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Die Szene in Conches hatte eine gute Wirkung erzielt, und des Grafen treue Wächter wachten ihrerseits darüber, daß man nur abgestorbenes Holz aus dem Walde von Les Aigues holte. Doch seit zwanzig Jahren war dieser Wald von den Bewohnern so gut ausgebeutet worden, daß es dort nur noch grünes Holz gab, und sie beschäftigten sich damit, es zum Winter durch sehr einfache Maßnahmen, die erst lange Zeit später entdeckt werden konnten, zum Absterben zu bringen. Tonsard schickte seine Mutter in den Wald; der Wächter sah sie hineingehen. Er wußte, wo sie herauskommen mußte und lauerte ihr dort auf, um ihr Bündel zu durchsuchen. Tatsächlich fand er sie da mit trockenem Reisig, morschen Aesten und abgebrochenen und geknickten trockenen Zweigen beladen. Und sie jammerte und beklagte sich, bei ihrem Alter so weit haben laufen zu müssen, um ein so elendes Bündel zusammenzulesen. Was sie aber nicht sagte, war, daß sie im dichtesten Dickicht gewesen war, daß sie den Stamm eines jungen Baumes freigelegt und seine Rinde an der Stelle, wo er aus der Wurzel wächst, ringsherum ringförmig losgelöst hatte; dann hatte sie Moos und Blätter, alles, wieder in Ordnung gebracht. Unmöglich konnte man diesen ringförmigen Einschnitt entdecken, der nicht mit dem Messer sondern durch einen Riß hergestellt schien, welcher dem von jenen Nagern und Zerstörern hervorgerufenen glich, die je nach den Landstrichen Türken, Engerlinge, weiße Maden genannt werden und der erste Entwicklungszustand des Maikäfers sind. Dieser Wurm liebt die Baumrinden, dringt zwischen Rinde und Splint ein und frißt sich um den Baum herum. Wenn der Baum stark genug ist, daß der Wurm zu seiner zweiten Metamorphose übergeht, zu seiner Larve, in der er bis zu seiner zweiten Wiedererweckung eingeschlafen ruht, so ist der Baum gerettet; denn so lange für den Saft eine mit Rinde bedeckte Stelle am Baume bleibt, wird er weiter wachsen. Um zu wissen, bis zu welchen Punkte die Entomologie mit der Agrikultur, der Hortikultur und allen Produkten der Erde in Verbindung steht, genügt es zu sagen, daß die großen Naturwissenschaftler wie Latreille, Graf Dejean, Klug in Berlin, Gené in Turin usw. zu der Erkenntnis gelangt sind, daß der größte Teil der bekannten Insekten sich auf Kosten der Vegetation ernährt; daß die Koleopteren, deren Katalog von Dejean veröffentlicht wurde, darin mit siebenundzwanzigtausend Arten vertreten sind, und daß es trotz der eifrigsten Nachforschungen der Entomologen aller Länder eine ungeheure Menge von Arten gibt, deren dreifache alle Insekten kennzeichnende Verwandlung man nicht kennt; daß nicht nur jede Pflanze ihr besonderes Insekt hat, sondern auch jedes irdische Produkt, welche Wandlungen es auch dank der menschlichen Betriebsamkeit durchmacht. So werden Hanf und Flachs, nachdem sie dazu gedient haben, die Menschen sei es zu bedecken, sei es zu henken, nachdem sie über den Rücken einer Armee gewandert sind, Schreibpapier. Und Leute, die viel lesen oder schreiben, sind mit den Gewohnheiten eines Insekts namens Papierwurm, der ein wunderbares Verhalten zeigt, vertraut. Er vollzieht seine unbekannten Wandlungen in einem sorgsam aufbewahrten Ries weißen Papiers, und ihr seht ihn laufen und springen in seinem prachtvollen Gewande wie aus Talk oder Spat: er ist eine fliegende Blicke.
