Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Augenblick, wo der General in die Kalesche stieg, um nach der Präfektur zu fahren, kam die Gräfin am Avonnetor an, wo Michauds und Olympes Haushalt seit achtzehn Monaten untergebracht war.
Wer sich des Pavillons erinnerte, wie er weiter oben geschildert worden ist, würde ihn für neuaufgebaut halten. Zuerst waren die herabgefallenen oder durch die Zeit zerbröckelten Backsteine und der in den Fugen fehlende Mörtel wieder ergänzt worden. Die gereinigten Schieferplatten gaben der Architektur durch die Wirkung der in Weiß von diesem bläulichen Grunde sich abhebenden Geländerdocken ihre Heiterkeit wieder. Die aufgeräumten und mit Sand bestreuten Zugänge waren von dem Manne gepflegt worden, der damit beauftragt war, die Parkalleen instand zu halten. Da die Einfassung der Fenster, die Gesimse, kurz, alle Steinmetzarbeit wiederhergestellt worden war, hatte der Außenbau seinen alten Glanz wiederbekommen. Der Hühnerhof, die Pferdeställe, der Viehstall, die wieder in den Gebäuden der Fasanerie untergebracht worden waren und durch dichte Hecken verdeckt wurden, mischten, statt den Blick durch ihre schmutzigen Einzelheiten zu verletzen, in das den Wäldern eigentümliche ständige Brausen jenes Gemurmel, Gurren, Flügelschlagen, eine der köstlichsten Begleitmusiken der ununterbrochenen Melodie, welche die Natur singt. Dieser Ort hatte also gleichzeitig etwas von der ungepflegten Art wenig begangener Wälder und von der Eleganz eines englischen Parks. Die Umgebung des Pavillons, die mit seinem Aeußern in Uebereinstimmung stand, bot dem Blick etwas undefinierbar Edles, Würdiges und Anziehendes, ebenso wie die Sorgfalt und das Glück einer jungen Frau dem Inneren eine ganz andere Physiognomie gab als Courte-Cuisses brutale Sorglosigkeit ihm noch vor kurzem aufdrückte. In diesem Moment setzte die Jahreszeit all ihren natürlichen Glanz ins rechte Licht. Die Düfte einiger Blumenbeete vermählten sich mit dem kräftigen Waldgeruch. Einige Parkwiesen, die in der Umgebung eben geschnitten worden waren, verbreiteten Heuduft. Als die Gräfin und ihre beiden Gäste das Ende eines jener gewundenen Baumgänge erreichten, die beim Pavillon mündeten, sahen sie Madame Michaud, an Wickelzeug arbeitend, draußen vor ihrer Türe sitzen. Die so dasitzende und auf diese Weise beschäftigte Frau verlieh der Landschaft ein menschliches Interesse, das sie vervollständigte und das in der Wirklichkeit so rührend ist, daß gewisse Maler irrtümlicher Weise versucht haben, es in ihren Gemälden anzubringen.
Diese Künstler vergessen, daß der Geist einer Landschaft, wenn sie von ihnen gut wiedergegeben ist, so grandios ist, daß er den Menschen erdrückt, während eine ähnliche Szene in der Natur stets im richtigen Verhältnis zu der Person durch den Rahmen steht, in den das Auge des Sehenden sie einschließt. Wenn Poussin, Frankreichs Raffael, in seinen »Schäfern Arkadiens« die Landschaft nebensächlich behandelt hat, so hatte er genau erfaßt, daß der Mensch klein und dürftig wird, wenn die Natur auf einem Gemälde die Hauptsache ist.
Dort war August in seiner ganzen Pracht; eine Ernte stand bevor, es war ein Gemälde voll einfacher und starker Bewegungen. Dort fand sich der Traum vieler Menschen verwirklicht, in denen ein unbeständiges und durch heftigste Erschütterungen aus Gut und Böse gemischtes Leben das Verlangen nach Ruhe erweckt hat. Erzählen wir in wenigen Worten den Roman dieser Ehe. Justin Michaud hatte nicht sehr eifrig auf das Entgegenkommen des berühmten Kürassierobersten geantwortet, als Montcornet ihm die Bewachung von Les Aigues vorschlug: er dachte damals daran, wieder in Dienst zu gehen. Doch während der Unterredungen und Vorschläge, die ihn ins Hotel Montcornet führten, sah er Madames erste Kammerfrau. Dies junge Mädchen, das der Gräfin von ehrenwerten Pächtersleuten aus der Gegend von Alençon anvertraut worden war, hatte einige Hoffnungen auf Vermögen, zwanzig- oder dreißigtausend Franken, wenn sie einmal alle Erbschaften angetreten haben würde. Wie viele Landwirte, die sich jung verheiratet haben und deren Eltern noch leben, befanden sie sich in Notlage, konnten ihrer ältesten Tochter keine Erziehung geben und hatten sie bei der jungen Gräfin untergebracht. Madame de Montcornet ließ Mademoiselle Olympe Charel Nähen und Putzmachen lernen, nahm sie in ihren persönlichen Dienst und wurde für diese freundliche Sorge durch eine jener vollkommenen Anhänglichkeiten belohnt, die den Parisern so notwendig sind.
