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In dem Gefühl, arm zu sein, wenn auch aus gutem Hause, bin ich erzogen worden.
Daß wir arme Leute wären, wie hart der Vater sich um unser tägliches Brot bis in die späte Nacht hinein zu plagen hätte, daß wir sparen, sparen, sparen und jeden Kreuzer in der Hand umdrehen, die Kinder aber eilen müßten, was Tüchtiges zu lernen, um nicht länger, als es nun einmal leider Gottes unvermeidlich, den Eltern zur Last zu fallen, bekam ich täglich zu hören. Es war vielleicht gar nicht so sehr eine Mahnung an uns als ein unwillkürliches Aufseufzen der Sorge: den Eltern hat anfangs oft bang werden können. Im ersten Monat brachte dem Vater sein Notariat 8 Gulden 19 Kreuzer ein, im zweiten, als ich geboren wurde, 64 Gulden 20½ Kreuzer, im dritten 107 Gulden 73 Kreuzer; das erste Semester ergab 1486 Gulden 43½ Kreuzer. Die Zinsen des mütterlichen Vermögens betrugen im Jahre 1867, nach dem Tode der Großmutter, 710 Gulden 49 Kreuzer. Das war schmal, und erst als der Onkel Anastas, Hofrat Anastasius Ritter von Weidlich, bisher in Temesvar, über den neuen ungarischen Kurs ergrimmt, seinen Abschied nahm und 1867 zu uns zog, 100 Gulden monatlich für seine Verpflegung bezahlend, atmeten sie von der ärgsten Bedrängnis auf. Im Nachlasse meines Vaters fand ich das »Cassajournal«, das er für den Onkel führte: da stehen monatlich 10 Gulden 80 für 400 Stück Portoricos, 1 Gulden 20 dem Barbier, Weihnachten 1867 für Pelzwerk meiner Mutter 100 Gulden, der Köchin ein Kleid für 10 Gulden, dem Mädchen ein Kleid für 7 Gulden 60, Weihnachten 1870 für die Buben Hermann und Otto zu Jägeranzügen und Jägerhüten zusammen 17 Gulden 85, dem Hausarzt Dr. Födinger 8 Gulden, dem Buchhändler Fink die Jahresrechnung von 27 Gulden 35, Stoff für einen Sommeranzug 14 Gulden 50, und dem Schneider Nowak dafür 11 Gulden 50, Stoff zu zwei Winterhosen und einer Weste dazu 16 Gulden und dem Schneider Nowak dafür 7 Gulden 50, für einen neuen Winterhut 4 Gulden. Die Pension des Hofrats betrug monatlich 399 Gulden 80 Kreuzer; aber einen Teil davon hat der alte Herr immer noch jeden Monat zurückgelegt und immer gleich auf die Sparkasse gebracht. Es war ein enges Leben. Doch sagte mein Vater gern das Sprüchl auf: wer dreißig Gulden im Monat hat und gibt neunundzwanzig aus, ist ein reicher Mann, wer aber dreißigtausend hat und braucht dreißigtausendundzwei, muß betteln gehn.
