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Der Obhut seiner jüngeren Schwester hatte mich mein Vater anvertraut. Mein Großvater starb jung und seine Witwe, die Tochter Kaspar Reisingers, Büchsenmachers auf der Hohen Veste, nachmals Hausherrn zu Gnigl, der aus dem Bilde eines braven Salzburger Malmeisters heute noch mit grauen harten Augen unwirsch auf mich herabsieht, heiratete bald wieder: den Postdirektor Waniczek, einen Böhmen, aus dem aber, wie das damals oft vorkam, rasch ein Urwiener geworden war, die Lebenslust, der Leichtsinn, die Liebenswürdigkeit in Person, so herrlich sorglos, daß er damit seinem Stiefsohn, meinem Vater, manche Sorge bereitet hat. In der Luft eines gelinden Nachsommers von Alt-Wien, einem nicht ganz echten, aber eben darum nur desto lebhafteren, allerliebst täuschenden Wien wuchs die Tante Anna auf, ein hinreißend schönes Mädchen, heiter, gutmütig, launisch, mit einer ungewöhnlich großen Stimme begabt, die sie zur Bühne zu bestimmen schien, für die sie denn auch schon völlig ausgebildet war, als sie noch im letzten Augenblick weggeheiratet wurde, von Dr. S. Robicsek, einem jungen Zahnarzt, der, ungarischer Abkunft, Jugendfreund Munkacsys und Ludwig Hevesis, in Wien durch seine kunstvolle Hand, sein glänzendes Wesen, seinen geselligen Takt sich rasch aus den neuen Reichen eine bald ergiebige Kundschaft angeworben hatte, sprudelnd von einer Vitalität, die selbst in der Hast einer jagenden Tagesarbeit niemals die gute Laune, niemals die Lust, immer noch zu lernen, niemals einen fast rührend ehrfürchtigen Sinn für »Bildung« verlor. Im Sommer stand er vom frühen Morgen an in der Maysedergasse beim Plombieren, bis er dann Schlag vier, durch eine Hintertür flüchtend, den Rest von Patienten dem Assistenten überlassend, in einen Fiaker sprang, atemlos zur Südbahn, um dann auch noch in Baden draußen bis zum Sonnenuntergang wieder zu plombieren, unermüdlich dazu den Ärmsten, den er eben an der Zange hatte, mit Stadtwitzen und jüdischen Anekdoten überschüttend, deren er sich stets einen reichen Vorrat jüngster Qualität hielt. Daß er in einer Premiere, bei der Eröffnung einer Kunstausstellung oder in der »Gesellschaft der Ärzte« jemals gefehlt hätte, war undenkbar und noch heiß von einer künstlerischen Debatte ließ er sich im nächsten Augenblick mit derselben Leidenschaft auf ein nationalökonomisches Gespräch ein. Die ganze Woche von Patienten umringt, Sonntags das Haus von Gästen voll, so stadtbekannt, daß, wenn er, um doch einmal Luft zu schöpfen, geschwind bis zur Gartenbaugesellschaft wollte, daraus eigentlich mehr ein Spazierenstehen wurde, mit unaufhörlichen Händedrücken, Erkundigungen nach dem wertesten Befinden und Austausch der neuesten Anekdoten, war er eigentlich niemals allein und niemals gelang ihm, müd zu sein. Seine Gefälligkeit, seine Gutmütigkeit kannte keine Grenzen, ich kann mich nicht erinnern, ihn ärgerlich oder auch nur ungeduldig gesehen zu haben. Als später mein burschenschaftlicher Antisemitismus Blüten trieb, schmiß mich die Tante wütend zur Türe hinaus, mein guter Onkel aber debattierte ganz ruhig auch darüber noch mit mir, ihm war auch ein Antisemit interessant, ihm war alles interessant. Dazu kam hier vielleicht noch, daß ja dem Juden Bedrohungen und Verfolgungen seines Volkes nichts Neues sind. Er ist gewohnt, vertrieben zu werden, und weiß schon: das geht vorüber und er kehrt wieder. So hörte der Onkel auch meinen Antisemitismus gelassen an, ließ sich die Marken zeigen, mit denen wir damals alle stillen Orte der inneren Stadt beklebten, las den sinnigen Spruch:
»Was der Jude glaubt, ist einerlei,
In der Rasse liegt die Schweinerei!«
und sagte dazu nur: »Jetzt ist aber die höchste Zeit ins Philharmonische!«, in das er mich eilends in gewohnter Freundlichkeit mitnahm; er hat mir den Antisemitismus sehr erschwert. Wen immer und was immer bewundern zu können, war sein höchstes Glück. Auf jeden Erfolg eines Wieners, in Wissenschaft und Kunst, ein schönes Bild oder ein Feuilleton von Speidel oder ein neues Haus oder eine widerhallende Parlamentsrede war er sozusagen persönlich stolz. Den Zahn eines Hofschauspielers oder gar des Generalintendanten behandeln zu dürfen, empfand er als eine unverdiente Auszeichnung; sie zu mahnen, wenn sie die Rechnung zu zahlen vergaßen, die bloße Zumutung schien ihm ein Sakrileg. Viele Leute beuteten ihn aus und er blieb ihnen noch dankbar dafür. Von allen Gaben war der Geschäftsgeist am wenigsten in ihm entwickelt. Er muß jetzt, denk ich, bald an Achtzig sein und zieht noch immer Zähne.