Olympe Charel, eine hübsche, ein bißchen rundliche Normannin, mit goldgetöntem Blondhaar, mit einem durch ein kluges Auge beseeltem Gesichte, das durch eine feingebogene Marquisennase und, trotz ihrer üppigen spanischen Taille, durch einen jungfräulichen Ausdruck auffiel, zeigte alle Vorzüge, die ein junges, unmittelbar aus dem Volke stammendes Mädchen dank der Annäherung, die ihre Gebieterin ihr zu erlauben geruht, sich aneignen kann. Sie war anständig gekleidet, zeigte eine schickliche Haltung und wußte sich gut auszudrücken. Michaud fing also leicht Feuer, noch dazu als er hörte, daß seine Schöne eines Tages ein ziemlich beträchtliches Vermögen haben würde. Die Schwierigkeiten kamen von Seiten der Gräfin, die sich von solch einem prächtigen Mädchen nicht trennen wollte; als Montcornet ihr aber seine Lage in Les Aigues auseinandergesetzt hatte, erlitt die Heirat keine weitere Verzögerung als durch die Notwendigkeit, die Eltern um Erlaubnis zu fragen, deren Einwilligung denn auch prompt gegeben wurde.
Nach seines Generals Beispiel sah Michaud seine junge Frau als ein höheres Wesen an, dem er ohne Hintergedanken militärisch gehorchen mußte. Er fand in dieser häuslichen Ruhe und in seinem außerhalb des Hauses beschäftigten Leben die Elemente des Glücks, welche Soldaten, wenn sie ihren Beruf aufgeben, ersehnen: soviel Arbeit, wie der Körper verlangt, und Ermüdung genug, um die Reize der Ruhe auskosten zu können. Trotz seiner bekannten Unerschrockenheit hatte Michaud niemals eine schwere Verwundung erlitten, er empfand nichts von jenen Schmerzen, welche die Laune der Veteranen verbittern müssen. Wie alle wirklich starken Menschen hatte er eine stets gleiche Laune; seine Frau liebte ihn daher ohne Einschränkung. Seit ihrer Ankunft im Pavillon kostete dieser glückliche Ehebund die Süßigkeit der Flitterwochen in Einklang mit der Natur und der Kunst aus, deren Schöpfungen ihn umgaben: ein recht seltener Glücksumstand. Die uns umgebenden Dinge stehen ja nicht immer in Uebereinstimmung mit unserer seelischen Verfassung.
Dieser Augenblick war so hübsch, daß die Gräfin Blondet und den Abbé Brossette anhielt; denn sie konnten die reizende Madame Michaud sehen, ohne von ihr erblickt zu werden.
»Wenn ich lustwandle, komme ich immer in diesen Teil des Parks,« sagte sie ganz leise. »Es macht mir Vergnügen, den Pavillon und seine beiden Turteltauben zu betrachten, wie man eine schöne Landschaft gern anschaut.«
Und sie stützte sich bedeutsam auf Emil Blondets Arm, um ihn an Gefühlen von einer Zartheit teilnehmen zu lassen, welche man nicht auszudrücken vermöchte, die aber Frauen erraten werden.
»Ich möchte Portier in Les Aigues sein!« antwortete Blondet lächelnd. »Nun, was ist Ihnen?« fuhr er fort, als er einen traurigen Ausdruck sah, den diese Worte auf dem Antlitz der Gräfin hervorgerufen hatten.
»Nichts.«
»Wenn Frauen einen inhaltsschweren Gedanken hegen, sagen sie stets heuchlerisch: ›Ich habe nichts.‹«
»Aber wir können von Gedanken gequält werden, die Ihnen als unbedeutend erscheinen, uns aber schrecklich sind. Auch ich beneide Olympia um ihr Los . . .«
»Gott hört Sie!« sagte Abbé Brossette lächelnd, um diesem Worte seinen ganzen Ernst zu nehmen.
Madame de Montcornet wurde unruhig, als sie in Olympes Haltung und Antlitz einen Ausdruck von Furcht und Traurigkeit erblickte. Aus der Weise wie eine Frau ihren Faden in jedem Augenblicke verfolgt, errät ein anderes Weib ihre Gedanken. Obwohl sie mit einem hübschen rosa Kleide angetan war, mit bloßem Kopfe und sorgfältig frisiert dasaß, hing die Frau des Oberwächters tatsächlich keinen Gedanken nach, die im Einklang mit ihrem Anzuge, mit dem schönen Tage und mit ihrer Beschäftigung standen. Ihre schöne Stirn, ihr Blick, der sich zeitweise auf den Sand oder das Blättergewirr heftete, die sie nicht sah, zeigten um so unbefangener den Ausdruck einer tiefen Angst, als sie sich nicht beobachtet wußte.
»Und ich beneidete sie! Was kann ihre Gedanken verdüstern?« sagte die Gräfin zum Pfarrer.
»Erklären Sie doch, Madame,« erwiderte Abbé Brossette ganz leise, »warum der Mensch inmitten vollkommener Glückseligkeit immer von unbestimmten, aber düsteren Vorahnungen befallen wird?«
»Pfarrer,« erwiderte Blondet lächelnd, »Sie erlauben sich Kardinalsfragen. ›Nichts wird gestohlen, alles wird bezahlt,‹ hat Napoleon gesagt.«
»Eine solche Maxime aus dem kaiserlichen Munde nimmt Verhältnisse an, die denen der Gesellschaft gleichen,« antwortete der Abbé.