Beim Buchbinder Rixner, beim Vergolder Krebs nebenan wurde reichlicher gekocht. Wir hätten aber doch weder mit ihnen, noch selbst mit dem reichen, schwerkranken, unheimlichen Gutsbesitzer über uns getauscht. Auch unsere Dienstboten, angestrengt genug für kargen Lohn, wußten, was es hieß, im Hause des Notars zu sein; sie zehrten von unserem Standesgefühl mit. Dieses in mir sehr früh ganz besonders stark entwickelte Standesgefühl war merkwürdig. Durch den bureaukratischen Hochmut der Mutter vorbereitet, für die, was irgendwie mit der Statthalterei zusammenhing, von einer besonderen Gloriole war, ja die sich durch den Stolz, einen Hofrat an unserem Tische zu haben, für alle bösen Launen des hypochondrischen, misogynen Onkels tausendfach entschädigt fand, wuchs es noch mit der Wahrnehmung des Kindes, daß alle Leute den Vater auf der Gasse grüßten, ja daß der Portier im Tor des Landhauses, neben der Schildwache, mächtig anzusehen in seinem strotzenden, fast bis an die Füße wallenden Prunkgewand, in hohem Bogen seinen Dreispitz vor dem Vater schwang, dazu feierlich mit ausgestrecktem Arme den langen Stab aufstoßend. Und von klein auf zu wissen, daß mir in der Stadt nichts geschehen konnte, auch wenn ich mich verirrt und wenn ich selbst am Ende was angestellt hätte, weil ich ja nur das Zauberwort auszusprechen hätte, daß ich der Bub vom Notar Bahr war, das gab mir von klein auf eine wunderbare Sicherheit; keines Dogen von Venedig Sproß kann sich mehr gefühlt haben. Ich hatte, den Reden Erwachsener, ohne mir's merken zu lassen, gierig lauschend, daraus ungefähr entnehmen zu können gemeint, daß in Wien der Kaiser auf dem Thron über Krieg und Frieden, und was erlaubt, was verboten war, entschied, aber, da er ja doch nicht überall in Person zugegen sein konnte, dies für Linz von den Doktoren besorgen ließ, unter denen wieder mein Vater vom größten Ansehen war, so daß mir, dem Sohne eines Mitregenten der Stadt, in welches Abenteuer ich mich auch einlassen mochte, doch im Grunde wirklich nicht viel passieren konnte. So spiegelte sich in dem Kinde der österreichische Liberalismus, nicht viel kindischer übrigens schließlich als im Buchbinder Rixner und im Vergolder Krebs, unseren Nachbarn, und in allen den bedrängten kleinen Handwerkern der Stadt, wie sie sich, einige Zeit später, gegen den unerträglichen Druck der Doktorenherrschaft erhoben, nachdem diese, da ging ich schon ins siebente Jahr, sich erkühnt hatte, dem hochwürdigsten Herrn Bischof Franz Josef Rudigier in seinem eigenen Hause vom Bürgermeister der Stadt Viktor Drouot durch den Gemeindesekretär, den sonst so gefälligen, so gemütlichen, schnaufenden Herrn Eduard Thum, dessen Frau täglich im Sommer zur Jause mit der Mama bei der Milchmariandl auf dem Freinberg saß, Gewalt anzutun und ihn, wie einen gemeinen Verbrecher, just an eben dem Tage, da er vor sechzehn Jahren zum Bischöfe geweiht worden war, mit der Polizei zum Landesgericht einliefern zu lassen.
Diese Doktorenherrschaft über die Provinz war ein Ergebnis der jungen Gemeindefreiheit. Adalbert Stifter sagt: »Wo die Bedingungen fehlen, daß etwas werde, da wird auch nichts. Gleich das Produkt haben wollen, ist Torheit.« Diese Mahnung hatte man da wieder einmal vergessen. Des genialen Stadion, der vielleicht der fruchtbarste, gewiß der kühnste Staatsmann seiner Epoche war, notwendiges, in den Verhältnissen begründetes, bald dann auch höchst ergiebiges Gemeindegesetz, das beste Stück unserer Verfassung, fiel wie vom Himmel auf ein Volk herab, das sich sehr gut auf seine Bedürfnisse verstand, gar nicht aber darauf, sie politisch oder gar juristisch auszudrücken. Formgebung gehört überhaupt nicht zu den Fähigkeiten, durch die der Deutsche hervorragt, und hier fehlte nun auch noch jede Vorbereitung dazu. Die Leute wußten ganz genau, was sie wollten. Das dann aber in eine Reihe von Verfügungen umzusetzen, ihren Willen sozusagen ins Kleingeld der Praxis umzuwechseln, vor dieser ungewohnten Aufgabe standen sie ratlos. Es erging ihnen jetzt genau so, wie's früher dem Adel ergangen war, als er versuchte, sich in Diensten der kaiserlichen Politik auszuzeichnen. Und die armen Leute halfen sich denn auch ganz ebenso, wie sich einst die hohen Herren geholfen hatten. Und so hatte dies dann auch in beiden Fällen ganz eben dieselben Folgen.
