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XIX

In seiner Freude, mein Freiwilligenjahr glücklich überstanden zu haben, kündigte mir mein Vater an, er sei zur Belohnung bereit, noch ein letztes Jahr für meinen Unterhalt zu sorgen. Und ich sollte, da, was immer er mir raten würde, ja doch wieder bloß in den Wind gesprochen wäre, selber den Ort und womit ich die Zeit dort verbringen wollte, wählen, dabei jedoch bedenken, daß ich nach Ablauf der Frist auf gar keinen Fall mehr irgendeinen Zuschuß von daheim erwarten dürfte, was schon durch die schuldige Rücksicht auf meine Geschwister ausgeschlossen sei. Doch ich hörte, als er mir nun die Summen vorzurechnen begann, die mein Studium bisher verschlungen hatte, längst nicht mehr zu, denn ich hörte nur noch ein einziges Zauberwort, das gleich nach den ersten Worten des Vaters beseligend in mir aufgerauscht war; mein ganzes Wesen schrie: Paris! Ich wunderte mich selbst, aber es kam mit der Macht einer Eingebung über mich, ich sah hell, was mir fehlte. Dabei war ich eigentlich doch gar kein solcher Franzosenfreund. Ich hatte in Berlin zunächst Zola, Daudet und überhaupt die französischen Naturalisten, nebenher auch Musset, die George Sand und Rousseau gelesen; wir holten uns ja damals aus Frankreich die Merkworte der Erneuerung, auf die wir selber hofften. Erst jetzt aber ward ich mit wunderlichem Ungestüm gewiß, daß mich mein Schicksal nach Paris rief, zur Entscheidung meines inneren Lebens.

Der Vater gab mir, wie früher für Berlin, auch dieses letzte Jahr noch fünfundsiebzig Gulden monatlich. Das waren damals fast hundertfünfzig Franken. Und ich würde ja für Zeitungen schreiben, ich würde durch Sprachunterricht oder als Sekretär verdienen, und ich würde vielleicht hungern, aber in Paris, in Paris!

Ich konnte den Tag kaum erwarten, bis der Militärmantel, den ich als Freiwilliger trug, vom Linzer Schneider in einen Winterrock für die großen Boulevards umgeformt war. Jede Stunde länger daheim schien mir verloren. Es muß ein merkwürdiger Anblick für Eltern sein, mit welcher Ungeduld es die Kinder weg von ihnen treibt.

Ich fuhr in Bummelzügen dritter Klasse. Zunächst blieb ich in München, um Ibsen aufzusuchen. Er hatte mich in seiner rund ausmalenden Schönschrift auf elf Uhr vormittag zu sich bestellt; meiner Ehrfurcht schien's unmöglich, im Reiseanzug vor den Gewaltigen zu treten, so schritt ich im Frack mit weißen Handschuhen durch den hellen Oktobermorgen der Maximilianstraße dahin. Das Herz schlug mir so stark, daß ich, nach einem Kreuzverhör mißtrauisch vorgelassen, stumm vor ihm blieb, denn ich hätte beim ersten Wort laut herausgeheult. Ich bin seitdem noch manchem berühmten Dichter begegnet, doch keinem mehr, der in Person so sehr der durch sein Werk erregten Erwartung entsprochen hätte: Da stand ich nicht bloß vor Ibsen, sondern vor der leibhaftigen Summe seiner sämtlichen Gestalten. Spötter nannten das freilich eine Maske, wenn sie gleich zugeben mußten: die Maske seiner selbst; der Deutsche will alles eher gelten lassen als persönlichen Stil. Ich bin heute noch froh, daß ich damals gläubig genug war, mich dem mächtigen Eindruck rein hinzugeben. »Ich mußte an Goethe denken«, schrieb ich über meinen Besuch, zum lauten Hallo der Leser, die mir auf meine Versicherung, Ibsen lebe hier »einsam und weltfern seinen tiefen Träumen«, lachend erwiderten: »im Hofbräuhaus!« Wir hatten, in unserer Art, beide recht, aber mir ist schon lieber, auf meine recht zu haben.