»Nun, Olympe, was hast du, mein Kind?« fragte die Gräfin, indem sie sich ihrer ehemaligen Dienerin näherte. »Du scheinst träumerisch, traurig . . . sollt' es einen Ehezwist gegeben haben?«
Als Madame Michaud sich erhob, hatte sie ihren Gesichtsausdruck bereits gewechselt.
»Liebes Kind,« sagte Emil Blondet mit väterlichem Tonfall, »ich möchte gern wissen, was Ihre Stirne verdüstern kann, wenn wir in diesem Pavillon sind, wo man beinahe ebenso schön untergebracht ist, wie der Graf von Artois in der Tuilerien? Es sieht hier so aus, als ob Sie in einem Nachtigallenneste im Gebüsche säßen! Haben Sie nicht den bravsten Burschen der jungen Garde als Ehemann, einen schönen Menschen, der Sie zum Närrischwerden liebt? Wenn ich die Vorteile gekannt hätte, die Montcornet Ihnen hier zubilligt, würde ich meine Zeitungsschreiberei an den Nagel gehängt haben, um Hauptwächter hier zu werden!«
»Das ist keine Stellung für einen Mann Ihrer Begabung,« erwiderte Olympe, Blondet wie einem alten Bekannten zulächelnd.
»Was hast du denn, meine liebe Kleine?« fragte die Gräfin.
»Ach, Madame, ich hab' Angst . . .«
»Angst! Wovor?« fragte die Gräfin lebhaft, die sich bei diesem Worte Mouches und Fourchons erinnerte.
»Furcht vor Wölfen?« fragte Emil, Madame Michaud ein Zeichen gebend, das sie nicht verstand.
»Nein, Herr, vor den Bauern. Ich, die ich in dem Perche geboren bin, wo es wohl einige böse Menschen gab, glaube nicht, daß es dort so viele und so bösartige Menschen gibt wie hierzulande. Ich will mich gewiß nicht in Michauds Angelegenheiten mischen, aber er mißtraut den Bauern doch genug, um sich selbst am lichten Tage zu bewaffnen, wenn er durch den Wald geht. Er sagt seinen Leuten, sie sollten stets auf ihrer Hut sein. Es streifen hier von Zeit zu Zeit Gesichter herum, die nichts Gutes anzeigen. Gestern ging ich längs der Mauer zur Quelle des kleinen sandigen Baches, der aus dem Walde kommt und fünfhundert Schritte von hier durch ein Gitter in den Park tritt, zu der Quelle, die man nach den Glimmerblättern, die Bouret, wie es heißt, hineingestreut hat, die Silberquelle nennt . . . Sie wissen Bescheid, Madame? . . . Nun, da hab' ich zwei Weiber gehört, die ihre Wäsche wuschen an der Stelle, wo der Bach die Allee von Conches durchschneidet; sie wußten nicht, daß ich dort war. Von da aus sieht man unseren Pavillon; die beiden Alten zeigten ihn einander. ›Man hat's sich Geld kosten lassen,‹ sagte die eine, ›für den, der den braven Courte-Cuisse ersetzt hat!‹ – ›Man muß einen Menschen, der's auf sich nimmt, uns arme Leute hier zu quälen, doch gut bezahlen!‹ antwortete die andere. – ›Er wird sie nicht lange quälen!‹ hat die erste entgegnet, ›das wird ja ein Ende haben müssen. Nach allem haben wir das Recht, Holz zu holen. Die selige Madame von Les Aigues ließ uns Reisholz sammeln. Das geht seit dreißig Jahren so: seitdem hat's sich eingebürgert.‹ – ›Wir wollen sehen, wie die Dinge im nächsten Winter gehen werden!‹ hat die zweite erwidert. ›Mein Mann hat die heiligsten Eide geschworen, daß die ganze Gendarmerie des Bezirks uns nicht hindern sollte, ins Holz zu gehen, er selber würde gehen, und dann sollte man was erleben! . . .‹ ›Verdammt! wir wollen doch nicht vor Kälte verrecken und wollen doch vor allem auch unser Brot backen!‹ fuhr die erste fort. ›Denen da geht nichts ab! Die kleine Frau des Schufts Michaud wird gehätschelt . . . geht mir doch . . .‹ Kurz, Madame, sie haben gräßliche Dinge über mich, über Sie und den Herrn Grafen gesagt . . . Schließlich haben sie erklärt, man würde zuerst die Meiereien und dann das Schloß anstecken.«
»Bah,« sagte Émile, »Wäscherinnengetratsch. Man bestahl den General und wird ihn nicht weiter bestehlen. Die Leute da sind wütend und weiter nichts. Denken Sie doch daran, daß die Regierung überall der Stärkere ist, überall, selbst in Burgund. Im Falle eines Aufruhrs würde man, wenn es nötig wäre, ein ganzes Kavallerieregiment kommen lassen.«
Der Pfarrer machte Madame Michaud hinter der Gräfin Rücken Zeichen, um sie zu veranlassen, ihre Besorgnisse zu verschweigen, die zweifellos eine Wirkung des zweiten Gesichts waren, welches die wahre Liebe verleiht. Wenn man sich ausschließlich mit einem einzigen Wesen beschäftigt, umfaßt die Seele am Ende die moralische Welt, die sie umgibt, und sieht darin die Elemente der Zukunft. In ihrer Liebe empfindet eine Frau die Vorgefühle, die später ihre Mutterschaft erhellen. Daraus ergeben sich gewisse Melancholien, gewisse unerklärliche Traurigkeitsanwandlungen, welche die Männer überraschen, die alle von einer ähnlichen Konzentration durch die großen Sorgen des Lebens, durch ihre beständige Tätigkeit abgezogen werden. Jede wahre Liebe wird für das Weib eine aktive, je nach den Charakteren mehr oder minder hellsichtige, mehr oder minder tiefe Anschauung.