Wenn sich durch Ehrgeiz, Sinn für die Welthändel, Abenteurerlust, in ihnen mitzuspielen, einer der adeligen Herren in den diplomatischen Dienst verlocken ließ, war es fast noch jedem immer wieder geschehen, daß er bei der größten Zuversicht zu seinem Urteil, bei der klarsten Entschiedenheit seines Willens, bei der reifsten Erkenntnis seiner Mittel sich in seinem entschlossenen Gange nach dem Ziele dennoch auf einmal wunderlich irgendwie gehemmt fand, irgend etwas stimmte dann stets auf einmal nicht, er kam auf einmal nicht mehr weiter, alles stockte, bloß weil irgendeine lächerliche Kleinigkeit fehlte. Nicht als ob er im mindesten an seinen Plänen irre geworden wäre, nein: im Großen blieb er sich stets des Rechten ganz unmittelbar gewiß; nur: es gab doch dazwischen noch allerhand, es gab Akten, es gab Protokolle von einer unheimlich verzopften Umständlichkeit, lauter eigentlich kindische Sachen, die nun aber, durch Herkommen geheiligt, einmal dazu gehören, so daß es für jeden solchen adeligen Herrn, um seine staatsmännische Begabung ausüben zu können, von der höchsten Wichtigkeit wurde, sich dazu den Beistand eines in derlei Kram verläßlichen, mit diesen verschnörkelten Schreibereien vertrauten, in den Geschäften expeditiven Gehilfen zu sichern: aus dieser Ungeduld des Adels, sich mit dem Detail seiner Ämter abzugeben, entstand die Bureaukratie, von der er sich bald genug beherrschen ließ. Und ganz ebenso geriet jetzt auch der Bauer, der Bürger, den das neue Gesetz zur Selbstverwaltung berief, unter die Doktorenherrschaft, auch einfach deshalb, weil ihm zur Umschaltung seiner Erkenntnis in die Wirklichkeit das Zwischenglied, die formale Behandlung, fehlte. Diese Doktoren waren geschichtlich sozusagen Vettern jener Bureaukraten. Mit beiden kommt eine Menschenart empor, die zunächst keine Klasse hat, allmählich aber selber zur Klasse wird: zunächst entwurzelt, bald selber Wurzeln treibend. Geringer Herkunft, aus dem Volk aufschießend, daß sie bald verleugnen, ja verachten lernen, die Nähe der Großen suchend, denen sie schmeicheln und, neidisch, sich zugleich doch überlegen wissen, in ihren geschichtlichen Anfängen sich durch die damals noch seltene Kunst des Lesens und Schreibens, später durch eine mit der Ausübung dieser Kunst erwachsende Behendigkeit und Geschicklichkeit, einen versatilen Geist, der niemals in Verlegenheit gerät, empfehlend, schließlich aber gar durch ihre Kenntnis des allmählich in allen Geschäften immer wichtigeren römischen Rechtes überall unentbehrlich, steigen in den städtischen Kanzleien, an den Höfen der Fürsten diese Schreiber rasch zu Räten auf, wenn auch immer noch in einer recht zweideutigen Stellung, halb Bediente, halb Vertraute, nie vor Fußtritten ganz sicher und doch als Mitwisser aller Geheimnisse so gefürchtet als verhätschelt, eine Gefahr für den Fürsten wie für das Volk, schon eben ihres amphibischen Unwesens wegen, das sie den Fürsten mit den Augen des Volkes, das Volk wieder von oben herab ansehen und sich beiden fremd, beiden zugleich verdächtig, aber auch unersetzlich fühlen läßt, und also von vornherein geneigt, keinem zu trauen, beider zu spotten und beide zu täuschen; was ihnen um so leichter wird, als sie verstehen, aus der Rechtsgelehrsamkeit mit der Zeit sozusagen eine Geheimwissenschaft zu machen, eine Art Freimaurerei der Laienbildung. Daß diese Geheimwissenschaft im Grunde gar kein Wissen, sondern nur ein Vorrat von Kenntnissen und