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Ἀεὶ γὰρ εὕ πίπτουσιν oἱ Διὸς κύβοι. Das hat mir mein Leben immer wieder bestätigt. So kam ich mit fünfzehn Jahren ans Gymnasium in Salzburg.
Anlaß war die Geburt eines dann jung verstorbenen Bruders. Ihm Platz zu machen, wurde beschlossen, mich aus dem engen Hause zu geben. Die Wahl fiel auf Salzburg, die Heimat meiner Großmutter. Ihr Vater, der Kaspar Reisinger, hatte sein Leben als Büchsenschmied auf der Hohen Veste, sein Alter auf einem kleinen Anwesen in der Gnigl zugebracht, wo dann mein Vater im Jahr 48, von der besorgten Mutter aus Wien heimgeschickt, der Nationalgarde exerzieren zusah. Er behielt Salzburg so lieb, daß er, 1896, auf seine alten Tage nach Salzburg zog; hier ist er 1898 gestorben, hier liegt er, mit meiner Mutter, die ihm 1902 folgte, begraben, hier erwarten sie mich.
Ich atmete auf, als ich Linz entkommen war. Ich hatte mich dort gar nicht mehr ausgekannt. So furchtbar sinnlos schien mir das ganze Leben! Ich war ganz allein mir selbst überlassen und wußte mir gar keinen Rat. Vater ging morgens in seine Kanzlei, müd kam er abends atemlos heim. Mama hatte Kopfweh. Die Lehrer begnügten sich, uns die Lektion abzuhören. Freunde zu haben, lag niemals in meiner Natur. Mir ward alles spielend leicht, meine Lehrer verwöhnten, meine Kameraden bewunderten mich, ich war beliebt und wurde bestaunt, machte mich über alle lustig und fragte mich doch oft, ob, wenn das alles war, wenn das Leben wirklich nur darin bestand, immer nur aus einer Klasse zur nächsten aufzusteigen und dann nach acht endlosen Jahren vom Gymnasium an die Universität zu kommen, alles aber nur, um schließlich dereinst auch nur wie der Vater wieder täglich morgens in die Kanzlei und täglich abends aus der Kanzlei zu gehen, bloß um Geld zu verdienen, ob denn das eigentlich dafür stand, sich tagaus, tagein die Zähne zu putzen und alle diese lästigen Sachen, ob es da nicht wirklich gescheiter wäre, sich lieber auf zuhängen. In solchen Gedanken bestärkte mich noch der Selbstmord des Onkels Anastas. Dieser wunderliche Mann, eine Mischung von richtigem österreichischem Hofrat mit Timon von Athen und höhnischem Misogyn, der übrigens eine merkwürdig tolstoisierende Schrift über die »Degeneration der Bevölkerung« hinterlassen hat, ertränkte sich. Er litt an dem Wahn, seit vielen Jahren keine Nacht mehr geschlafen zu haben. Um ihn von seiner Einbildung zu heilen, räumten wir ihm einst das ganze Zimmer aus, in dem er schlief, so daß er, der nichts davon bemerkt hatte, sich am anderen Morgen erwachend im leeren Raum fand. Es half nichts. Er gab zu, ja nachts oft stundenlang bewußtlos zu sein, doch verdiene dieser Zustand nicht, Schlaf genannt zu werden; zum Schlaf gehöre doch vor allem auch das Gefühl zu schlafen und eben darin, daß er seit vielen Jahren dieses unentbehrliche Gefühl zu schlafen nicht mehr kenne, bestehe sein entsetzliches Leiden. Das fand man komisch von ihm. Es muß ihm aber doch nicht sehr komisch zumute gewesen sein, denn schließlich trieb ihn eines Tages diese gar nicht vorhandene Schlaflosigkeit in die Donau. Nach Tagen erst ist er in Niederwallsee herausgefischt worden; es war die erste Leiche, die ich sah. Ein Brief, in seinem Schreibtisch gefunden, gab an, er hätte sein schlafloses Leben nicht länger ertragen können. Mir aber, so gut ich schlief, kamen eigentlich die anderen, die dieses Leben ertrugen, dessen Sinn einem niemand sagen konnte, noch viel verrückter vor als der Onkel, der es in seinem lieben stillen Grab jetzt sicherlich viel besser hatte. Die Frage blieb für mich nur, ob das Leben nicht aber insgeheim vielleicht doch irgendeinen Sinn hätte, den man nur uns Kindern so sorgfältig verbarg.