»Wohlan, liebes Kind, zeige Herrn Émile deinen Pavillon,« sagte die Gräfin, die so nachdenklich geworden war, daß sie die Péchina vergaß, um derentwillen sie doch hergekommen war.
Das Innere des wiederhergestellten Pavillons stand im Einklang mit seinem glänzenden Aeußeren. Indem er die ursprüngliche Einteilung wiederherstellte, hatte der aus Paris mit Arbeitern – was dem Bourgeois von Les Aigues von den Leuten in Ville-aux-Fayes sehr verübelt wurde – geschickte Architekt im Erdgeschoß vier Räume geschaffen. Erstens ein Vorzimmer, in dessen Hintergrunde eine alte hölzerne Balustertreppe hinaufführte, und hinter dem sich eine Küche befand; zweitens rechts und links von dem Vorzimmer zwei weitere Räume: ein Eßzimmer und der mit einer wappengeschmückten Decke versehene, ganz mit schwarzgewordenem Eichenholz getäfelte Salon. Der von Madame de Montcornet für die Wiederherstellung von Les Aigues gewählte Architekt hatte Sorge getragen, das Mobiliar dieses Salons mit der alten Dekoration in Einklang zu bringen.
Zu jener Zeit legte die Mode den Resten vergangener Jahrhunderte noch keinen übertriebenen Wert bei. Die aus Nußbaum geschnitzten Sessel, die hochlehnigen, mit Stickereien bezogenen Stühle, die Konsolen, die Uhren, die Gobelins, die Tische, die Lüster, welche bei den Trödlern in Auxerre und Ville-aux-Fayes vergraben gewesen, waren um fünfzig Prozent billiger gekauft worden als die Dutzendmöbel des Faubourgs Saint-Antoine. Der Architekt hatte daher zwei oder drei Karren voll gut ausgewählten alten Hausrats gekauft, der im Verein mit den im Schlosse ausrangierten Sachen aus dem Salon des Avonnetors eine Art künstlerische Schöpfung machte. Was das Speisezimmer anlangte, so bemalte er es mit Holzfarbe, tapezierte es mit sogenannten schottischen Tapeten, und Madame Michaud steckte vor den Fenstern weiße Perkalvorhänge mit grüner Bordüre auf; ferner gabs dort mit grünem Tuch bezogene Mahagonistühle, zwei weitausladende Anrichten und einen Mahagonitisch. Das mit Stichen aus dem Militärleben geschmückte Zimmer wurde von einem Kachelofen geheizt, an dessen Seiten Jagdgewehre zu sehen waren.
Diese so wenig kostspieligen Herrlichkeiten waren dem ganzen Tal als das letzte Wort asiatischen Prunkes erschienen. Seltsam, sie reizten Gaubertins Begehrlichkeit. Indem er versprach, Les Aigues aufzuteilen, reservierte er seitdem diesen prachtvollen Pavillon in petto für sich.
Im ersten Stock bildeten drei Zimmer die Familienwohnung. An den Fenstern erblickte man Musselinvorhänge, die einen Pariser an die bürgerlichen Existenzen eigentümlichen Neigungen und Geschmacksrichtungen erinnerten. Dort war Madame Michaud sich selber überlassen worden und hatte sich Tapeten aus Atlaspapier gewünscht. Auf dem Kamin ihres Zimmers, das mit jenen gewöhnlichen Möbeln aus Mahagoni und utrechter Sammet, die man überall findet, mit einem Bett mit geschweiften Seiten, Säulen und einem Himmel, von dem gestickte Musselinvorhänge herabhingen, ausgestattet worden war, sah man eine Alabasterstanduhr zwischen zwei gazeverschleierten Armleuchtern und zwei Vasen mit künstlichen Blumen unter ihrem Glassturz, dem Hochzeitsgeschenk des Kavallerieunteroffiziers. Darüber, unter dem Dache, sah man den Zimmern der Köchin, des Knechts und der Péchina die Wirkungen dieser Wiederherstellung an.
»Olympe, mein Kind, du sagst mir nicht alles?« fragte die Gräfin, in Madame Michauds Zimmer tretend und Émile und den Pfarrer zurücklassend, die hinuntergegangen, als sie die Türe sich schließen hörten.
Madame Michaud, die Abbé Brossette in Verwirrung gesetzt hatte, gab, um nicht von ihren Besorgnissen, die viel lebhafter waren, als sie sagte, reden zu müssen, ein Geheimnis preis, das die Gräfin an den Gegenstand ihres Besuches erinnerte.