Auch zu Michael Georg Conrad ging ich, dem treuesten Kameraden jeder echten Begabung seit bald fünfzig Jahren, dem Heerrufer unserer Jugend, dem Wegmacher Richard Wagners und Ibsens und der Franzosen, aber auch Liliencrons und noch Hugo Wolfs; er ist heute noch um einen halben Kopf größer und um anderthalb Herzen kühner als unter seinen Landsleuten gemeinhin Brauch, Pinakotheken und Schackgalerie, mir schon von der ersten Münchner Fahrt des Gymnasiasten vertraut, lief ich wieder ab und saß abends im Hoftheater bei den »Rosen von Tyburn« Artur Fitgers, des dichtenden Malers, für den alle jungen Naturalisten damals schwärmten, keiner wußte warum, aber auch Brahm brachte noch zwei Jahre später unter den ersten Wagnissen der Berliner Freien Bühne sein »Von Gottes Gnaden«, ein typisches Epigonenstück, das aber uns allen, bis zur Aufführung, ein Sturmbock der neuen Zeit schien.« Übrigens konnte sich in jener Münchner Vorstellung mein Spürsinn erproben: in einer Nebenrolle fiel mir ein junges Talent auf, dem ich dreist eine große Zukunft verhieß, die niemand bisher ihm zutraute als er selbst, Ferdinand Bonn. Wie gern hätt ich ihn und Häusser, dieses Prachtstück deutscher Schauspielkunst nach Dürerart, gleich ans Burgtheater gebracht, als dessen geheimen Direktor ich mich ja damals immer fühlte; jahrelang dauerte das noch, aber erst als ich es schließlich endgültig aufgegeben hatte, ward ich, zu meiner größten Verlegenheit, wirklich ins Burgtheater geholt. Mein Vater pflegte zu sagen: es geht einem jeder Wunsch in Erfüllung, aber zu spät, nämlich erst, wenn man nichts mehr davon hat und nichts mehr damit anzufangen weiß.

In Stuttgart ließ mich Bartholomäus Zeitblom mit Augen sehen, was wir mit unserem Naturalismus eigentlich meinten: an seinem Evangelisten Johannes, an seinem Heiligen Florian, da war's, ja das wär's! Und ich ging die so lieb hauffelnde Stadt entlang zur Uhlandlinde hinauf und am nächsten Tag in vorwinterlichem Sonnenschein mutterseelenallein durch den glitzernden Wald nach der Solitüde. Doch wie brav ich mich mühte, dem Baedeker aufmerksam zu gehorchen, ich fand keine Ruhe, selbst in Straßburg, selbst vor und auf dem Münster nicht mehr, die Sehnsucht war zu wild, nach Paris, nach Paris!

Es galt mir als selbstverständlich, im Quartier latin wohnen zu müssen, und man hatte mir da das Hotel de Suez empfohlen, Boulevard Saint Michel 31. Ganz oben, unterm Dach, ward ich untergebracht: vom Balkon hatt ich den schönsten Blick, mein größter Stolz aber war, einen Kamin zu haben; »am Kamin«, wie das klang! In der Wand wurden meine Siebensachen versorgt, in einer engen Wandnische stand das Bett und dann war grad noch Platz für einen Tisch mit zwei Stühlen. Aber wenn ich auf den Balkon trat, gehörte mir Paris! In diesem Kämmerlein las ich zum erstenmal wirklich Balzac, mit dem fernen Meeresrauschen des Boulevard tief unter mir; und aus der stillen Nacht, wenn ich fiebernd über den Illusions perdues saß, schlug gegen Morgen dann, wenn von Bullier, dem Tanzlokal, die letzten Grisetten heimzogen, das Korsett in der Hand, das sie zum Cancan abgelegt und erst wieder anzulegen keine Lust mehr hatten, ihr Verlangen nach Gefährten kreischend zum Fenster herauf: ich trat hinaus, der Mond hing über der unendlichen Stadt, Andacht und Wehmut und Lüsternheit verschwammen in ein silbergrauendes Wogen, die heiseren Stimmen klirrten, übers Dach rann der Schatten einer Katze.