Behelfen, daß es keine Gelehrsamkeit, sondern nur eine Handfertigkeit im Geistigen, daß die ganze »Bildung«, deren Hüter sie sich rühmen, schon längst nur noch eine gewisse Geschmeidigkeit ist, die sie zu solchen Künstlern jenes Umwechselns von Gedanken ins Kleingeld, ins Papiergeld der Praxis macht, bleibt ihr wohlverwahrtes Geheimnis. Von der sittlichen, geistigen und menschlichen Höhe, die dieser neue Stand unter dem Luxemburger Karl IV. erreicht, wo die Räte der böhmischen Hofkanzlei Freunde des damals auf Raudnitz gefangenen Cola di Rienzo sind, mit Petrarca korrespondieren, einer von ihnen in Saaz das Gedicht vom »Ackermann aus Böhmen« ersinnt, ja in dieser böhmischen Hofkanzlei der Grund zur neuen deutschen Satzfügung, zur Sprache Goethes gelegt wird, sinkt er bald eilends herab, bis zu der typischen Gestalt im 18. Jahrhundert, die dann Kleist im »Zerbrochenen Krug« verewigt hat. Aber gerade das 18. Jahrhundert mit seinem neuen Begriff, der den Staat zum Vormund der Menschheit macht, mit seiner Vielregiererei des in alle Häferln guckenden Staates, und gar in Österreich, wo geschichtlich ja noch gar kein Staat vorhanden ist und Maria Theresia nur geschwind im Handumdrehen eine Staatsähnlichkeit improvisiert, mit einer Politik des Als Ob gewissermaßen, wo zudem der Kleinadel zerstört und als Ersatz eine bürgerliche Gentry notwendig geworden ist, wo dem Monarchen der weite leere Raum zwischen seinem Hofadel und der namenlosen Menge fast unheimlich wird, gerade das 18. Jahrhundert kann den Bureaukraten nicht entbehren, schon aus Angst vor dem unterirdisch pochenden Bürgertum, das er allein noch vielleicht zu beschwichtigen vermag. So wird es der Bureaukrat, in dessen Gestalt bei uns das Bürgertum zuerst Einlaß zu Macht, Ansehen und öffentlicher Geltung erhält. Unser österreichisches Bürgertum hat ja keine große Tradition, wie die Hansastädte, wie Regensburg, Nürnberg oder Augsburg. Der Österreicher war als Händler emporgekommen; das ließ schon im 15. Jahrhundert, gar aber dann in der Türkenzeit nach. In der Geschichte Wiens zeigt sich seit dem 16. Jahrhundert ganz deutlich ein Rückzug, Rückschlag ins Ländliche: der Städter wird wieder halb ein Weinbauer. Und wenn das Land von seinen Leuten etwas an die Stadt abgeben will, kann das fortan nur geschehen, indem der Bauer den Buben studieren läßt. Früher hat er ihn als Geistlichen untergebracht, in der aufgeklärten josefinischen Zeit lohnt sichs besser, ihn ins Jus zu stecken. So kommt jetzt in den Städten eine neue Schicht empor, die der »Studierten«, zunächst im überwachsenden Staatsdienst versorgt, später mit Vorliebe zur Advokatur stürzend, und die Doktoren werden eine Macht im Staate.
Die Doktoren stammen meistens vom Lande, vom Rande der Stadt, oder aus dem kleinen Handwerk. Oft wird der eine Bruder noch geistlich, der andere Jurist. Beide gehen in der Jugend durch dieselbe Zucht. Denn auch wer zum Juristen bestimmt wird, kommt ja zunächst zu den Schotten oder nach Kremsmünster, er wächst im Geiste des heiligen Benedikt auf. Doch schlägt er bald aus der Art: an der josefinischen Universität wird er »aufgeklärt«. Aber dann bricht eine Art Bruderzwist aus: nur Brüder hassen einander so, wie er alles Geistliche haßt. Und auch ein Schuß von Snobismus steckt in diesem Bruderhaß: die Gier, sich nur ja nichts anmerken zu lassen, daß man von Bauern stammt. Der Doktor ist darauf erpicht, den Städter zu mimen, um seine Herkunft zu verleugnen.