Mir schmeichelte sehr, gleich mitten ins geistige Wien hinein zu dürfen, und als mich der Onkel einmal gar mit ins Café Scheidl nahm, wo jeder Tisch mit Berühmtheiten besetzt war, wie klopfte mir da das Herz vor Erwartung, Bangigkeit, Stolz, Verlegenheit und Neugier, mit Menschen, über die die Zeitungen oder die gar selber in Zeitungen schrieben, zusammen zu sein, sozusagen an der Quelle des geistigen Lebens also! Ich war zunächst ganz eblouiert; wirklich nur dieses Fremdwort kann allenfalls die verzückte Blödigkeit, die ratlose Seligkeit andeuten, in der der linzerische Bub mitten unter »Männern der Feder«, wie man damals zu sagen pflegte, von Bewunderung erglühend, saß. Die Zeiten haben sich ja so verändert, daß längst niemand mehr Phantasie genug hat, sich ausmalen zu können, mit welchem Nimbus damals umgeben war, wer sich rühmen konnte, mit dem Cousin eines Redakteurs der »Neuen Freien Presse« bekannt zu sein. Und was mich aber am meisten überraschte, war, daß ich den Geist so ganz anders fand, als ich mir ihn bisher stets vorgestellt hatte: gar nicht pedantisch, ohne jede Schwere, flirrend, lachend, tänzelnd, alles verstehend, alles verzeihend, alles verspottend und auch gleich mit jedermann sozusagen auf dem Duzfuß! Nichts imponierte diesem Geiste, der mir den größten Respekt gerade dadurch einflößte, daß er gar keinen Respekt hatte, vor nichts auf der Welt, nicht einmal vor sich selbst: alles war ihm ein Spaß, mit dem er auch sich selbst keineswegs verschonte, vor ihm zerging alles zu blauem Dunst, den er dann in kunstvolle Ringe blies. Vor Begeisterung begann ich alsbald sämtliche Kollegien zu schwänzen, sogar das über Sanskrit bei Bühler, der damals unter allen Philologen Wiens noch der lebendigste war, denn ich hatte das Gefühl, im Scheidl doch viel mehr zu lernen, das Entscheidende zu lernen, leben zu lernen, zum erstenmal wirklich leben und den Sinn des Lebens lernen, wie war das schön! Und ich kam mir dabei selber unter den Leuten im Scheidl so schandbar dumm vor, ich gräßlicher Provinzler, mit all meiner platonisch benediktinischen Weisheit, die doch offenbar auch also nur erfunden worden, um Kindern etwas vorzumachen, wodurch sich die Wahrheit verhüllen ließ! Aber im Scheidl saß ich endlich Aug in Aug mit der Wahrheit, denn die hier wußten nicht bloß alles, sondern, was ich am meisten bewunderte: sie machten dann gar nicht viel damit her, sie machten sich nichts daraus, sie machten alles zunichte, schließlich sogar die Wahrheit selbst, die berühmte Wahrheit, es gab nämlich gar keine, Schwindel war alles! Diese gaya scienza lehrte mich das Café Scheidl: nichts ist wahr, alles zum Lachen, alles läuft auf irgendeinen Schwindel hinaus, ein Narr, wer sich betrügen läßt, traue keinem, betrüge mit und glaube nichts, dann bist du Herr über jeden und alles!