Zunächst ergab sich, daß niemand mein Französisch verstand, ich aber hinwieder das der Franzosen nicht. Ferner ergab sich, daß ich, um halbwegs mit meinen hundertfünfzig Franken auszukommen, mir jeden »Luxus« versagen mußte. Ich gewöhnte mir also Frühstück und Mittagessen ein für allemal ab und beschränkte mich fortan auf das »Diner« im Hotel: Suppe, Fisch und etwas geheimnisvoll Ledernes, das den phantastischen Namen Beefsteak trug, mit einer kleinen Flasche Wein. Anwandlungen von Hunger wurden mit schwarzem Kaffee, Absinth und zahllosen Pfeifen des geliebten, jetzt schmerzlich entbehrten Caporal betäubt, und höchst willkommen war mir die Sitte, daß jedes Pariser Café dem Gast nicht bloß Feder und Tinte, sondern auch Briefpapier unentgeltlich serviert. Meine sämtlichen Pariser Werke sind auf Bogen des Café Soufflet geschrieben, das, ein paar Schritte von meinem Hotel, unterhalb des Vachette, wo zuweilen Verlaine vor seinem Grünen saß, mein Arbeitsraum wurde. Ich habe jenes Jahr über eigentlich von Luft gelebt, von der wie silberdurchwirkten, meerfeuchten, prickelnden Pariser Luft. Der leise Champagnerrausch, den sie mir gab, erstickte jedes Gefühl von Entbehrung. Ich hatte meistens schon um den fünfzehnten des Monats keinen Sou mehr, dann stand ich oft den ganzen Nachmittag bouquinierend auf dem Quai, man ließ mich ruhig lesen; oder mir verging im Louvre, in der Bibliothèque Nationale oder im Luxembourg der Hunger. Nur noch in Rom drückt Armut so wenig, ist das Glück, die Luft einatmen zu dürfen, so groß, daß man darüber für den Unterschied zwischen Prasser und Bettler unempfindlich wird. Auch war es damals in Paris noch Tradition des Geistes, in Mansarden zu wohnen; Denker und Dichter kannten da den Ehrgeiz nicht, an Aufwand mit Jobbern zu wetteifern, sie sagten von Glück, wenn's ihnen gelang, aus kleinen Bourgeois zuletzt kleine Rentner zu werden. Ich habe niemals im Leben mehr gefroren und mehr gehungert als damals in Paris und bin nie wieder so rein glücklich gewesen: jeden Tag, wenn ich erwachte, war ich von neuem wieder ganz trunken vor Seligkeit, in Paris zu sein.

Was aber, was denn hat mich eigentlich damals so bezaubert, so beseligt, selbst gegen Ende des Monats, wo mir wirklich oft tagelang nichts übrigblieb, als mit leeren Taschen hungernd in Bibliotheken, durch Museen oder an der Seine zu lungern? Zunächst wohl das ansteckende naive Selbstgefühl, das der Pariser ausstrahlt. Während jedem Wiener Wien unablässig von jedem anderen Wiener verekelt wird, teilt der Pariser seinen Stolz auf Paris allen Parisern mit. In keiner anderen Stadt werden immer wieder so blutrünstige Fehden mit solchem Ingrimm geführt, es gibt immer wieder irgendeine Affäre, die Klassen, Freundschaften, ja Familien entzweit, immer wieder droht Bürgerkrieg, aber gerade diese Wut, mit der Franzosen einander immer wieder zerfleischen, qualmt doch auch wieder nur aus dem flammenden Glauben an ihre Sendung, das vollkommene Volk zu sein, hervor: für ihr Gefühl sind sie's, die den Völkern Europas Sinn, Ordnung und Maß zu geben haben; so sehen sie sich, und in Paris sehen sie die Stadt, in der zu jeder Zeit wieder das geistige Schicksal der Welt entschieden wird. Kein anderes Volk glaubt ihnen das, kein anderes Volk glaubt es von sich selbst, aber sie verdanken diesem Glauben, diesem Aberglauben eine Schwungkraft ohnegleichen. Und die spürt man in Paris auf Schritt und Tritt, man ist in Paris niemals allein, man fühlt sich gleich eingeschaltet in diesen reißenden Kraftstrom, und jeder Flaneur, auf Abenteuer gehend, zuckt plötzlich unter gleichsam aus der Luft niederfahrenden elektrischen Schlägen des Gemeinsinns zusammen, schon ist das Abenteuer vergessen, und der Wogendrang des nationalen Willens oder auch nur einer nationalen Stimmung überstürzt ihn. Ich sah bei den Wahlen zu, wie ganze Straßen, ja ganze Stadtviertel im Flug von Viertelstunden boulangistisch wurden: ich selber, der Fremde, den dies alles im Grunde gar nichts anging, ward es auch, fieberte mit, schrie mit, raste mit, fiel in den allgemeinen Veitstanz ein, so gewaltig ist da der Druck der geistigen Spannungen, jeder wird mit ihrer Leidenschaft geladen. Das Gefäß aber, das die nationalen Energien des Augenblicks sammelt, ist ein ganz tief wurzelnder Stock gemeinsamer Erinnerungen aus uralten Zeiten. In jedem Franzosen nimmt, was er an Gedanken und Gefühlen von den Vorfahren mitbekommt, nimmt die Mitgift von geistiger Vergangenheit mehr inneren Raum ein, als was er persönlich aus sich macht; die Nation herrscht in ihm über das Individuum vor. Gerade darum können sich Franzosen einem schrankenlosen égotisme überlassen, ohne Gefahr; denn tief in ihnen bleibt ungestört die ruhig fortwaltende sichernde lenkende Vergangenheit der Nation; das Leben jedes Franzosen blickt unbewußt immer auf Jahrhunderte zurück, er hört immer die Stimme der Ahnen im Blut. Jeder ist ein geborener Aristokrat, jeder lebendige Tradition. Daher sein Bedürfnis nach Demokratie, nach Revolution, weil er sich von Zeit zu Zeit immer wieder einmal der Übermacht des Erbes wehren muß, an dem er sonst erstickte. Daher aber auch die Sicherheit, Anmut und Freiheit seines geistigen Schritts: Jahrhunderte führen ihn den gebahnten Weg. Dem deutschen Redner dreht sich jeder Satz erst dreimal in der Kehle würgend um; der Franzose, für den die Sprache spricht, hat's leicht, selber aus Eigenem bloß ein paar erstaunliche Wendungen beizusteuern. Toujours plus admirable écuyer de sa propre nature, so hat Paul Valéry, als ob er Barrès wäre, sein Ideal ausgedrückt; Nietzsche wie Goethe hätten ihm freundlich zugenickt. Denn es ist auch das unsere, es ist das des ganzen Abendlands, Kunstreiter der eigenen Natur zu werden. Nur holt sich der Franzose sein Pferd aus dem Stall seiner großen Tradition, da steht es schon dressiert bereit; wir aber vergeuden das halbe Leben damit, unseren Gaul erst zuzureiten.