Verachtung meiner Lehrer, spöttische Gleichgültigkeit gegen die Kameraden, hochmütiges Mitleid mit den Eltern, Hohn für das Treiben der Welt, Unzufriedenheit mit mir selbst, der aus einer Gutmütigkeit, die mir feig schien, in dieser allgemeinen Albernheit, die er durchschaute, dennoch fröhlich mitzuplätschern sich nicht entblödete, dies alles trug ich in jenen Jahren vor mir zur Schau, was mich übrigens aber durchaus nicht abhielt, ein höchst ausgelassener, schlimmer Bub zu sein, der nur, mitten in den üblichen Lausbübereien sich dann immer wieder plötzlich auf seine Würde besinnend, es ihr schuldig zu sein glaubte, vor sich selber zynisch zu tun. Ich war es gar nicht, aber ein törichter Ehrgeiz, früh von den Eltern geweckt, von den Lehrern durch Schmeichelei, die nach dem Vater, dem Landesschulrat, zielte, noch genährt, redete mir allerhand Empfindungen als für einen, jungen Menschen von meiner Begabung unerläßlich ein: ich spielte mir die Leiden eines jungen Genies in ahnungsloser Umgebung vor. Es ist in meiner Art, mich zuweilen auf Dinge, die mir eigentlich gar nicht liegen, einzulassen, bloß weil es meinen angeborenen Spieltrieb reizt, zu zeigen, wie Zettel der Weber, daß ich auch das kann. Damals hat mich darin vielleicht auch noch mein wildes, unsinniges, wahlloses Lesen bestärkt, das ärgste Laster meiner Jugend: ich las alles, was mir unterkam, ich las noch Robinson und Christoph von Schmid, als ich auch schon Shakespeare las. Und was ich las, schrieb ich dann aber auch selber gleich: das Lesen wurde dem Buben unter der Hand zum Dichten. Ich schrieb mit dreizehn Jahren einen shakespearisierenden, fürchterlich blutrünstigen Tilli voll Hexen aus dem Macbeth und geschändeten Nonnen, aber um dieselbe Zeit schrieb ich ein heiteres Spiel in Versen, den lieben guten alten Notar Pröll mit seiner gestrengen Frau Julie, die besten Freunde meiner Eltern, gutmütig verspottend, schön ganz in dem Bauernfeldton des späteren »Tschaperl« oder der »Wienerinnen«, den ja schließlich auch das »Konzert« noch hat, wenn auch um eine Oktave heller. Diese Dichtelei des Knaben war übrigens gar nicht so harmlos, als sie den Bewunderern schien. Denn indem er sich dichtend etwas aussann, gefiel es ihm so, daß er dabei Lust bekam, das nun doch aber auch wirklich erleben zu wollen. Ich machte ja Liebesgedichte, bevor ich verliebt war. So geriet ich in Gefahr, das Verhältnis ganz zu verkehren und Ersonnenes zu leben, statt Erlebtes zu formen. Bewahrt hat mich davor schließlich nur der Ekel, den mir damals das Leben erregte, mein eigenes Leben und das Leben überhaupt. Den stillen Reiz der anhaltenden Entsagung, in der mein Vater sich aufopferte, wie das fast erhabene Schauspiel der verhaltenen Erbitterung, in der meine Mutter sich verzehrte, zu begreifen noch unfähig, fand ich alles rings um mich so schal, nichtswürdig und null, daß mich nur die Hoffnung, dies könne doch unmöglich das Leben, das wirkliche Leben sein, es müsse doch irgendwo noch in der Welt ein anderes, das wahre Leben geben, erhielt. Wenn mich selbst heute noch, so redlich ich mich sonst bemühe, jeder Erscheinung, was auch immer sie sei, gerecht zu werden, auch nur der leiseste Geruch nach Bürgertum immer gleich in helle Wut bringt, ist es der Alp jener entsetzlich öden, entgötterten, den platten Nutzen vergötzenden josefinischen Welt, vor der mich bei der bloßen Erinnerung immer noch schaudert. Ich schrie damals vor Seligkeit auf, als es hieß, ich sollte von Linz weg.