Der Engerling bildet die Verzweiflung des Grundbesitzers. Unterirdisch lebend, entgeht er dem behördlichen Rundschreiben, das erst dann sizilianische Vespern gegen ihn anordnen kann, wenn er Maikäfer geworden ist. Wenn das Landvolk wüßte, von welchem Unheil es bedroht wird, falls es die Maikäfer und Raupen nicht tötet, würde es den von den Präfekturen ausgegebenen Vorschriften besser Folge leisten.
Holland wäre beinahe zu Grunde gegangen; seine Deiche wurden durch die Pfahlmuscheln ausgehöhlt, und die Wissenschaft weiß noch nicht, zu welchem Insekt die Pfahlmuschel wird, wie man ja auch die vorhergehenden Verwandlungen der Cochenille nicht kennt. Das Mutterkorn ist wahrscheinlich eine Insektenkolonie, in der das Genie der Wissenschaft vorerst nur eine leichte Bewegung hat feststellen können.
So ahmten denn in Erwartung der Ernte und des Stoppellesens fünfzig alte Weiber die Arbeit des Engerlings am Fuße von fünf- oder sechshundert Bäumen nach, die im Frühjahr abgestorben sein und sich nicht mehr mit Blättern bedecken sollten; und sie waren inmitten der weniger zugänglichen Stellen ausgewählt worden, so daß das Zweigwerk ihnen gehören würde. Wer hatte ihnen dies geheime Mittel angegeben? Niemand. Courte-Cuisse hatte sich in Tonsards Schenke beklagt, in seinem Garten eine absterbende Ulme vorgefunden zu haben; diese Ulme begann zu kränkeln, und er hatte den Engerling in Verdacht. Denn Courte-Cuisse kannte die Engerlinge genau; und wenn ein Engerling am Fuße eines Baumes saß, war der Baum verloren . . . Und er weihte sein Schenkenpublikum in die Arbeit des Engerlings ein, indem er sie genau beschrieb. Die alten Weiber begaben sich mit der Heimlichkeit und Geschicklichkeit von Zauberinnen an dieses Zerstörungswerk und wurden dazu veranlaßt durch die zur Verzweiflung treibenden Maßnahmen, die der Bürgermeister von Blangy traf und die zu treffen auch den Bürgermeistern der umliegenden Gemeinden anbefohlen wurde. Die Feldhüter trommelten eine Verfügung aus, die besagte, daß niemand ohne ein von den Bürgermeistern jeder Gemeinde ausgestelltes Bedürftigkeitszeugnis stoppeln und in den Weinbergen Nachlese halten dürfe.
Ein Muster dafür wurde vom Präfekten an den Unterpräfekten und durch diesen an jeden Bürgermeister gesandt. Die Großgrundbesitzer des Bezirks bewunderten des Generals von Montcornet Verhalten sehr, und der Präfekt sagte in seinen Salons, daß, wenn die Spitzen der Gesellschaft, statt in Paris zu wohnen, auf ihre Besitzungen kämen, würde man schließlich ein günstiges Ergebnis erzielen; denn solche Maßnahmen, fügte der Präfekt hinzu, müßten überall getroffen, sie müßten gemeinsam angewandt und durch Wohltaten, durch eine aufgeklärte Philanthropie, wie sie der General von Montcornet handhabe, gemildert werden.
Tatsächlich versuchten es der General und seine Frau unter des Abbé Brossettes Beistand mit der Wohltätigkeit. Sie hatten sich die Art und Weise wohl überlegt, sie wollten denen, die sie plünderten, durch untrügliche Resultate beweisen, daß sie mehr dabei gewännen, wenn sie sich mit erlaubten Arbeiten beschäftigten. Sie lieferten Hanf zum Spinnen und bezahlten den Arbeitslohn; die Gräfin ließ dann aus dem Faden Leinwand herstellen, um Bettücher, Tischtücher, derbe Küchenwäsche und Hemden für die Bedürftigen daraus zu machen.
Der Graf nahm Verbesserungen vor, die Arbeiter verlangten, und er verwendete nur die aus den umliegenden Gemeinden. Sibilet war mit den Einzelheiten beauftragt, während der Abbé Brossette der Gräfin die wirklich Bedürftigen nannte und sie ihr häufig zuführte. Madame de Montcornet hielt ihre Wohltätigkeitssitzungen in dem großen Vorzimmer, das nach der Auffahrt hinaus ging. Es war ein schöner, mit weißem und rotem Marmor belegter Wartesaal, der mit einem prächtigen Kachelofen geschmückt und mit langen, mit rotem Samt bezogenen Bänken ausgestattet war.