Das war mein Pariser Erlebnis, entscheidend für alle Zukunft: das Geheimnis der Form ging mir auf, der großen Form, durch die der Sinn von Urvätern über die Jahrhunderte hin in den Geschlechtern lebendig bleibt. Auch wir daheim hatten sie, zum letztenmal im Barock. Aber das galt doch jetzt unter uns als ein verrufener, lächerlich überladener, schwülstiger Stil, dessen uns zu schämen wir von klein auf angehalten worden waren. Immer das Erbe zu verleugnen treibt den Deutschen ein eingeborener Hochmut des Verstandes, jeder Deutsche glaubt, der erste Mensch zu sein, mit ihm beginnt die Welt noch einmal von vorne. Wir sind ein Volk des Werdens, ja wir setzen unseren Stolz darein, unablässigem Werden verhaftet zu sein. Darum hat uns Hölderlin, griechischester Deutscher und deutschester Grieche zugleich, »das Gegenteil des Griechen« genannt. Denn wenn es über alles irdische Geschöpf verhängt bleibt, der Sturmflut des ewigen Werdens hier niemals entrinnen, niemals hier das Ufer des Seins berühren zu dürfen, so konnte sich der Grieche durch seine bildende Kraft immerhin mit der holden Täuschung eines ruhenden Seins umgeben, im Parthenonfries scheint das tosende Werden durch selig weilende Gestalt gestillt. Unter allen deutschen Stämmen waren die Franken an Sinn, Kraft und Drang die geborenen Bildner und die von ihnen, die nun noch jung und frisch in lateinische Zucht kamen, erbten etwas von der alten Griechensehnsucht nach einem Bann des Werdens: es zog sie von der Unrast alles Geschehens zur erstarrten Erscheinung des Geschehenen, sie lernten vom Werden ausruhen im Gewordenen. Im Deutschen, der in »diesem: Stirb und Werde!« das Gebot des Lebens erkennt, den schon die bloße Nähe des Seins ängstigt, der darum auch niemals »fertig« werden kann, in keinem Sinne des Worts, und im Franzosen, der selbst dem flüchtigsten Augenblick den Schein der Ewigkeit geben, fernste Stammväter in Urenkeln wiederkommen und fortleben lassen und alle Vergangenheit immer von neuem um jede Gegenwart versammeln will, stehen einander zwei Grundformen der Menschheit gegenüber, ihre beiden Pole. Darum empfinden wir auch Deutsche, die nach Totalität verlangt wie Nicolaus Cusanus, Goethe und Nietzsche, fast als halbe Franzosen, während hinwieder aufs Ganze dringende Franzosen wie Pascal, Benjamin Constant, Balzac, Barrès und Claudel fast etwas Deutsches haben: sie wie wir können die gemeinsame Wurzel nicht verleugnen, das macht uns einander unerträglich.