Mein Vorgefühl trog nicht. Es war das größte Glück für mich, daß ich gerade noch zur rechten Zeit nach Salzburg entkam. Zum erstenmal trat hier eine geistige Macht in mein Leben. Daß es eine Wahrheit gibt, ging mir auf und so beseligend war ihr Anblick, daß ich wußte, fortan für immer gesichert zu sein. Wie verruchter Abenteuer jenes angeborenen Spieltriebs ich später mich zuweilen erdreistet haben mag, mir konnte doch seitdem eigentlich nichts Arges mehr geschehen, so tief blieb in mich das schützende Gefühl versenkt, daß hinter allem Schein eine Wahrheit liegt. Ich war gefeit. Josef Steger, ein geistlicher Herr, damals Professor, später Direktor des Salzburger Gymnasiums, hat mich nicht bloß Griechisch gelehrt, sondern leben.
Zunächst war mein Debüt in Salzburg aber ein großer Krach mit der braven alten Dame, bei der ich wohnen sollte. Sie versuchte mich zu bemuttern. Das hatte sich meine Mutter Gott sei Dank nie einfallen lassen. Ich war kein Kind für Zärtlichkeiten. Wer mir schön tut, regt heute noch alle mühsam beherrschten häßlichen Gewalten in mir auf. Es ging also gleich vom ersten Tag an nicht. Nun fand ich unter ihren Büchern den Ewigen Juden Eugen Sues, in zehn Bänden. Ich las die ganze Nacht durch, bis an den hellen Morgen. Am nächsten Abend nahm sie mir zur Strafe das Licht weg. Es war aber Mond und so stieg ich mit meinem Ewigen Juden einfach auf das flache Salzburger Dach des hohen Hauses in der alten Judengasse. Die Nachbarn, der etwas spinösen Schulrätin ohnedies nicht grün, nahmen die Partei des armen Buben, von dem es doch nur »schön« war, so »fleißig« zu sein, und ich, mit einem möglichst verlogenen Gesicht, freute mich diebisch. Ich ersiegte mir schließlich die Kerze, doch des anderen Tages erklärte die gute Frau feierlich, keine Stunde länger ein so fürchterliches Geschöpf bei sich zu dulden, wie sie sich in ihrer dreißigjährigen Erfahrung keines anderen von solcher Herzlosigkeit entsinnen könnte. Der Ewige Jude war inzwischen ausgelesen und ich suchte mir eine andere »Kostfrau«, die treffliche Mühlbacher, der genügte, gut zu kochen, und nicht einfiel, mich erziehen zu wollen, weshalb wir immer die besten Freunde blieben.
In Linz war La Roche mein Direktor gewesen, ein Neffe des Schauspielers, guter Philolog, der aber lieber, Tschibuk schmauchend, über seinem Homer saß und einige jüngere Herren vorlaut über die Schule schalten ließ, in jener ganz ungeschichtlichen, unösterreichischen, nirgends wurzelnden, nur Verstand und Gedächtnis übenden, unmenschlichen liberalen Art, an der unsere Gymnasien dann zugrunde gegangen sind. Auch in Salzburg hatte der Direktor, Schulrat Dr. Hermann Pick, nicht sehr viel zu sagen, aber hier war aus der unvergessenen Zeit der Erzbischöfe von der alten Universität her noch eine große Tradition lebendig, uralte Benediktiner-Tradition. Hier hat vor bald sechshundert Jahren unter Pilgram der Mönch Hermann lateinische Hymnen und Sequenzen übersetzt und seine Sprachgewalt abwechselnd an innigen Marienliedern und unverhohlenen Minneliedern ergötzt, hier hat Paul Hofhaimer, musicorum princeps von seinem Jahrhundert geheißen, der ein ganzes Geschlecht musikalischer Humanisten erzog, hier Simon Rettenbacher gewirkt, der größte Polyglott des Barock, Odendichter und Dramatiker und dann erst wie sein eigener Komponist auch als pater comicus des Aulatheaters gleich auch noch sein eigener Regisseur und überdies Zeitsatyriker, Journalist und Schulmeister in einer Person dazu, hier haben selbst am Ausgang der großen Zeit Männer wie Vierthaler und Zauner den alten Geist der Stadt nie ganz entsinken lassen. Er steht hier doch auch zu mächtig hingebaut und es ist ja nicht Zufall, es ist nicht Willkür, wenn Salzburg ein deutsches Rom wurde. Albert von Hofmann, mit seinem wunderbaren Blick dafür, wie Gelände zu