Dorthin brachte eines Morgens vor der Ernte die alte Tonsard ihre Enkelin Cathérine, die, wie sie sagte, ein für die Ehre einer armen, aber ehrenwerten Familie schreckliches Geständnis zu machen habe. Während sie redete, nahm Cathérine eine schuldbewußte Haltung ein; sie sprach von der »Verlegenheit«, in der sie sich befände und die sie nur ihrer Großmutter anvertraut habe: ihre Mutter würde sie fortjagen und ihr Vater, ein Ehrenmann, sie töten. Wenn sie nur tausend Franken hätte, würde sie von einem armen Arbeiter namens Godain geheiratet werden, der alles wisse und sie wie ein Bruder liebe; er würde ein schlechtes Stück Land kaufen und sich dort eine Hütte bauen. Das war rührend. Die Gräfin versprach dieser Heirat die nötige Summe zu opfern. Michauds und Groisons glückliche Heiraten waren darnach angetan, sie zu ermutigen. Diese Heirat würde ein gutes Beispiel für die Landleute sein und sie bestimmen, sich gut aufzuführen. Cathérine Tonsards Heirat mit Godain wurde also mittels der tausend von der Gräfin versprochenen Franken in Ordnung gebracht.
Ein andermal schleppte ein anderes furchtbares Weib, Mutter Bonnébault, die in einer baufälligen Hütte zwischen dem Conchestore und dem Dorfe wohnte, eine Last derber Leinfadengebinde herbei.
»Die Frau Gräfin haben Wunder gewirkt,« sagte der Abbé, voller Hoffnung auf den moralischen Fortschritt dieser Wilden. »Diese Frau verursachte Ihnen vielen Schaden in Ihren Wäldern; aber wie und warum sollte sie heute dorthin gehen? Sie spinnt von Morgen bis Abend; ihre Zeit ist gut angewandt und trägt ihr etwas ein.«
Das Land war ruhig. Groison machte befriedigende Berichte; die Missetaten schienen nachlassen zu wollen. Und vielleicht würde die Beschaffenheit des Landes und seiner Bewohner ohne Gaubertins rachsüchtige Habgier, ohne die Bourgeoisränke der ersten Soulanger Gesellschaft und ohne Rigous Intrigen, der den Haß und das Verbrechen im Herzen der Bauern des Tales von Les Aigues wie ein Schmiedefeuer anfachte, ein ganz anderes Gesicht bekommen haben.
Die Waldhüter beklagten sich, inmitten des Buschholzes stets viele Zweige zu finden, die mit der Hippe abgeschnitten waren, in der augenscheinlichen Absicht, Holz für den Winter vorzubereiten; und sie lauerten auf die Urheber dieser Delikte, ohne sie fassen zu können. Mit Hilfe von Groison hatte der Graf die Bedürftigkeitsscheine nur für dreißig oder vierzig wirkliche Gemeindearme ausgestellt; doch die Bürgermeister der Nachbargemeinden waren weniger schwierig gewesen. So milde der Graf sich damals in Conches gezeigt hatte, so entschlossen war er, in der Frage des Stoppelns Strenge zu zeigen, die in Diebstahl ausgeartet war. Er kümmerte sich nicht um seine drei verpachteten Güter; es handelte sich nur um seine Vorwerke, die ziemlich zahlreich waren: er besaß ihrer sechs, jedes zu zweihundert Arpents. Er hatte bekannt gemacht, daß es bei Strafe der Protokollierung und der Bußen, welche das Friedensgericht aussprechen würde, verboten sei, die Felder vor dem Einfahren der Garben zu betreten. Seine Anordnung betraf in der Gemeinde übrigens nur ihn selbst.