Ich war in der damals bei Deutschen üblichen Verachtung der Form aufgewachsen. Und daß gerade die deutschen Hüter der Form in der Kunst zu jener Zeit Epigonen ohne Kraft, Natur und Persönlichkeit waren, hat unsere Jugend ja nur noch darin bestärken müssen. Wir hatten recht, diese leere Form zu verachten. Aber statt nun aus unserer ungestalten Fülle von Ideen, Gehalt und menschlichen Werten eine neue Form zu schaffen, bekannte sich der deutsche Naturalismus grundsätzlich zur Formlosigkeit. Arno Holz ahnte nicht, wieviel Form doch insgeheim sein neuer Stil schon keimend enthielt, ja daß, indem wir einen neuen »Stil« verhießen, eben damit doch schon Form gefordert war. Aber da stieß ich nun hier bei Zola, eben dem Zola, den wir daheim als den Großmeister der neuen Kunst verehrten, auf den Satz: Une phrase bien faite est une bonne action.

An diesem Tag begann ein neues Leben für mich. Dieser Satz hat mich erweckt. Er erinnerte mich an Gut und Böse. Noch bevor wir die Formulierung bei Nietzsche fanden, lebten wir »jüngsten Deutschen« ja längst schon jenseits von Gut und Böse. Dafür war in unserer »materialistischen Geschichtsauffassung« kein Platz. Aber mit der Scheidung zwischen Gut und Böse fiel doch auch die von Schön und Häßlich. Fair is foul and foul is fair: über dieses Macbethsche Hexeneinmaleins kamen wir mit unserer neuen Ästhetik nicht hinaus. Aber warum saß ich dann Tage lang, Nächte durch und strich, was ich eben niederschrieb, gleich darauf wieder aus, ein neues Wort dafür einsetzend, aber auch dieses im nächsten Augenblick wieder mit einem anderen vertauschend, dem es dann aber gleich auch nicht besser erging, bis ich in Wutanfällen morgendlich zuweilen am Ende den ganzen Stoß vor lauter fiebernden Strichen unleserlicher Blätter zerriß? Was zwang mich denn, an jeder Wendung unablässig immer von neuem zu feilen, jetzt sie zuzuspitzen, bis sie mir in den Fingern zerbrach, gleich aber dann wieder abzurunden, bis sich der Gedanke kugelte, dann aber noch geschwind hier ein Adjektiv zu wechseln, um ein eben verworfenes wieder aufzunehmen, oder dort auf einmal etwas auszusprechen ganz gegen meinen Sinn und mir höchst unerwünscht, bloß weil mich ein Wort verlockte, bloß von seinem Klang betört? Jetzt verstand ich das erst, jetzt ward es mir bestätigt durch jenen Satz: Une phrase bien faite est une bonne action.