Mich ergriff das stolze Gefühl einer herrlichen Überlegenheit: dem Leben fielen alle Masken ab, es war von mir in seiner ganzen albernen Nichtswürdigkeit durchschaut, ich gehörte fortan zu den Wissenden und nahm an der Geheimherrschaft des Wiener Zynismus teil. Der hat durchaus nichts Böswilliges, er ist die Liebenswürdigkeit selbst, solange man seine Herrschaft nicht stört: es darf nur niemand prätendieren, anders zu sein; jeder gilt, der nichts gelten läßt. Ich staunte zunächst, als ich belehrt wurde, daß alle Reichen Diebe sind und alle Frauen Dirnen. Aber ich wurde beruhigt, dies sei ihnen durchaus nicht übel zu nehmen, außer wenn einer die Dreistigkeit hat, eine Ausnahme machen zu wollen. Dem wird aufgepaßt, bis man mit Befriedigung konstatieren kann, daß auch Herr X. ein Dieb ist und ihn übrigens nicht bloß seine Frau, sondern auch seine Geliebte betrügt. Steht das einmal fest und ist also das Weltbild wieder gesichert, so werden auch Herr und Frau X. mit Vergnügen feierlich rezipiert und erfreuen sich fortan allgemeiner Achtung und des Schutzes, den jede starke Gesellschaft ihren Mitgliedern gewährt. Mit meinen bisherigen Urteilen wurden mir auch alle Vorurteile genommen: ich hatte bisher anständige und unanständige Menschen unterschieden, ich erfuhr jetzt, daß es anständige Menschen überhaupt keine gibt, aber ich sah doch auch, daß ja die unanständigen eigentlich ganz anständig sind, und jedenfalls sehr nett und gefällig. Das Leben wurde viel leichter, als ich es mir bisher vorgestellt. Auch gewann ich, seit ich Berühmtheiten aus der Nähe sah, ein gewisses Selbstvertrauen; es schien mir nicht mehr unerreichbar, eine zu werden.
Meine beiden ersten Wiener Monate waren eben vorbei, da saß ich eines Feiertags bei meinem Onkel, als in unseren Plausch hinein plötzlich Lärm von der Gasse drang: das Ringtheater brennt! Wir liefen hin, gewaltig war der Anblick der Flammen, furchtbar das Angstgeschrei von Verzweifelten, die hinein in das brennende Haus wollten, um Angehörige besorgt, erst durch den erlösenden Ruf gebändigt: Alles gerettet! Da gingen auch wir, aufatmend, wieder fort, ins Café Scheidl die gute Nachricht zu bringen, daß alles gerettet. Hier saß in der Mitte, von Tröstenden umdrängt, laut jammernd der dicke Eduard Mautner, der gefeierte Dichter der »Eglantine«, der auf das »Alles gerettet!«, mit dem jeder neue Gast eintrat, immer wieder wehklagend ausrief: »Aber mein Manuskript?« Er hatte sein neues Stück im Manuskript dort liegen und stöhnte laut vor Schmerz über den Raub der unliterarischen Flammen. Es war eigentlich ganz gut zu verstehen, obwohl er immerhin den öffentlichen Ausdruck seiner Verzweiflung vielleicht etwas mäßigen hätte können. Mir aber, der bisher den Geist dieser Dichter und Künstler um seiner Erhabenheit über alles Kleinliche willen so sehr bewundert hatte, ward dabei seltsam zumute, zum erstenmal fiel in meinen Enthusiasmus ein Tropfen Zweifel. Unversehens schlug in mir doch der Provinzler, der Philister durch, der, wenn er wählen muß, sich keinen Augenblick besinnen wird, das Manuskript von Goethes »Faust« verbrennen zu lassen, um das Leben eines Säuglings zu retten, selbst wenn es ausgemacht wäre, daß aus diesem Säugling ein Kretin wird. Ich erschrak fast, von welcher Übermacht sich plötzlich der Philister in mir zeigte, den ich später immer wieder von neuem niederrang, doch nie ganz, auch heute noch nicht; ich habe viele Jahre darauf verwendet, aus meiner Haut zu fahren, aber sie fing mich doch immer wieder ein. Ob des guten, sonst so vergnüglichen Eduard Mautner, eines sogar preisgekrönten Dichters Manuskript nicht doch vielleicht gerettet oder irgendwie wiederhergestellt worden ist, weiß ich nicht, aber der Anfang zu meiner Rettung aus dem Scheidl war gemacht.