Rigou kannte das Land: er hatte seine pflügbaren Ländereien in Parzellen und kleinen Pachtungen an Leute vergeben, die ihre Ernten einzubringen wußten; er ließ sich in Getreide bezahlen. Das Stoppeln berührte ihn nicht. Die anderen Besitzer waren Bauern und die schadeten sich untereinander nicht. Der Graf hatte Sibilet befohlen, mit seinen Pächtern auszumachen, daß auf den Feldern jeder Pachtung nacheinander geschnitten werden solle; auch sollten alle Schnitter zu jedem seiner Pächter zurückkommen, statt nach der Arbeit auseinander zu gehen, was die Ueberwachung verhinderte. Der Graf ging selber mit Michaud hin, um zu prüfen, wie die Dinge liefen. Groison, der diese Maßnahmen eingegeben hatte, mußte bei allen Besitzergreifungen der Felder des reichen Grundbesitzers durch die Armen zugegen sein. Die Stadtbewohner werden sich niemals vorstellen können, was das Stoppeln für die Landbewohner bedeutet. Ihre Leidenschaft ist unerklärlich; denn es gibt Weiber, die sehr gut bezahlte Arbeiten im Stich lassen, um zum Stoppeln zu gehen. Das Getreide, das sie auf die Weise bekommen, scheint ihnen besser zu sein. Der so erlangte Vorrat, der zu ihrer hauptsächlichsten Nahrung dient, lockt sie ungeheuer. Die Mütter nehmen ihre kleinen Kinder, ihre Mädchen und Jungen mit, die gebrechlichsten alten Leute schleppen sich hin; und wer etwas besitzt, heuchelt natürlich Bedürftigkeit. Zum Stoppeln geht man in Lumpen. Der Graf und Michaud wohnten zu Pferde dem ersten Eindringen dieser Lumpenwelt in die ersten Felder des ersten Vorwerks bei. Es war zehn Uhr morgens; der August war heiß, der Himmel wolkenlos und blau wie eine Pervinca. Die Erde brannte, die Getreidefelder flimmerten, die Schnitter arbeiteten mit einem von dem Reflektieren der Strahlen durch ein verhärtetes und klingendes Erdreich wie gekochten Gesicht. Alle stumm, mit verschwitztem Hemd, tranken sie Wasser aus den Steingutkrügen, die rund wie ein Brot, mit zwei Henkeln und einer plumpen trichterförmigen, mit einem Stöpsel aus Weidenholz verschlossenen Oeffnung versehen sind.
Am Ende der gemähten Felder, wo die Wagen standen, auf welche die Garben geladen wurden, sah man etwa hundert Kreaturen, welche die häßlichsten Schöpfungen, die Murillos und Teniers Pinsel, die kühnsten auf diesem Gebiete, und die Gestalten Callots, dieses meisterhaften Schilderers des Elends, geschaffen haben, weit hinter sich ließen. Ihre Bronzebeine, ihre Glatzköpfe, Ihre ausgefransten Lumpen, ihre so merkwürdig abgetönten Farben, die fettigen Löcher, gestopften Stellen, aufgesetzten Flecken, verblichenen Stoffe, die Fadenscheinigkeit ihrer Kleider, kurz ihr Ideal der materiellen Erscheinung des Unglücks war übertroffen worden; ebenso hatten die gierigen, unruhigen, blödsinnigen, idiotischen, wilden Züge der Gesichter vor den unsterblichen Kompositionen dieser Fürsten der Farbe den ewigen Vorteil voraus, den die Natur vor der Kunst bewahrt. Es gab da alte Weiber mit einem Puterhals, mit roten enthaarten Wimpern, welche den Kopf vorgestreckt hielten wie Hühnerhunde, wenn sie ein Rebhuhn wittern; Kinder, schweigsam wie Soldaten unter den Waffen, und kleine Mädchen, die wie Tiere trappelten, die auf ihr Futter warten. Die Eigenart der Kindheit und des Alters waren durch eine wilde Begehrlichkeit verwischt: durch das Verlangen nach dem Gute anderer, das durch Mißbrauch ihr Gut wurde. Alle diese Augen glühten, die Bewegungen waren drohend, doch alle verhielten sich in Anwesenheit des Grafen, des Waldhüters und des Hauptwächters schweigend. Der Großgrundbesitz, die Pächter, die Arbeiter und die Armen waren dort vertreten, die soziale Frage trat dort deutlich in Erscheinung, denn der Hunger hatte diese herausfordernden Gesichter zusammengerufen . . . Die Sonne hob all die harten Züge und die tiefliegenden Teile der Gesichter reliefartig hervor und verbrannte die nackten und staubschmutzigen Füße. Es gab da Kinder ohne Hemd, die kaum mit einer zerrissenen Bluse bedeckt waren. Ihre blonden Locken waren voll Stroh, Heu und Holzstückchen; einige Weiber hielten ganz kleine Würmer an der Hand, die eben zu gehen anfingen und die man in Furchen sich herumkugeln zu lassen im Begriff war.