Und nun ging mir überhaupt auf, daß wir in Berlin den Naturalismus der Franzosen von Grund aus mißverstanden hatten. Wir legten ihn uns materialistisch aus, wir nahmen ihn beim Wort, wir hörten ihm nicht an, daß er von den Franzosen nur als Reaktion gegen die Romantik gemeint war, als Wiederkehr ihrer klassischen Tradition, wenn auch auf einem wunderlichen Umweg. Les brutes qui croient à la réalité des choses!, sagt Flaubert einmal, auch ein Großmeister des Naturalismus. Und eben auf diesen Glauben à la réalité des choses war unser Berliner Naturalismus doch eingeschworen. Mir ahnte zum erstenmal, daß der Franzose sich überhaupt eine viel wildere Freiheit, ja Frechheit der Forderungen nehmen darf, in allen Dingen, als wir, weil er, wie »radikal« er sich auch gebärden mag, innerlich viel stärker gebunden ist, weil er Überlieferung von Jahrhunderten im Blut hat. Sie steuert ihn sicher, von welchen Attitüden immer er auch sich gerade treiben zu lassen meint. Louis Menard, zu meiner Pariser Zeit einer der geheimen Lenker des französischen Geistes, ist ein Beispiel dafür. Schulkamerad Baudelaires, Jugendfreund Leconte de Lisles, Chemiker, Philosoph, Philolog, Landschafter aus dem Kreise derer von Barbizon, 1848 als Revolutionär flüchtig, im Exil mit Blanqui befreundet, mit Marx bekannt, nach seiner Heimkehr intim mit Berthelot und Renan, ein wilder Freidenker, aber keineswegs Materialist oder Atheist, sondern mit einem seltsamen Polytheismus prunkend (Rêveries d'un païen mystique heißt sein Hauptwerk), hat er, der heute sicherlich Kommunist wäre, sich im Ungestüm seines wilden Verlangens nach Unbedingtheit zugleich doch immer ein solches Bedürfnis nach innerer Bindung bewahrt, daß er versichert: Un peuple qui a renié ses dieux, est un peuple mort. Zwischen seiner Eifersucht, nur ja nichts vom geistigen Erbe der Menschheit preiszugeben, und dem ebenso starken Verlangen des geborenen Refraktärs, die Welt durchaus unter seinen Willen, seinen Verstand, seinen Eigensinn zu bringen, eingezwängt, geriet er in eine Spannung, die sich in heillosen Paradoxen entlud und ihn gelassen den verruchten Satz wagen ließ: J'aime beaucoup la Sainte Vierge, son culte est le dernier reste du polytheisme. So gelang es ihm, seiner angeborenen inneren Haltung die Treue zu bewahren, ohne sich dadurch in den abenteuerlichen Gelüsten seines Intellekts stören zu lassen. Es gelang ihm, ein Gleichgewicht zwischen den Attitüden, in denen sich sein Verstand gefiel, und den Bedürfnissen seines Gemüts zu finden. Man denkt unwillkürlich an Péguy, der zehn Jahre nach mir in Paris ankam, zunächst Freund von Jaurès, Marxist und Dreyfusard, aber bald durch seinen instinktiven Haß gegen alles juste milieu immer mehr ins Extreme gedrängt, fast Anarchist, eine Zeitlang auch Bergson sehr nahe, doch in allen diesen Wandlungen immer seiner geliebten Jeanne d'Arc treu, »la sainte la plus grande après sainte Marie«, von allen seinen geistigen Veränderungen innerlich nicht bloß unverletzt, sondern tief in sich ganz unberührt. Der Franzose läßt sich seinen Intellekt niemals bis ans Herz gehen. Es bleibt ein Geistesspiel, mit aller Bravour und oft genug um den Einsatz der ganzen äußeren Existenz gespielt, doch ohne die Wurzeln der inneren zu berühren; es bleibt an der Fläche, die Tiefen hütet jenes anonyme Bedürfnis, das in jedem echten Franzosen wacht, das Bedürfnis nach

Quelqu'un qui soit en moi plus moi-même que moi.

Was Claudel mit diesen Worten meint, davon bewahren sich auch ungläubige Franzosen fast immer noch einen Hauch. Sie geben die Lehre preis, aber indem sie die katholische Form bewahren, ist auch ihr Gehalt unbemerkt immer noch in Kraft. Die Windstille geborgener Verschwiegenheiten stört ihnen kein Laut des Verstandes, wie frech er auch draußen lärmen mag.

Der in mir mehr von mir ist, als ich in Person bin, war seit der Entlassung aus der benediktinisch sanften Zucht meines unvergeßlichen Salzburger Lehrers Josef Steger von Jahr zu Jahr immer stiller geworden. Ich horchte nicht mehr in mich hinein, so schwieg auch er, vor meiner trotzigen Vernunft verstummend. Jetzt aber in meiner polyphonen Pariser Einsamkeit, im Louvre vor dem beseelten Lächeln der Milesierin, vor der Gioconda, vor Ghirlandajos Altem mit dem Knaben, oder wenn ich oft im violetten Abenddunst auf der Brücke stand, mit dem Blick zu den grauen Türmen von Notre Dame, oder auch wenn ich mich ins Gewühl der Boulevards gleiten und vom Menschenstrom treiben ließ, fing es tief aus mir zu tönen an; ich hörte das Gesetz schlagen in meiner Brust. Noch verstand ich es kaum. Es sprach mir noch nicht von Gut und Böse, doch Schön und Häßlich schied sich jetzt in mir wieder rein. Ich brauchte noch an die zwanzig Jahre, bis ich alle Schlüsse daraus zog und die Kraft fand, das Endurteil zu fällen. Aber im Grunde begann meine Heimkehr zur Kirche schon an dem Tag, als ich zum erstenmal jenen Satz las: Une phrase bien faite est une bonne action.