Bei jedem Schritte begegnen wir in der österreichischen Geschichte dem heiligen Benedikt. Alle Kultur, in jedem Sinn des Worts, im unmittelbaren und im übertragenen, verdanken wir ihm. Benediktiner haben den Wald gerodet, jagen und fischen und weiden, ackern und ernten, Hausbau wie Weinbau, beten und denken und lesen und schreiben und rechnen, Recht und Sitte, die häuslichen Tugenden und die häuslichen Künste, Trauer tragen und Feste feiern, Latein und Griechisch, malen und dichten und musizieren und theaterspielen und jede Art Geselligkeit, von der fürstlichen an Höfen bis zur bürgerlichen am Stammtisch herab, alles haben uns Benediktiner gelehrt, und solange noch in der weiten Welt irgendwo der Schatten eines letzten Österreichers umgeht, wird die linde leise Luft der benediktinischen »Diskretion« um ihn sein, wir können gar nicht anders leben. Auch der österreichische Humanist ist ja nur ein leicht verkleideter Benediktiner und selbst in unserem Barocktheater scheint unter den gewaltigen jesuitischen Zügen doch immer wieder das ernste benediktinische Lächeln mild hervor. Ja was man überall in der Fremde dem Österreicher nachrühmt, woran man ihn sogleich unter den anderen herauskennt: der Wohlklang, die Stille, das Gleichmaß, die gute Mischung seiner Gaben, der Anstand seiner Heiterkeit, sein zarter Takt auch selbst im Übermut noch, das alles ist doch nur ein letzter Abglanz unserer uralten Benediktiner Kultur, die dem Österreicher im Laufe der Jahrhunderte zur zweiten Natur geworden ist. Nur so konnten jene Doktoren, die sich in Österreich seit den sechziger Jahren überall des Kommandos über die Städte bemächtigten, es auch wagen, dem angestammten Glauben dreist abzusagen. Sie wähnten aller Kirchenzucht fortan entraten und sich getrost der Stimme der menschlichen Vernunft anvertrauen zu können, im frohen Glauben an die Güte der menschlichen Natur. So stark und unmittelbar war in ihnen nämlich das Erbe Jahrhunderte langer religiöser Erziehung lebendig, so sehr die Kirchenzucht über jeden Affekt herrschend, so sehr Ergebung ins Sittengesetz ihnen zur Gewohnheit geworden, daß dieses Erbe von Jahrhunderten sittlicher Bildung, dieses Ergebnis unserer uralten Benediktiner Kultur, diese langsam der angeborenen überzogene zweite Natur nun ganz ahnungslos mit der ersten verwechselt werden konnte. Nur in Ländern ältester katholischer Kultur hat diese Verwechslung einer durch Übungen eines Jahrtausends erarbeiteten, immer wieder von der Erbsünde bedrohten, ihr immer von neuem abgerungenen begnadeten Geisteszucht mit der menschlichen Natur geschehen und der Wahn entstehen können, der Mensch, der, wie Kant sagt, »natürlicherweise böse Mensch«, sei gut! Ein Wahn freilich, dem der französische Liberalismus, von dem unser österreichischer ja nur ein Absenker war, den ungeheuren Elan seines weltbeglückenden Optimismus verdankt. Denn war der Mensch gut, sobald man ihn nur erst sich selbst und seiner »Natur« überließ, dann gab's fortan kein Leid mehr: der Fluch, der bisher auf allem irdischen Tun zu lasten schien und überhaupt alles »Tragische«, von Juden, Griechen und Indern verkündet, war nur ein Mißverständnis gewesen! Jene Linzer Doktoren glaubten das ganz im Ernst. Aus kleinen Familien von Bauern oder Handwerkern stammend, in der Hut frommer Mütter aufgewachsen, Enge gewohnt, genügsam, in Verhältnissen, wo jeder alles weiß, was beim Nachbarn geschieht, und weiß, daß es der Nachbar auch von ihm weiß, und wo sich ja wirklich Treue und Redlichkeit noch weitaus am besten rentiert, auch als Studierte ziemlich sicher, immer ihr Auskommen zu finden, in der gut verwahrten Stadt, wo, wenn einer einmal ein Glas über den Durst trank, ihn beim ersten Zeichen eines Schwankens gleich zwei Wachmänner unterm Arm nahmen, und wenn einmal ein verdächtiges Individuum eingeführt wurde, jedes Fenster mit entsetzten Mienen gefüllt war, ohne Gelegenheit, von der menschlichen Natur mehr, als was sie herzeigt, kennenzulernen, konnten sie, bei der Begabung aller Durchschnittsmenschen, nichts zu bemerken, was ihre vorgefaßten Meinungen stören könnte, sich ihren Glauben an die Güte der menschlichen Natur, und gar wenn es ein bürgerlicher Mensch ist, ungeschoren bewahren.