Geschichte wird, hat gezeigt, daß ja Salzburgs Ähnlichkeit mit Rom von der Natur selbst diktiert ist: beide sind Befestigungen mit Engen zwischen Fluß und Höhen, mit Scharten zwischen den Hügeln; unserem Klausentor zwischen Salzach und Mönchsberg entspricht der Paß zwischen Palatin und Tiber, unser Schartentor zwischen Festung und Mönchsberg gibt es ganz ebenso zwischen den Sieben Hügeln, Festungsberg und Mönchsberg hier sind wie dort Quirinal und Kapitol. Aber noch mehr: wer vom Gaisberg an blauen Tagen ins Tal schaut, erblickt die römische Campagna. Theodor Däubler, mit dem ich einst dort stand, glaubte zu träumen, als er es sah. Die Salzburger sind erst gar nicht gefragt worden: hier liegt Rom schon in der Luft!
Diese lateinische Luft, nach der die Sehnsucht so tief im deutschen Blut sitzt, daß sie von Urzeiten her, seit nordische Horden zu wandern begannen, der bewegende Trieb und die bildende Kraft aller deutschen Geschichte geblieben ist, lag damals noch auf dem Salzburger Gymnasium. Ein ruhig großer Humanismus benediktinischer Prägung, nicht auf einen glänzenden Vorrat von Kenntnissen oder Fertigkeiten zielend, sondern auf innere Form, in deren sicherer Hut sich der einzelne dann je nach den Gaben, nach den Wünschen seiner Eigenheit unterbringen mag, beherrschte den Unterricht; der Schüler bekam etwas fürs Leben mit: geistige Haltung, eine Zuversicht im Rechten und das unzerstörbare Gefühl, daß es auf äußere Dinge nicht ankommt, sondern auf den inneren Wert. Das wurde dem Schüler gar nicht erst gesagt, er sah ja mit Augen nichts anderes rings um sich herum, er war unfähig, sich auch nur vorzustellen, daß es anders sein könnte. So rein stimmte das Beispiel unserer Lehrer in das Bild der alten Stadt, den Klang der Glocken, den Hauch der Landschaft ein, daß wir diesen Unterricht nur als den natürlichen Ausdruck des Lebens selbst empfanden.
Nicht auswendig Gelerntes prompt aufzusagen hatte hier der Schüler, sondern er sollte was werden, er wurde nicht gedrillt, sondern erzogen. Da war der Mathematiker Doktor Kunz, der auf den ersten Blick sah, daß ich für diese Wissenschaft blind geboren bin, und der nun in einer rührenden Angst, ich könnte durch mathematische Bemühungen innerlich beschädigt oder doch gehemmt werden, alles aufbot, um mir an ihren Problemen sachte vorüber und durch allerhand Schwindel doch noch zu einem »Lobenswert« zu helfen: die Beschämung, mit der er es mir gleichsam abbat, mich, der ihm zu höheren Dingen bestimmt schien, mit seiner inferioren Geometrie belästigen zu müssen, ist mir unvergeßlich. Da war Bentfeld, der Lateiner, der mich bei seiner Lebensarbeit, einem Lexikon zum Vergil, das, glaub ich, niemals fertig geworden ist, ins Vertrauen zog und meinen flatternden Sinn in die heilsam strenge Zucht philologischer Akribie nahm. Da war der von Poesie dampfende Meyer, der, vom Germanisten nicht die leiseste Spur, uns dafür Julius Cäsar mit verteilten Rollen lesen ließ, wobei wir dann auf dem Forum das Testament mit solchem Tumult verlangten, daß der Schuldiener gerannt kam, ob etwa Feuer oder ein Aufruhr ausgebrochen wäre. Ja selbst der jüngste der Lehrer, der einzige, der aus dem Stil fiel, Eduard Richter, später Geograph an der Grazer Universität, alter Silese, Bismärcker, unösterreichisch, das Gegenteil eines Benediktiners, allen Ruhm Habsburgs uns sorgfältig unterschlagend, aber keinen Sieg Friedrichs des Großen, ein begeisterter Unpatriot, auch schon aus Applausbedürfnis und um unserer jungen Spottlust zu schmeicheln immer gern bereit, allem Ehrwürdigen ein hämisches Fragezeichen oder doch ein Augenzwinkern anzuhängen, selbst er in seiner verneinenden Geistesart empfand die ruhige Macht dieser urwüchsigen vollblütigen erdwürzigen Tradition doch zu stark, um ihr nicht unwillkürlich selber zuweilen leise nachzugeben.