»Ich liebe Michaud, Sie wissen es ja, Madame; nun, würden Sie es zufrieden sein, in Ihrer Nähe, bei sich, eine Nebenbuhlerin zu sehen?«
»Eine Nebenbuhlerin!«
»Ja, Madame; der Schwarzkopf, den Sie mir zur Beaufsichtigung gegeben haben, liebt Michaud, ohne es zu wissen, die arme Kleine! . . . Das Benehmen des Kindes, das mir lange ein Rätsel war, hat vor einigen Tagen seine Erklärung gefunden.«
»Mit dreizehn Jahren!«
»Ja, Madame . . . Und Sie werden zugeben, daß eine im dritten Monate schwangere Frau, die ihr Kind selber nähren will, Besorgnisse haben kann. Doch um sie Ihnen nicht vor den Herren mitzuteilen, hab' ich Ihnen belanglose Dummheiten erzählt,« fügte das großherzige Weib des Hauptwächters geschickt hinzu.
Madame Michaud fürchtete in Wirklichkeit Geneviève Niseron kaum, aber seit einigen Tagen empfand sie einen Todesschrecken, den die Bauern, nachdem sie ihr ihn eingeflößt hatten, in ihrer Bosheit zu nähren sich befleißigten.
»Und woran hast du es bemerkt? . . .«
»An nichts und allem,« antwortete Olympe, die Gräfin anblickend. »Die arme Kleine ist, wenn sie mir gehorchen soll, von der Langsamkeit einer Schildkröte; bei der geringsten Kleinigkeit aber, die Justin verlangt, läuft sie mit Eidechsengeschwindigkeit. Sie zittert wie Espenlaub, wenn sie die Stimme meines Gatten hört; sie hat das Gesicht einer Heiligen, die gen Himmel fährt, wenn sie ihn anschaut; ahnt aber nichts von der Liebe, weiß nicht, daß sie liebt.«
»Armes Kind,« sagte die Gräfin mit einem Lächeln und Tonfall voller Naivität.
»So ist,« fuhr Madame Michaud fort, nachdem sie das Lächeln ihrer alten Herrin mit einem Lächeln erwidert hatte, »Geneviève verdüstert, wenn Justin draußen ist, und wenn ich sie frage, woran sie denke, antwortet sie mir, indem sie behauptet, sie habe Angst vor Monsieur Rigou . . . Dummheiten . . . Sie meint, aller Welt gelüste nach ihr, und sie gleicht dem Innern eines Rauchfangs. Wenn Justin nachts die Wälder abstreift, ist das Kind ebenso unruhig wie ich. Wenn ich das Pferd meines Mannes herantraben höre und das Fenster aufmache, sehe ich Licht bei der Péchina, wie man sie nennt, was mir beweist, daß sie wach ist, daß sie ihn erwartet; kurz, sie legt sich, wie ich selbst, erst schlafen, wenn er zurückgekommen ist.«
»Dreizehn Jahre!« sagte die Gräfin, »die Unglückliche! . . .«
»Unglückliche? . . .« erwiderte Olympe. »Nein. Diese kindliche Liebe wird sie retten . . .«
»Wovor?« fragte Madame de Montcornet.
»Vor dem Lose, das hier fast alle Mädchen ihres Alters erwartet. Seitdem ich sie aus dem Gröbsten heraus habe, ist sie weniger häßlich geworden; sie hat etwas Bizarres, Wildes, das Männer fesselt . . . Sie hat sich so verändert, daß Madame sie nicht wiedererkennen würde. Der Sohn jenes abscheulichen Wirts vom ›Grand-I-Vert‹, Nicolas, der nichtsnutzigste Bengel der Gemeinde, stellt der Kleinen nach und verfolgt sie wie ein Wild. Wenn es kaum glaublich ist, daß ein reicher Mann, wie Monsieur Rigou, der alle drei Jahre seine Magd wechselt, ein häßliches Ding seit ihrem zwölften Lebensjahre verfolgen konnte, so erscheint's als gewiß, daß Nicolas Tonsard der Péchina nachläuft; Justin hat's mir gesagt. Das wäre schrecklich; denn die Leute hier zu Lande leben wahrlich wie die Tiere. Justin aber, unsere beiden Dienstboten und ich wachen über die Kleine; also seien Sie nur ruhig, Madame; allein geht sie nur am hellichten Tage aus, und nur von hier nach dem Conches-Tore. Sollte sie zufällig in eine Falle geraten, würde ihr Gefühl für Justin ihr Kraft und Klugheit zum Widerstande verleihen, wie die Frauen, die einen Mann im Herzen tragen, einem Verhaßten zu widerstehen wissen.«
»Ihretwegen bin ich gerade hierhergekommen,« fuhr die Gräfin fort; »ich wußte nicht, wie nützlich es für dich war, daß ich hierher ging; denn das Kind wird nicht immer dreizehn Jahre alt bleiben . . . Das Mädchen wird schöner werden!«
»O Madame,« erwiderte Olympe lächelnd, »Justins bin ich sicher. Welch ein Mann, welch ein Herz! . . . Wenn Sie wüßten, wie unsäglich dankbar er seinem General ist, dem er, wie er sagt, sein Glück verdankt! Er ist nur zu ergeben, er würde sein Leben wie im Kriege wagen und vergißt, daß er sich jetzt als Familienvater ansehen kann.«
»Nun, ich bedauerte dich,« sagte die Gräfin, indem sie Olympe einen Blick zuwarf, der sie erröten machte, »bedauere aber nichts mehr, ich sehe dich glücklich . . . Wie erhaben und edel ist doch die Liebe in der Ehe!« fügte sie hinzu, indem sie ganz laut einen Gedanken äußerte, den sie vor kurzem vor dem Abbé Brossette nicht zu äußern gewagt hatte. Virginie de Troisville verharrte nachdenklich, und Madame Michaud achtete ihre Schweigsamkeit. »Höre, ist die Kleine ehrlich?« fragte die Gräfin, als sie wie aus einem Traume erwachte.