Wenn auch aus der Art geschlagen, blieben alle diese Doktoren in ihrer inneren Form richtige Benediktiner, unbewußt von der alten Regel sicher geführt. Was sie für die menschliche Natur hielten, war die still fortwirkende Kraft unserer uralten österreichischen Benediktinerkultur, nur mit dem nagelneuen Vokabular der bürgerlichen Revolution versehen. Das Volk hörte mit seinen guten Ohren ganz deutlich den Ton des gemeinsamen Ethos heraus. Gerade dies machte den Liberalismus so stark: den Leuten klang aus den unverständlichen Reden von Freiheit und Fortschritt ein tief verwandter Sinn entgegen, dem sie sich getrost anvertrauen zu dürfen meinten. Irgendwie fühlten es die Doktoren auch selbst und gestanden dem Christentum willig eine gewisse Bedeutung in der Geschichte der Menschheit zu: sein Gehalt sei schließlich nichts als die natürliche Religion, nur in einer mythologischen Zurichtung für das Verständnis des noch unreifen Menschen, die nun, nachdem er die Kinderschuhe ausgetreten, entbehrlich, ja jeder künftigen Entwicklung hinderlich geworden, was die Pfaffen selber ebensogut wüßten und nur, um ihre fetten Pfründen besorgt, nicht zugeben wollten, weshalb vor allem, »eben aus Religion«, die Macht der Kirche zu brechen sei. Zu diesem Kampfe sich zu stärken, lasen die Doktoren fleißig Ludwig Büchners »Kraft und Stoff« und die »Gartenlaube«. Sonst lasen sie nicht viel. Die »Bildung«, auf die sie so pochten, war nicht sehr reich, wenn sie gleich auf festen Füßen stand, auf auch wieder benediktinischen Füßen. Was sie gelernt hatten, war nicht viel, aber sie wußten es gründlich. Sie waren so gute Lateiner, daß sie mühelos ihren Buben bei den Hausaufgaben aushelfen konnten und noch als alte Herren Horaz und Cicero gern zitierten. Vom Griechischen war ihnen grammatikalisch weniger geblieben als geistig und sittlich: ein allerdings etwas abgeblaßter, ein bißchen pedantischer und von keinem plotinischen Hauch berührter Platonismus hielt selbst jener Büchner-Lektüre noch stand. In den punischen Kriegen höchst exakt und auch weiterhin mit den Weltgeschicken bis zu Karl dem Großen ungefähr vertraut, tat ihre Geschichtskunde dann einen großen Sprung zu Maria Theresia, Kaiser Josef und der französischen Revolution: was dazwischen war, lag ihnen im Dunkel und gar alle österreichische Geschichte, ja überhaupt, daß Österreich einst groß gewesen, blieb ihnen unbekannt. Für Schiller schwärmten sie, Goethe war ein Fürstenknecht, sie hielten sich an Heine, Gutzkow, Anastasius Grün, Lenau und Otto Roquette. Noch aus ihrer Studentenzeit her war ihnen das Burgtheater unvergeßlich, keine gewaltiger ergreifende, sanfter bildende Macht des Geistes hatten sie jemals erlebt, der Goldglanz dieser Erinnerung, leise nachdunkelnd, wurde mit den Jahren nur immer noch wärmer. Und da diese braven Doktoren dabei mit ihrer redlichen Arbeit ja ganz schön verdienten, in ihrer Anspruchslosigkeit sich nach und nach ein kleines Vermögen ersparten und rings jedes ehrliche Bemühen bar belohnt sahen, blieb ihr rosenroter, himmelblauer, wolkenloser Optimismus zeitlebens ungestört. Vom Dämonischen, das Goethe für »eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht« erkennt, »so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen«, ahnten die wackeren Regenten der kleinen Stadt nichts.
Aber um dieselbe Zeit saß, nur ein paar Häuser von uns, einsam, unerkannt, das Ärgernis der Doktoren, der gewaltige Bischof, auf den man des Erasmus Wort über den heiligen Hieronymus anwenden darf: »Wo spürt man feuriger den Odem Christi, wer hat glühender Christus kennen gelehrt und wer ihn endlich im Leben mehr zum Ausdruck gebracht?« Und mit den öligen Tenören der Liedertafel »Frohsinn« schwitzte sich Anton Bruckner ab. Und in einer dunklen Winternacht schnitt sich der alte Hofrat Stifter mit dem Rasiermesser den Hals durch.
Ganz in der Nähe hätte das Kind also den »Einschlag« des Dämonischen gehabt, aber es war wohl das Thema seines Lebens, erst den schalen Optimismus seiner Epoche durchlaufen zu müssen, um desto jäher dann am eigenen Leibe die dämonischen Gewalten entdecken zu lernen.