Über allen aber, hoch über ihnen, Josef Steger. Ein so reiner Mann ist mir nicht mehr begegnet, kein anderer hat je so gewaltig auf mich gewirkt, ihm bin ich heute noch geisteigen. In allen großen Entscheidungen meines Lebens: 1889, als ich in Paris zur Kunst fand, wie 1904, als Todesnot mich ans Erwachen mahnte, und wieder noch, fast zehn Jahre später, als ich heim zur Kirche ging, immer war da sein Andenken bei mir. Es erlosch nie. Ja fast unheimlich ist es mir, daß von einem Menschen ein Segen von solcher Macht ausgehen kann. Ich wäre sonst verdorben, Gelegenheit war genug. Sein Schutz, noch übers Grab hinaus, ließ es nicht zu.
Er hat »Platonische Studien« verfaßt, er war Dichter. Aber nichts davon läßt den Zauber seiner Gegenwart auch nur ahnen. Wenn der zierlich gewachsene Mann die Stufen der damals noch mit den Bildern der Fürsterzbischöfe geschmückten Stiege heraufkam, die Hände gern auf dem Rücken, lässig leichten Schrittes, doch sehr aufrecht, ja, den edlen, schmalen Kopf immer ein wenig zurück, den Blick himmelan und das Antlitz leuchtend, gleichsam von innen her selber lächelnd über seinen Ernst, dies war von einer Schönheit mit so zarten Schwingen, so bannend, erdentrückend, lösend war es, wie sonst nur Musik uns empfinden lassen kann. Es wurde rein, wenn er kam. Und die lautesten Lümmel waren auf einmal still. His life was gentle, rühmt Antonius dem Brutus nach und eben dieses Wort hat Ben Jonson für Shakespeare selbst gebraucht, gentle hat er ihn genannt. Es ist unübersetzbar: »sanft« sagt nicht genug, denn in gentle klingt noch etwas anderes mit, etwas von guter Geburt, etwas, was einer nicht sich selbst verdankt, was Zeit braucht, was erst ganze Geschlechter hindurch gereift sein muß, bis es dann einem glücklichen Enkel in der Wiege liegt: das Erbe guter Ahnen, der Mensch von innerem Adel ist damit gemeint. Wenn ich das Wort gentle höre, steht heute noch immer gleich Josef Steger vor mir. Als Edelmann war dieses Bauernkind zur Welt gekommen.