»Ebenso wie ich, Madame!« antwortete Madame Michaud.
»Verschwiegen? . . .«
»Wie ein Grab.«
»Dankbar? . . .«
»Ach, Madame, sie hat mir gegenüber Demutsanwandlungen, die eine engelhafte Natur anzeigen; sie küßt mir die Hände, sagt mir Sachen, die mich in Verlegenheit setzen . . . ›Kann man vor Liebe sterben?‹ fragte sie mich vorgestern. – Warum fragst du mich das? entgegnete ich. – ›Um zu erfahren, ob sie eine Krankheit ist! . . .‹«
»Das hat sie gesagt?« rief die Gräfin.
»Wenn mir all ihre Aeußerungen wieder einfielen, könnte ich Ihnen noch vieles andere sagen,« erwiderte Olympe, »es scheint, als wüßte sie viel mehr darüber wie ich.«
»Glaubst du, liebes Kind, daß sie dich bei mir ersetzen könnte, denn ohne eine Olympe kann ich nicht auskommen,« sagte die Gräfin und lächelte nicht ohne eine gewisse Traurigkeit.
»Noch nicht, Madame, sie ist zu jung; aber in zwei Jahren, ja; . . . Dann, wenn's nötig ist, daß sie von hier fortkommt, werd' ich Sie davon in Kenntnis setzen. Ihre Erziehung muß in die Hand genommen werden, sie weiß rein garnichts. Genevièves Großvater, der Vater Niseron, ist einer von den Menschen, die sich lieber den Hals abschneiden ließen, als daß sie lügen; neben einem Schatz würde er Hungers sterben; seine Ansichten verlangen das, und seine Enkelin hat er in solchen Gefühlen erzogen. Die Péchina würde sich für Ihresgleichen halten, denn der Biedermann hat aus ihr, wie er sagt, eine Republikanerin gemacht; genau so, wie der Vater Fourchon aus Mouche einen Zigeuner macht. Ich, ich lache über solche falschen Begriffe; Sie aber, Sie könnten sich darüber ärgern; sie verehrt Sie nur als ihre Wohltäterin, nicht aber als eine über ihr stehende Dame. Was wollen Sie, das lebt wild wie die Schwalben . . . Das Blut der Mutter trägt auch sein Teil dazu bei.«
»Wer war denn ihre Mutter?«
»Madame kennt die Geschichte nicht?« erwiderte Olympe. »Nun, der Sohn des alten Meßners von Blangy, nach allem was mir die Landleute von ihm erzählt haben, ein prachtvoller Bursche, wurde bei dem großen Aufgebot eingezogen. Dieser Niseron war 1809 immer noch ein einfacher Kanonier in einem Armeekorps, das tief hinten in Illyrien und Dalmatien den Befehl erhielt, in Eilmärschen durch Ungarn zu marschieren, um der österreichischen Armee den Rückzug zu verlegen, falls der Kaiser die Schlacht bei Wagram gewinnen sollte. Michaud hat mir von Dalmatien, wo er auch gewesen ist, erzählt. Als ein schöner Kerl, der er nun einmal war, hatte Niseron in Zahara das Herz einer Montenegrinerin erobert, einer Tochter des Gebirges, der die französische Garnison nicht mißfiel. Da das Mädchen der Ansicht ihrer Landsleute nach verworfen war, war es ihm nach Abzug der Franzosen unmöglich, noch länger in der Stadt zu wohnen. Zéna Kropoli, die man zum Schimpf ›die Französin‹ nannte, folgte also dem Artillerieregimente und kam nach Friedensschluß nach Frankreich. Auguste Niseron strebte die Erlaubnis an, die Montenegrinerin, die damals schwanger mit Geneviève ging, zu heiraten, doch das arme Weib ist im Januar 1810 an den Folgen der Entbindung gestorben. Einige Tage später sind die für eine rechtmäßige Ehe erforderlichen Papiere eingetroffen. Auguste Niseron hat daher an seinen Vater geschrieben, er solle das Kind mit einer Amme des Landes holen kommen und sich seiner annehmen; und daran tat er recht, denn er wurde durch einen Haubitzenschuß bei Montereau getötet. Die unter dem Namen Geneviève eingetragene und in Soulanges getaufte kleine Dalmatinerin wurde dann von Mademoiselle Laguerre, welche die Geschichte sehr gerührt hat, in Schutz genommen; denn es scheint das Schicksal des Kindes zu sein, von den Herrschaften in Les Aigues in Obhut genommen zu werden. Zu jener Zeit empfing Vater Niseron Wickelzeug und Geldunterstützung vom Schlosse.«
In diesem Augenblick sahen sie vom Fenster aus, vor dem die Gräfin und Olympe sich aufhielten, Michaud sich zum Abbé Brossette und Blondet gesellen, die plaudernd auf dem weiten sandbestreuten Halbkreis lustwandelten, der im Park den äußeren Halbmond wiederholte.