Dies düstre Gemälde wirkte auf einen alten Soldaten, der ein gutes Herz hatte, herzzerreißend; der General sagte zu Michaud:
»Das zu sehen, tut mir weh. Man muß sich der Wichtigkeit dieser Maßnahmen bewußt sein, um darauf zu bestehen.«
»Wenn jeder Grundbesitzer Sie nachahmte, auf seinen Besitzungen bliebe und dort Gutes täte, wie Sie's auf Ihren tun, mein General, würde es dort, ich will nicht sagen, keine Armen mehr geben, denn die werden immer da sein, aber es würde kein Wesen mehr existieren, das nicht von seiner Arbeit leben könnte.«
»Die Bürgermeister von Conches, Cerneux und Soulanges haben uns ihre Armen geschickt,« sagte Groison, der die Zeugnisse geprüft hatte, »das sollte nicht sein!«
»Nein, aber unsere Armen werden auch in die Gemeinden gehen,« sagte der General, »für dieses Mal genügt's, durchgesetzt zu haben, daß man nicht noch Garben obendrein nimmt; man muß schrittweise vorgehen,« sagte er im Wegreiten.
»Habt Ihr's gehört?« fragte die alte Tonsard zur alten Bonnébault; denn das letzte Wort des Grafen war lauter als das übrige gesagt worden und fiel einem jener beiden Weiber ins Ohr, die auf dem Wege standen, der sich längs dem Felde hinzog.
»Ja, das ist noch nicht alles; heute ein Zahn, morgen ein Ohr; wenn sie eine Tunke erfinden könnten, um unsere Kaldaunen wie die der Kälber zu fressen, würden sie Christenfleisch fressen!« sagte die alte Bonnébault, die dem Grafen, als er vorüberkam, ihr drohendes Profil zeigte, dem sie jedoch alsbald durch einen honigsüßen Blick und eine süßliche Grimasse einen scheinheiligen Ausdruck verlieh; zu gleicher Zeit beeilte sie sich, eine tiefe Verbeugung zu machen.
»Ihr stoppelt also auch, obwohl Euch meine Frau doch ein schönes Stück Geld verdienen läßt?«
»Ach, mein lieber Herr, Gott möge Sie bei guter Gesundheit erhalten! Sehen Sie, mein Junge frißt mir allens weg, und ich bin gezwungen, dat bißchen Getreide zu verstecken, damit ich Brot im Winter habe. Ich bringe da noch en bißchen zusammen . . . dat hilft ein wenig weiter.«
Das Stoppeln brachte den Stopplern geringe Erträgnisse. Da sie sich unterstützt fühlten, ließen Pächter und Meier ihre Felder gut mähen, überwachten das Zusammensetzen der Garben und das Aufladen, so daß es sehr viel weniger Unterschlagung und Raub als in den vorhergehenden Jahren gab.