In dieser Enttäuschung und Ernüchterung fiel mir ein, doch gelegentlich wieder einmal ein oder das andere Kolleg zu hören. Aber das erwies sich als unmöglich, ich hielt's einfach vor Langweile nicht aus. Von dem hohen Begriffe des klassischen Studiums, den mir Josef Steger, mein unvergeßlicher Salzburger Lehrer, gegeben, war in der Öde des philologischen Betriebs, der nur möglichst rasch Kandidaten für das Lehramt an einer Mittelschule notdürftig grammatikalisch abzurichten suchte, nichts zu spüren; es fehlte der Geist, es fehlte jede Persönlichkeit, es fehlte das Erlebnis. Unter diesen Herren, die möglichst spät kamen, eiligst vor sich hin etwas von Zetteln ablasen, ohne den Hörer auch nur anzublicken, und aufatmend mit dem Glockenschlag wieder ihre Zettel einpackten, mögen daheim vielleicht ganz achtbare Gelehrte gewesen sein, Kraft der Mitteilung hatten sie keine. Ich denke heute noch zuweilen mit leisem Bedauern, wie vielleicht mein ganzes Leben anders geworden wäre, hätten wir damals in Wien Erwin Rohde oder irgendeinen anderen inneren Griechen gehabt. Nun fing ich an, zuweilen in anderen Fächern herumzuhorchen. Erich Schmidt, noch sehr jung, bei den Studenten durch den Reiz seiner Erscheinung, sein burschikoses Wesen, besonders aber, weil man ihn auch im Prater im »Velozipedzirkus« finden konnte, beliebt, wirksam schon, weil er frei sprach, aufrecht stehend und mit den Blicken auf der Hörerschaft, war mir nur doch etwas gar zu sehr um die Wirkung bemüht; um einen Schauspieler zu sehen, ging ich nicht ins Kolleg. »Da müßten Sie gar aber erst einmal Lorenz von Stein hören,« sagte man mir, »das ist das höchste Theater!« So kam ich, neugierig, ins Kolleg Lorenz von Steins, ohne kaum recht zu wissen, was das denn eigentlich wäre: Nationalökonomie. Stein bezauberte mich. Auch Theater, ja, doch wirklich »höchstes«, von einer flirrenden, sprühenden, in der Maske von allerhand fast skurrilen Mätzchen und Geckereien doch so sublimen Geistigkeit, daß ich, jugendlich rasch die Sache mit der Person verwechselnd, den begeisterten Dank für die magische Wirkung Steins sogleich auf seine Wissenschaft übertrug, auf diese mir bis dahin kaum dem Namen nach bekannte Nationalökonomie, die mir nun auf einmal der Inbegriff der neuen Zeit, das Siegel unserer Geheimnisse schien. Immer schon ein starker Leser, besonders in der zweiten Hälfte des Monats, wenn mein Wechsel von fünfundsiebzig Gulden schon ziemlich aufgebraucht war, so daß ich bei Wurst und Käse daheim saß, ein Vielfraß und ein Schnellfraß der dicksten Bücher, fing ich, noch an der Kritik der reinen Vernunft kauend, nun auf einmal, was sich nur immer an ökonomischen Büchern erraffen ließ, zu verschlingen an, und nach Jugendart am liebsten das Allerletzte, gleich das Allerneueste. Damals begann ich auch zum erstenmal zu merken, daß Politik vielleicht doch nicht bloß, wie in unserem Linzer Landtag daheim, ein Kampf aufgeklärter Advokaten und Notare mit bösen Pfaffen und dummen Bauern war, ich begann nun in der Zeitung auch was über dem Strich stand zu lesen und vernahm, wovon man auch in Linz noch nichts wußte, daß ein wilder Ansturm slawischer Horden die deutsche Kultur, ja, die Gesittung des Abendlands bedrohte.