Mein Gewissen erwachte, wenn auch zunächst nur künstlerisch. Es regte sich das Gefühl für Qualität, für eine durchaus meiner Willkür entrückte Qualität, für Qualität an sich, nicht erst einer Beziehung auf mich bedürftig, nach meiner oder irgendeines anderen Menschen Zustimmung nicht fragend, in sich ruhend, eingeborenem Gesetz gehorsam, uns unermeßlich, selber Maß gebend. Ich fühlte zum erstenmal wieder eine Macht über mir, ich fühlte, daß sich zu ihr der Mensch nur dienend verhalten konnte. Denn mit der Qualität, an der Qualität war doch zugleich auch schon eine Rangordnung da, der Begriff von Wert und Unwert ging mir auf, und auch er wieder als etwas mir Überordnetes, um mich Unbekümmertes, an sich Gültiges. Ein Stufenbau stand unbeweglich da, dem fließenden Schein entwuchs Gestalt, Werden war gestaut, Sein erschien mir, fast meinen Händen greiflich, Sein, vor dem die Zeit still stand, Sein, das mir mitten im Schein der Zeit ein Pfand der Ewigkeit gab. Nun hatte mein Leben erst einen Sinn, im Morgenrot eines Ethos. Das Wort des Epimetheus bewährte sich an mir:

Ich irre nicht. Die Schönheit führt auf rechte Bahn.

