlag, mit dem die Delinquentin die ringförmige Rille glättete, wie das Insekt seinen Weg glättet. Man stellte im Protokoll fest, daß diese ruchlose Operation an sechzig Bäumen in einem Umkreise von fünfhundert Schritten vorgenommen worden war. Die alte Tonsard wurde nach Auxerre übergeführt. Das Schwurgericht war für diesen Fall zuständig.
Als Michaud die alte Tonsard am Fuße des Baumes sah, konnte er nicht umhin zu sagen: »Das sind die Leute, die der Herr Graf und die Frau Gräfin mit ihren Wohltaten überhäufen! . . . Meiner Treu, wenn Madame auf mich hörte, würde sie der kleinen Tonsard keine Mitgift geben; die taugt noch weniger als ihre Großmutter . . .«
Die Alte erhob ihre grauen Augen gegen Michaud und warf ihm einen giftigen Blick zu. Als der Graf hörte, wer der Urheber des Verbrechens war, verbot er seiner Frau in der Tat, Cathérine Tonsard etwas zu schenken.
»Der Herr Graf wird um so besser tun,« sagte Sibilet, »als ich erfahren habe, daß Godain das Feld drei Tage bevor Cathérine mit Madame sprach, gekauft hat. Die beiden Leute hatten mit der Wirkung dieser Szene und mit Madames Mitleid gerechnet. Cathérine ist fähig, sich in die Lage, in der sie sich befindet, gebracht zu haben, um einen Grund für die Notwendigkeit der Summe angeben zu können; denn Godain hat mit der ganzen Sache nichts zu tun!«
»Was für Menschen!« sagte Blondet; »die übelsten Subjekte von Paris sind Heilige dagegen.«
»Ach, mein Herr,« unterbrach ihn Sibilet, »der Eigennutz treibt die Leute überall zu Ungeheuerlichkeiten. Wissen Sie, wer die Tonsard verraten hat?«
»Nein!«
»Ihre Enkelin Marie, sie war auf ihre Schwester der Heirat wegen eifersüchtig, und um ein Heiratsgut zu bekommen . . .«
»Das ist furchtbar!« sagte der Graf. »Sie würden also auch morden?«
»Oh!« antwortete Sibilet, »für wenig Geld. Die Leute hängen ja nicht sehr am Leben! Sie sind es müde, immer nur zu arbeiten. Ach, Herr, auf dem flachen Lande verlaufen die Dinge ebensowenig regelmäßig wie in Paris; aber Sie werden's mir nicht glauben.«
»Seien Sie also gut und wohltätig!« sagte die Gräfin.
Am Abend der Verhaftung kam Bonnébault in die Schenke zum »Grand-I-Vert«, wo die ganze Familie Tonsard in Jubelstimmung war.
»Ja, ja, freut Euch nur! Ich hab' eben von Vaudoyer erfahren, daß die Gräfin, um euch zu bestrafen, die der Godain versprochenen tausend Franken zurückzieht; ihr Mann will nicht, daß sie sie gibt!«
»Der Schuft Michaud hat ihm das geraten,« sagte Tonsard. »Meine Mutter hat's gehört, sie hat mir's in Ville-aux-Fayes erzählt, als ich ihr Geld und ihre Sachen brachte. Nun, so gibt sie sie eben nicht; unsere fünfhundert Franken werden der Godain helfen, den Acker zu bezahlen; aber wir werden uns dafür rächen, wir zwei Godain . . . Hah, Michaud mischt sich in unsere kleinen Geschäfte? Das soll ihm mehr Böses als Gutes einbringen . . . Was geht ihn das an, frag ich euch? Geht das in seinen Wäldern vor sich? Trotzdem ist er der Urheber all des Lärms . . . ebenso wahr ist's, daß er Lunte gerochen hat am Tage, wo meine Mutter seinem Köter die Kehle abgeschnitten hat. Und wenn ich mich in die Angelegenheiten des Schlosses mischte, ich! Wenn ich dem General sagte, daß seine Frau morgens mit einem jungen Manne im Walde herumläuft, ohne den Tau zu fürchten! Da muß man Hitze in den Füßen spüren!«
»Der General, der General!« sagte Courte-Cuisse, »was ihn betrifft, könnte man alles tun, was man wollte. Aber Michaud ist's, der hinter ihm steht, der Ränkeschmied; pah! der nichts von seinem Berufe versteht! Zu meiner Zeit da ging alles anders.«
»Oh,« sagte Tonsard, »damals war eine gute Zeit für uns . . . nicht wahr, Vaudoyer?«
»Tatsache ist,« antwortete der, »daß wir, wenn Michaud nicht mehr da wäre, Ruhe haben würden.«
»Genug geschwatzt,« sagte Tonsard, »später werden wir darüber weiterreden, im Mondenscheine, auf freiem Felde.«
Gegen Ende Oktober reiste die Gräfin ab und ließ den General in Les Aigues; er sollte erst sehr viel später wieder mit ihr zusammentreffen. Sie wünschte die erste Vorstellung im Théâtre-Italien nicht zu versäumen. Ueberdies fühlte sie sich einsam und gelangweilt, sie hatte Émiles Gesellschaft nicht mehr, der ihr über die Stunden hinweghalf, wo der General die Felder besuchte und seinen Geschäften nachging.
Der November war ein richtiger Wintermonat, düster und grau, von Frost und Tauwetter, Schnee und Regen unterbrochen. Die Geschichte der alten Tonsard hatte die Reise der Zeugen notwendig gemacht und Michaud hatte Zeugnis abgelegt. Monsieur Rigou hatte Mitleid mit der alten Frau gehabt: er hatte ihr einen Advokaten gegeben, der in seiner Verteidigung Nachdruck darauf legte, daß nur die Aussagen interessierter Zeugen vorlägen. Doch Michauds und seiner Wächter Aussagen, die von denen des Feldhüters und von zwei Gendarmen bekräftigt wurden, entschieden die Sache.
Tonsards Mutter wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und der Advokat sagte zu Tonsard, dem Sohne:
»Die haben Euch Michauds Aussagen eingebrockt!«