Gewöhnt, in ihren Aehrenbüscheln eine bestimmte Getreidemenge zu finden, die sie dieses Mal dort vergeblich suchten, empfanden die wahren wie die falschen Bedürftigen, welche den Straferlaß in Conches vergessen hatten, eine düstere Unzufriedenheit. Diese wurde durch die Tonsards, Courte-Cuisse, Bonnébault, Laroche, Vaudoyer, Godain und ihre Anhänger in den Szenen, die sich in der Schenke abspielten, noch verschlimmert. Nach der Weinernte wurde es noch übler; denn die Nachlese begann erst, nachdem die Weinberge abgeerntet und von Sibilet mit bemerkenswerter Strenge nachgesehen worden waren. Diese Maßnahme brachte die Gemüter zum Aeußersten. Wenn aber eine so große Kluft zwischen der sich auflehnenden und empörenden und der bedrohten Klasse gähnt, verstummen die Worte. Von dem, was da angezettelt wird, merkt man erst durch die Geschehnisse etwas; denn die Mißvergnügten geben sich nach Maulwurfsart einer unterirdischen Arbeit hin.
Der Soulanger Jahrmarkt war in ziemlich ruhiger Weise verlaufen, mit Ausnahme von einigen Reibereien zwischen der ersten und zweiten Gesellschaft der Stadt, die durch den unruhigen Despotismus der Königin hervorgerufen worden waren, da diese die Herrschaft nicht dulden wollte, welche die schöne Euphémie Plissoud im Herzen des brillanten Lupin, dessen flatterhafte Glut sie für immer gefesselt zu haben schien, errichtet und gegründet hatte.
Der Graf und die Gräfin waren weder auf dem Soulanger Jahrmarkte noch auf dem Tivolifest erschienen, und das wurde ihnen von den Soudry, den Gaubertin und ihren Anhängern als ein Verbrechen angerechnet. Das war Stolz, das war Verachtung, hieß es bei Madame Soudry!
Während dieser Zeit suchte die Gräfin die Leere, die Émiles Abwesenheit in ihr verursachte, durch das ungeheure Interesse auszufüllen, das schöne Seelen an die Wohltaten knüpft, die sie tun oder zu tun glauben. Der Graf seinerseits beschäftigte sich mit nicht geringerem Eifer mit den materiellen Verbesserungen in der Verwaltung seines Besitztums, die seiner Meinung nach auch die Lage und damit den Charakter der Bewohner dieser Gegend in günstiger Weise beeinflussen mußten. Von Abbé Brossettes Ratschlägen und Erfahrung unterstützt, erlangte Madame de Montcornet mit der Zeit eine statistisch genaue Kenntnis der armen Familien in der Gemeinde, ihrer Lage, ihrer Bedürfnisse, ihrer Existenzmittel sowie der Ueberlegung, mit der man ihrer Arbeit zu Hilfe kommen mußte, ohne sie selber müßig und faul zu machen. Die Gräfin hatte Geneviève Niseron, die Péchina, in einem Kloster in Auxerre unter dem Vorwande untergebracht, sie dort Nähen lehren zu lassen, um sie später bei sich beschäftigen zu können, in Wirklichkeit aber, um sie den ruchlosen Nachstellungen Nicolas Tonsards, den Rigou vom Militärdienst hatte losbekommen können, sicherzustellen. Auch dachte die Gräfin, daß eine fromme Erziehung, die Klausur und eine klösterliche Ueberwachung mit der Zeit die glühende Leidenschaftlichkeit dieses frühreifen kleinen Mädchen zu bändigen vermöchten, deren montenegrinisches Blut ihr manchmal wie eine drohende Flamme vorkam, die sich von ferne anschickte, das häusliche Glück ihrer getreuen Olympe Michaud in Brand zu setzen.
Man war also ruhig im Schlosse von Les Aigues. Der Graf, von Sibilet eingeschläfert, von Michaud beruhigt, beglückwünschte sich zu seiner Festigkeit und dankte seiner Frau, durch ihre Wohltätigkeit mit zu dem unendlich großen Ergebnis ihrer Ruhe beigetragen zu haben. Die Frage des Holzverkaufs zu lösen, hob sich der Graf für Paris auf, wo er sich mit Händlern ins Einvernehmen setzen wollte. Er hatte keine Ahnung, in welcher Weise der Handel vor sich geht, und war sich völlig im Unklaren über Gaubertins Einfluß auf die Flößerei auf der Yonne, die Paris zum großen Teil versorgt.