»Wo ist sie denn?« fragte die Gräfin, »du machst mich wirklich sehr neugierig, sie zu sehen.«
»Sie ist fort, um Mademoiselle Gaillard Milch nach dem Conchestor zu bringen; sie muß ganz in der Nähe sein; denn sie ist schon länger als eine Stunde weg . . .«
»Schön, ich werde ihr mit den Herren entgegengehen,« sagte Madame de Montcornet im Hinuntersteigen. Im Augenblick, da die Gräfin ihren Sonnenschirm aufspannte, näherte Michaud sich ihr, um ihr zu sagen, daß der General sie für wahrscheinlich zwei Tage allein lasse.
»Monsieur Michaud,« sagte die Gräfin lebhaft, »täuschen Sie mich nicht, es geht hier etwas Ernstes vor. Ihre Frau hat Angst, und wenn's hier viele Leute gibt, die dem Vater Fourchon ähneln, kann man hier zu Lande nicht leben . . .«
»Wenn dem so wäre, gnädige Frau,« antwortete Michaud lachend, »würden wir nicht auf unseren Beinen stehen; denn es wäre eine Leichtigkeit, sich uns vom Halse zu schaffen. Die Bauern schimpfen, das ist alles. Wenn's sich aber darum handelt, von dem Schimpfen zur Tat, vom Vergehen zum Verbrechen überzugehen, dann liegt ihnen zu viel am Leben und an der Luft der Felder . . . Olympe wird Ihnen Redereien mitgeteilt haben, die Sie erschreckt haben; doch ist sie in einem Zustande, wo einen ein Traum erschreckt,« fügte er hinzu, indem er den Arm seines Weibes nahm und ihn unter den seinigen schob, um ihr damit zu verstehen zu geben, daß sie fernerhin schweigen solle.
»Cornevin! Juliette!« rief Madame Michaud, die alsbald der alten Köchin Kopf im Fensterrahmen auftauchen sah, »ich gehe zwei Schritte fort, paßt auf den Pavillon auf!«
Zwei riesige Hunde, die zu heulen anfingen, bewiesen, daß der Effektiv-Bestand der Garnison des Avonnetors ziemlich bedeutend war. Als er die Hunde bellen hörte, trat Cornevin, ein alter Percher, Olympes Nährvater, aus dem dichten Gesträuch und ließ einen jener Schädel sehen, wie es sie nur in dem Perche gibt. Cornevin hatte von 1794 bis 99 als Chouan kämpfen müssen.
Alles begleitete die Gräfin in die von den sechs Waldalleen, die geradewegs nach dem Conchestor führte und von dem Silberquell durchschnitten wurde. Madame de Montcornet ging mit Blondet voraus. Der Pfarrer, Michaud und seine Frau sprachen gedämpft miteinander von der Enthüllung, die man der gnädigen Frau eben über den Zustand des Landes gemacht hatte.
»Vielleicht will es so die göttliche Vorsehung,« sagte der Pfarrer, »denn, wenn Madame es wünscht, werden wir durch Wohltaten und Milde dahin gelangen, jene Leute zu ändern . . .«
Etwa sechshundert Schritte von dem Pavillon entfernt, bemerkte die Gräfin unterhalb des Baches einen zerbrochenen roten Krug und verschüttete Milch in der Allee.
»Was ist der Kleinen geschehen? . . .« sagte sie, Michaud und sein Weib rufend, die nach dem Pavillon zurückkehrten.
»Ein Unglück wie Petrinchen,« antwortete ihr Émile Blondet.
»Nein, das arme Kind ist überrascht und verfolgt worden; denn der Krug wurde auf die Seite geworfen,« sagte der Abbé Brossette, der das Terrain untersuchte.
»Oh, das ist ja der Fuß der Péchina,« sagte Michaud. »Der Abdruck der lebhaft umgewandten Füße deutet auf eine Art plötzlichen Schreckens hin. Die Kleine ist jäh nach der Seite des Pavillons zu gestürzt, nach dem sie zurückkehren wollte.«
Alles ging den Spuren nach, welchen der Hauptwächter, indem er mit dem Finger darauf deutete, mit gespanntem Blick folgte. Inmitten der Allee, etwa hundert Schritte von dem zerbrochenen Kruge, blieb er an der Stelle stehen, wo die Fußspuren der Péchina aufhörten.
»Dort«, fuhr er fort, »hat sie sich nach der Avonne hingewandt; vielleicht war sie von der Pavillonseite abgeschnitten.«
»Aber sie ist ja seit länger als einer Stunde weg!« rief Madame Michaud.
Derselbe Schrecken malte sich auf allen Gesichtern. Der Pfarrer lief auf den Pavillon zu, indem er den Zustand des Weges prüfte, während Michaud, vom gleichen Gedanken bewegt, die Allee nach Conches hin zurückging.
»O mein Gott, da ist sie gefallen,« sagte Michaud, von der Stelle, wo die Spuren nach der Silberquelle hin aufhörten, bis zu der zurückkommend, wo sie in gleicher Weise inmitten der Allee aufhörten, und wies auf eine Stelle hin: »Da! . . .«
Tatsächlich sah jedermann in dem Sande der Allee die Spur eines langhingestreckten Körpers.