Er las Homer, er las Plato mit uns. Da war uns dieser Odysseus doch noch ein ganz anderer Kerl als alle Mohikaner! Nämlich: was Buben an Indianergeschichten entzückt, wir, von diesem Lehrer sachte gelenkt, fanden es tausendfach im Homer. Ganz unphilologisch war es: mit diesen herrlichen Griechen zürnen und weinen, schimpfen und jammern, randalieren und kontrahieren, schmausen und zechen, froh sein und dann wieder in Angst sein und immer dabei wissen, daß ja dies alles auf den Knien der Götter liegt, leben lernten wir da mit den Helden Homers und wirklich, wenn dann an heißen Sommertagen oft mein Blick sich leise durchs Fenster stahl, drüben zur steilen Mönchsbergwand empor, siehe, da war es die Sonne Homers, die doch auch mir noch schien! Gar aber, wie der innig Verehrte dann Plato mit uns las, das hatte den Reiz gleichsam eines tiefsten Selbstgesprächs oder als hätten wir ihn beim Gebet belauschen dürfen: sich selber trug er da vor, sein großes Herz schlug er uns auf; denn diese Welt war seine Natur, er war ein geborener platonischer Mensch. Er hat uns mit seinen Augen sehen, er hat uns in aller fließenden Vielgestalt die Gegenwart des ewig Schönen Guten Wahren erblicken gelehrt. Ich habe von ihm erst glauben gelernt, glauben an das Schöne Gute Wahre, glauben, daß das Schöne Gute Wahre wirklich vorhanden ist. Man hatte mich sonst nur immer an mich selbst gewiesen; tief in meiner eigenen Brust, hieß es, sei das Gute zu finden, aber ich hatte dort nichts davon bemerkt. Jetzt erfuhr ich, daß das Schöne Gute Wahre lange vor den Menschen schon da war, daß es auch ohne die Menschen da wäre, daß es von selber ist und daß der Mensch sich erst verwirklicht, wenn er daran teilnimmt. Ungeheuer traf mich das. Sehend ward ich. Es zwang mich in die Franziskanerkirche. Ich mußte beichten. Niemand hat es mich geheißen. Heimlich kam ich, fast verschämt. Ich wollte gar nicht. Homer und Plato zogen mich hin. Wer der Antike tief genug ins Auge schaut, den blickt auf einmal daraus unser Herr Jesus an.
Ich war ja von klein auf sozusagen katholisch erzogen worden. Meine Mutter blieb immer ihren Glauben pflichtgemäß ausübend, doch mit einer Vorliebe für »elegante« Messen, die Elf-Uhr-Messen am Sonntag. Sie hielt in allen Dingen auf Ordnung und so wird schon auch, meinte sie, beim lieben Gott doch ein gewisser Unterschied zwischen einer Statthaltereiratstochter und einer Köchin sein. Dieser Stich ins Preziöse, den ihre Frömmigkeit hatte, machte sie mir verdächtig, der schon als Bub instinktiv immer zum gemeinen Volk hielt. Mein Vater hinwieder war ein frommes Gemüt, dieser beredte Widersacher Rudigiers im Landtag ging an keinem Kreuz, an keiner Kirche vorbei, ohne demütig den Hut zu ziehen, und es gehört zu meinen stärksten Erinnerungen, wie seltsam es auf mich gewirkt hat, wenn ich von der Universität, in den Jahren meiner frechsten Freigeisterei, heim auf Ferien kam, den hochgewachsenen alten Mann jeden Abend, bevor er schlafen ging, an seinem Bette niederknien, die Hände falten und andächtig sein Abendgebet verrichten zu sehen. Er hat gern gebetet, ich weiß nur aber eigentlich nicht recht, zu wem. Schleich hat neulich gemeint, manchen Leuten, die sich sehr wünschen, an Gott zu glauben, aber es nicht können, wäre durch Änderung des Artikels geholfen: der liebe Gott ist eine zu starke Zumutung an sie, aber wenn man sagen würde: das Gott, könnten sie zustimmen, an das Gott würden sie glauben. Das ist eine sehr richtige psychologische Beobachtung: die superbia des Verstandes will nichts Persönliches über sich leiden und so müßte das höhere Wesen, das auch ihr immerhin erwünscht wäre, sächlich sein. Auf solche Versächlichung Gottes zielt seit je der Monist, dessen Vorfrucht ja der Josefiner war, und ich muß fürchten, auch mein Vater hat eigentlich schon mehr nur noch an das Gott geglaubt. Und nicht bloß er. Man war damals allgemein josefinisch angesteckt. Das ging sehr weit, es ging selbst bis tief in die Geistlichkeit hinein, besonders auch in die Katecheten. Dadurch gerade bin ich ja schon als Kind dem Glauben entfremdet worden: der Gott, den man uns im Untergymnasium anbot, war mir viel zu sächlich. Mein Gott kann mir gar nicht persönlich genug sein, ich muß sein gewaltiges Auge, seine bald helfende, bald strafende, stets lenkende Hand immer über mir, auf mir fühlen können, ich bin ein ganz unabstrakter Mensch und eher war es ein heimlicher Polytheist in mir, vor dem ich mich zu hüten hatte, so vielpersönlich drohte mir mein alllebendiges Gottesbild zuweilen zu werden.