Baudelaire war's, der mir zunächst die Bahn der Schönheit wies, und in Theophile Gautiers Vorwort zu den Fleurs du Mal fand ich sozusagen das Vokabular meines Glaubens an die Kunst. Hier war, mit wildem Zorn über les philantropes, les progressistes, les utilitaires, les humanitaires, les utopistes et tous ceux qui prétendent changer quelque chose à l'invariable nature et à l'agencement fatale des sociétés, die Würde der Kunst verkündigt: C'est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au delà et que voile la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalité. C'est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l'âme entrevoit les splendeurs situées derrière le tombeau. Und die Tränen, die jedes echte Kunstwerk uns vergießen läßt, sind ein Zeugnis unserer nature exilée dans l'imparfait et qui voudrait s'emparer immédiatement, sur celte terre même, d'un paradis révélé. Ganz ebenso fand später Charles Maurras in der Kunst la joie de saisir dans leur haute évidence des idées-mères. Ich aber war freilich von dieser Evidenz der Ewigkeit, die wir durch die Kunst erleben, so gewaltig beglückt, daß sie mir zu genügen schien und ich noch Jahre vergehen ließ, ohne selber vom Glauben tätigen Gebrauch zu machen. Als ich neulich einmal Wolfgang Heine fragte, was er denn zu meiner sogenannten Konversion gesagt hätte, gab er mir zur Antwort: »Ich habe mich nicht einen Augenblick darüber gewundert, denn du warst damals an der Berliner Universität als Marxist schon Katholik in jeder Faser, du hast es damals nur selber nicht bemerkt!« Daß ich es aber auch jetzt in Paris, das mich von Grund aus zu mir selber konvertierte, noch immer nicht bemerkte, ist seltsam. Ich ergab mich mit solcher Leidenschaft in den Dienst am irdischen Wort, daß ich das ewige, dessen Statthalter im Schein die Kunst ist, überhörte. Pour le poëte, heißt es in jener Einleitung Gautiers zu Baudelaire, les mots ont, en eux-mêmes et en dehors du sens qu'ils expriment, une beauté et une valeur propres comme des pierres précieuses … Il y a des mots diamant, saphir, rubis, émeraude, d'autres qui luisent comme du phosphore quand on les frotte, et ce n'est pas un mince travail de les choisir. Das klingt deutschen Gewohnheiten seltsam, uns ist durch Erziehung, die sich bloß an den Verstand hält und auf Gebrauch, auf Nutzen zielt, das Gehör für das innere Leben der Worte verkümmert worden, für ihr Vorleben sozusagen, denn sie quellen ja jungen Völkern unmittelbar vom Munde, lange bevor allmählich den Lauten dann auch erst ein bestimmter Sinn eingeprägt, bevor der Laut eine Münze des Begriffs wird. Jedes Wort ist zunächst eine Lautgemeinschaft von Vokalen und Konsonanten: Laute ziehen einander geheimnisvoll an, stoßen einander geheimnisvoll ab, und aus diesem Liebesleben von einander suchenden und fliehenden Lauten entsteht die Sprache, zunächst mehr Gebärde, mehr Gestalt als Sinn, den sie später erst, gleichsam um sich vor sich selber zu rechtfertigen, zögernd und ungewiß heranzieht. Dieses Urleben der Sprachen wiederholt sich in den Dichtern; der Dichter hört den Worten ihr geheimes, noch nicht in den Dienst der Verständigung gezwängtes, noch von Zwecken unberührtes Wesen ab, kein schöneres Beispiel gibt es dafür als die Sprache des jungen Goethe, sozusagen eine Sprache noch vor der Vertreibung aus dem Paradiese. Jacob Grimm war es, der, mit dem Ohr des Dichters den »einfachsten Elementen des Lauts und der Flexion« lauschend, »durch Graben in den Grund« auf die Wurzeln stieß, in denen noch der Eigensinn der Sprache rein und vom Gebrauch zu menschlichen Zwecken ungeschwächt lebt. Wenn ich noch jetzt als alter Mann nicht ablassen kann, immer wieder zuweilen seine Deutsche Grammatik aufzuschlagen, irgendwo, bloß um auf gut Glück ein paar Seiten lang Reihen von Sprachwurzeln zu lesen und den Atemzügen von Urlauten zu horchen, die mir, eben weil sie noch nichts deutlich sagen, sondern aus dem Schlafe der Menschheit reden, eben darum mehr von unseren Geheimnissen verraten, als der Verstand zu fassen vermag, so geschieht's aus demselben Heimweh nach einer von irdischen Zwecken noch ungetrübten Welt, das mich damals zum »Artisten« werden ließ. »Die Konsonanz gestaltet, der Vokal bestimmt und erleuchtet das Wort«, sagt Jacob Grimm einmal: so gibt uns jedes Wort Gestalt, Maß und Licht. Der Artist des Worts glaubt nun, indem er der Sprache ganzen Reichtum an Gestalt, Maß und Licht empfängt, unmittelbar an der unsichtbaren Welt teilzunehmen und darum alles, was man Sinn, Gehalt und Bedeutung nennt, entbehren nicht bloß zu können, sondern zu müssen: was ihm von der Form ausgesprochen wird, überwältigt ihn so beglückend, daß er es als ruchlos empfände, nun auch noch selber mit eigenem armseligen Menschenmund etwas sagen zu wollen. Ich aber ging bald in meiner Gleichgültigkeit gegen den Gehalt so weit, daß mir sogar gerade der schlechteste Gehalt erwünscht schien, weil eben an ihm die Form ja die Wunder ihrer Kraft zu tun die schönste Gelegenheit hätte. Einer Sammlung von Novellen gab ich später den Namen Caph. Diesem Buchstaben mißt der Adept, in seiner Rechten den Schlüssel Salomonis, in der Linken den blühenden Mandelzweig (denn auch in Magie fürwitzig dilettieren lehrte mich Paris), die magische Kraft zu, Kot in Gold zu verwandeln. Jeder Gehalt unseres irdischen Daseins schien mir Kot, aus dem aber pures Gold aufleuchtet, wenn ihn der Künstler mit dem Himmelsstrahl der Form berührt. Daß, wenn uns die Form schon hier in der Zeit einen Vorgeschmack der Ewigkeit und in mensura et numero et pondere die Gewähr der Wahrheit gibt, es nun aber erst an uns selber ist, mit eigener Kraft auch nach der Verheißung zu greifen durch unsere Tat, indem wir uns nicht mit der stummen Anerkennung jener Werte, für die der Sternenhimmel über uns und das Sittengesetz in uns bürgt, begnügen, sondern hinfort auf sie jeden Schritt unserer irdischen Wanderung, ja das Angesicht unseres ganzen Lebens richten lernen, blieb mir noch lange fremd. Mich hatte die Gnade gestreift, aber ich bog ab und meinem Flattersinn ward nur wieder ein neuer Irrtum daraus. Doch als nach einem halben Jahr Viktor Adler zum Kongreß der Internationale kam, fiel ihm auf den ersten Blick meine tiefe Verwandlung auf: aus dem Marxisten war ein spiritualiste ardent geworden; er traute seither in der Partei keinem Intellektuellen oder gar Künstler mehr über den Weg.


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