»Die Spuren, die nach dem Holze hinführen, stammen von Füßen, die Schuhe mit Stücksohlen tragen . . .« sagte der Pfarrer.
»Es sind Frauenfüße,« erklärte die Gräfin.
»Und da weiter unten bei dem zerbrochenen Kruge stammen die Spuren von Mannesfüßen,« fügte Michaud hinzu.
»Ich sehe keine Spuren von zwei verschiedenen Füßen,« sagte der Pfarrer, der die Spur der Frauenschuhe bis zum Walde verfolgte.
»Man hat sie sicherlich emporgehoben und in den Wald getragen!« rief Michaud.
»Wenn es ein Frauenfuß wäre, würde es unerklärlich sein,« rief Blondet.
»Es wird ein Scherz jenes Ungeheuers, des Nicolas sein,« sagte Michaud, »seit acht Tagen lauert er der Péchina auf. Heute Morgen hab' ich mich zwei Stunden lang unter der Avonnebrücke versteckt, um meinen Schlingel, dem vielleicht eine Frau bei seinem Unternehmen geholfen hat, zu erwischen.«
»Das ist schrecklich!« sagte die Gräfin.
»Sie glauben zu scherzen,« fügte der Pfarrer mit bitterem und traurigem Tone hinzu.
»O, die Péchina wird sich nicht festhalten lassen,« sagte der Hauptwächter, »ich traue ihr zu, daß sie die Avonne schwimmend durchquert hat . . . Ich will die Flußufer besichtigen . . . Du, meine liebe Olympe, kehre nach dem Pavillon zurück. – Und Sie, meine Herren, sowie Madame, lustwandeln Sie doch in der Allee gegen Conches zu . . .«
»Welch ein Land!« sagte die Gräfin.
»Ueberall gibt's üble Burschen,« bemerkte Blondet.
»Ist es wahr, Herr Pfarrer,« fragte Madame de Montcornet, »daß ich die Kleine aus Rigous Klauen gerettet habe?«
»Alle jungen Mädchen unter fünfzehn Jahren, die Sie im Schlosse aufnehmen mögen, werden diesem Ungeheuer entrissen sein,« antwortete Abbé Brossette. »Indem er dies Kind im zartesten Alter an sich heran zu ziehen suchte, Madame, wollte der Apostat seine Zuchtlosigkeit und seine Rache zugleich befriedigen. Als ich Vater Niseron zum Meßner nahm, hab' ich dem Biedermann Rigous Absichten begreiflich machen können, der ihm erzählte, er wolle das Unrecht seines Onkels, meines Amtsvorgängers, wieder gut machen. Das ist eine der Beschwerden des alten Bürgermeisters gegen mich, sein Haß ist dadurch noch größer geworden . . . Vater Niseron hat Rigou feierlich erklärt, er würde ihn töten, wenn Geneviève ein Unheil zustieße, und hat ihn für jeden Angriff auf des Kindes Ehre verantwortlich gemacht! Ich werde nicht sehr fehl gehen, wenn ich in Nicolas Tonsards Nachstellung irgendeinen höllischen Plan dieses Mannes sehe, der da glaubt, sich hier alles herausnehmen zu dürfen.«
»Er hat vor dem Gerichte demnach keine Angst?« fragte Blondet.
»Erstens ist er des Staatsanwalts Schwiegervater,« antwortete der Pfarrer. »Und dann«, fuhr er nach einer Pause fort, »können Sie sich ja keinen Begriff von der grenzenlosen Sorglosigkeit der Kantonalpolizei und des Gerichts solchen Leuten gegenüber machen. Wenn die Bauern nur die Pachthöfe nicht anzünden, nicht Totschläge begehen, nicht vergiften und wenn sie ihre Abgaben zahlen, läßt man sie unter sich tun, was sie wollen; und da sie keine religiösen Grundsätze haben, so geschehen die gräßlichsten Dinge. Auf der anderen Seite des Avonnebeckens fürchten sich die unfähigen Greise, zu Hause zu bleiben; denn dann gibt man ihnen nichts mehr zu essen; so gehen sie auf die Felder, solange ihre Beine sie zu tragen vermögen. Wenn sie sich hinlegen, wissen sie ganz genau, daß sie aus Mangel an Nahrung sterben werden. Herr Sarcus, der Friedensrichter, sagt, daß, wenn man all den Verbrechern den Prozeß machte, der Staat sich durch die Gerichtskosten zugrunde richten würde.«
»Aber darin sieht er ja klar, dieser Beamte!« rief Blondet.
»Ach! der hochwürdige Bischof kannte die Lage hier im Tal und vor allem den Zustand in dieser Gemeinde sehr wohl,« sagte der Pfarrer fortfahrend. »Die Religion allein kann all die Uebel wieder gut machen, das Gesetz scheint mir, abgeschwächt wie es ist, dazu unfähig zu sein . . .«
Der Pfarrer wurde durch Schreie unterbrochen, die aus dem Walde kamen, und die Gräfin wagte sich, Émile und dem Abbé folgend, mutig hinein, indem sie in der von den Schreien angezeigten Richtung lief.