Einen attischen Moses hat Eusebius den Plato genannt, staunend, wie rein das Christentum schon aus ihm, ja wie geradezu paulinisch oft sein Phädros spricht, und auch der heilige Augustin ist davon so betroffen gewesen, daß er es sieh nur durch die Vermutung erklären konnte, Plato müsse dem Jeremias in Ägypten begegnet sein oder hätte doch jedenfalls dort die Propheten gelesen. Augustin hat auch eifrig alle christlichen Stellen bei Plato gesammelt und von Plotin, Porphyrius und Jamblichus sagt er: Nulli nobis, quam isti, proprius accesserunt. Das war es offenbar, was auch Josef Steger so stark empfand, und in seinem geliebten Griechisch, der schönsten Sprache, die bisher auf den Lippen der Menschheit erblüht ist, die Wahrheiten unseres heiligen Glaubens den aufhorchenden Salzburger Buben zu verkünden, hat ihn beglückt. Er selber stand doch auch in der Christenlehre so fest, daß er gar nicht ahnen konnte, wie nahe für uns da die Gefahr eines verwirrenden Synkretismus lag. Denn ich muß schon sagen, daß mir damals, wenn ich in der Franziskanerkirche heiß auf den Knien lag, nicht immer ganz klar war, ob ich eigentlich zur heiligen Maria betete oder zur Pallas Athene. Doch gerade, diesem schon mehr als überbarocken Christentum hab ich es dann wieder zu danken, wenn mir fast ein Vierteljahrhundert später die Heimkehr zur Wahrheit leicht wurde. Ich weiß nicht, ob ich, als mir in der tristen Öde der Welt zu bangen begann, damals gleich den Mut zum verfemten Christentum gefunden hätte. Da schlug mir Max Burckhard, den auch in der Gottesferne fror, eines Tages vor, ob wir nicht zusammen Plato lesen wollten. Erschütternd klang mir der bloße Name schon! Und so nahmen wir einen Winter hindurch an freien Abenden zusammen das Symposion durch. Ich hatte mir damals aus Neapel eine Herme des Dionysos mitgebracht; in meinem Garten zu Sankt Veit stand sie, ganz in blutrote Rosen gehüllt. Da fragte Burckhard einst: ob wir nicht, um uns aus dem Dreck zu ziehen, dem Dionysos eine neue Sekte stiften sollten; aber die Statthalterei würde Schwierigkeiten machen. Es war ja nur ein Witz, ein schlechter Witz aus tiefer Seelennot. Noch vergingen Jahre, bis mir unter den roten Rosen hervor das Blut des Erlösers zu leuchten begann.
Zweimal in meinem Leben war es Plato, der mich das Kreuz auffinden ließ. Daß ich es jenes erstemal wieder verlor, daran ist ein schlechter Priester schuld. Jugend muß immer gleich verallgemeinern.
Wenn ich mein Leben lang kein geistiges Abenteuer mied, Gefahren dreist entgegen, ja verlangend auf sie losging und das Schicksal oft geradezu herauszufordern schien, immer bereit, mich in jeden Abgrund zu stürzen, und geheimnisvoll angezogen von allem, worin eine Drohung für mich, wovor ich innerlich gewarnt war, so geschah das in einem trotzigen, vermessenen, fast frevelnden Gefühl von Sicherheit. Daß das Böse mir fortan im Grund nichts mehr anhaben konnte, seit ich einmal das Reich des Guten Wahren Schönen erblickt, schien mir so gewiß, daß ich nicht einsah, warum ich mich nicht unbesorgt mit dem Bösen einlassen sollte, das so reizend und doch nichts als Schein war. Ich hatte ja meinen guten Stern, der ging mir nicht mehr unter. Der Stern der Erinnerung an Josef Steger trat aus allem Gewölk von Irrtum, Wahn und Unzucht, still glänzend, immer wieder hervor. Ein solches Glück ist's, wenn einmal einem jungen Menschen ein wirklicher Lehrer beschieden wird, ein Guru, wie die Inder ihn nennen.