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Unser großes Zimmer mit dem Erker, eigentlich ein Saal, der sich das nur in seiner heiteren Würde nicht anmerken ließ, war der festliche Lebensraum meiner Kindheit: hier wurde gespielt, gelernt, geschmaust, hier brieten winters Äpfel am Ofen und abends saß man um den runden Tisch, den Vater vom Burgtheater erzählen zu hören, hier lag man sommers im Fenster und ließ die Stadt vorbeispazieren. Daran aber stieß ein einfenstriges, schmales, gemeinhin fest abgesperrtes, in ein feierliches Zwielicht versunkenes geheimnisvolles Gemach mit verhüllten Möbeln. Es hieß das Sitzzimmer. Wochenlang saß da niemand. Bis plötzlich eines Tages dann immer wieder das ganze Haus in Aufregung, die Mutter in Ungeduld, das Mädchen in eilige Bewegung geriet, die Fenster geöffnet, die Möbel enthüllt wurden, und Staub gewischt, der Boden gewichst, den Kindern aber eingeschärft, sich morgen einmal um Gotteswillen eine Stunde lang anständig zu benehmen: es kam Besuch! Wurden dann die Kinder hineingerufen, um ihr »Buckerl« zu machen, so wunderten sie sich, wie steif man auf dem glänzenden Sofa saß, gerade kaum den Rand berührend; und lange noch erinnerten sie sich des süßlich-muffigen Geruchs. Und sie waren sehr froh, wenn sie wieder fortgeschickt wurden; und die Mama war auch sehr froh, wenn alles glücklich vorbei war. Meistens wurde an diesem Tage später gegessen, denn die Köchin, auch von der allgemeinen Aufregung angesteckt, war nicht fertig geworden. Der Nachmittag verging damit, die Möbel wieder einzudecken, die Vorhänge wieder zuzuziehen, bis schließlich das Sitzzimmer wieder sanft entschlief. Und abends atmete das ganze Haus erleichtert auf, den Unglückstag hinter sich zu haben.
Das Bürgertum der kleinen Stadt kannte damals keine häusliche Geselligkeit; es hielt sich nur für verpflichtet, ein paarmal im Jahr so zu tun. Die Männer trafen sich am Stammtisch im Wirtshaus oder beim Traxelmayer, in dem Kaffeehaus auf der Promenade; die Frauen im Sommer bei der Milchmariandl auf dem Freinberg, im Winter nur am Sonntag nach dem Hochamt auf dem Hauptplatz: da ging man dreimal auf und ab, darüber verging eine Stunde, denn eigentlich stand man mehr auf und ab, alle Bekannten begrüßend und sich nach dem »werten Befinden« erkundigend, immer wieder mit denselben Fragen und denselben Antworten in demselben Ernst und Scherz. Ein paar Würdenträger von der Statthalterei hatten ihre Whistpartie. Von Schöngeistern war eine »Gesellschaft der Namenlosen« gegründet worden, die bald verödete. Die Damen waren in der Leihbibliothek abonniert. Aus den Logen lorgnettierte, sonst unsichtbar, der Adel im Theater die Plebs; diese, das Parkett beherrschend, fand stets diese Damen der Aristokratie zu stark dekolletiert. Einmal im Jahre gab der Statthalter einen Ball: der Vater hatte Gelegenheit, seinen Frack auszulüften und den Kindern Zuckerwerk mitzubringen. Aufregend war Silvester: befreundete Familien mieteten da beim Krebs oder im Gasthof »Zur Kanone« das Extrazimmer, man aß gemeinsam, es wurde Tombola gespielt, und wenn es zwölf schlug, klangen die Punschgläser zusammen. Von einigen sehr reichen Familien mit erwachsenen Töchtern hieß es seit Jahren immer wieder, sie würden nächstens sogar einmal einen Hausball geben.
Meines Vaters weltfreudig mitteilsamer Natur war still vertrauliche Geselligkeit zu zweit oder zu dritt gemäß; und am liebsten im Freien. Die Winterfreuden hatte der Städter damals noch nicht entdeckt: in der kalten Zeit auch nur auf die Gasse zu gehen, schien jenen luftscheuen Ärzten schon ein unverzeihliches Wagnis, die ja jedes noch so streng verwahrte Zimmer zunächst ängstlich untersuchten: »Zieht's denn da nicht?« Dem alten Ferdinand von Saar wird nachgesagt, er hätte, beim Kaiser in Audienz, gütig nach seinen Wünschen befragt, die Bitte gestellt, ob sich denn wirklich nichts dagegen tun ließe, daß es in Wien immer überall so furchtbar zieht! Auch mein Vater, Saars Zeitgenosse, blieb von diesem Wahn nicht unberührt und so hat er sich den ganzen langen Winter in österreichisch überheizten Zimmern immer fast krank gesehnt nach der ersten Primel des Frühlings. Aber welche Seligkeit dann der Ostergang den Donauwald entlang nach Wilhering oder abwärts zum Banklmair mit den berühmten fettgebräunten »Strauben«! Und nun fortan jeder Tag immer wieder ein neues, ungeduldig erwartetes und doch, wenn's wirklich erscheint, jedesmal von neuem überraschendes Wunder eröffnend, daß man jedes Jahr wieder meint, so schön sei doch noch keins je gewesen, bis sich mählig der volle Segen der oberösterreichischen Landschaft erst auftut: wenn der Hollunder blüht; denn jedes Jahr hat man ja wieder vergessen, was man erst viele Monate später dann, wenn alles rings von Pflaumen blaut, wieder gewahrt: daß weitaus von allem am schönsten bei uns doch immer der Herbst bleibt, fast noch schöner sogar als die Hollunderzeit! Die ganze Woche war man, sobald der Frühling kam, immer schon bang ums Wetter des nächsten Sonntags, an dem es ins freundliche Bachl mit den gelb nickenden Butterblumen oder nach Sankt Magdalenas von der Berglehne grüßendem Kirchl oder durch den tiefen Wald nach Kürenberg ging, die Buben voraus, der Vater mit dem winzigen, zarten, vor lauter Herzensgüte, die jedes Wort, ob es nicht etwa verletzen könnte, noch erst im Munde dreimal überlegte, fast sprachlosen Notar Dr. Ferdinand Pröll oder jenem streitbaren, gefürchteten Dr. Franz Krause von der Finanzprokuratur hinterdrein, unablässig den ganzen Weg judizierend oder politisierend, um mitten drin immer auf einmal wieder mit einem Aufschrei des Entzückens stehen zu bleiben, sich umzudrehen und zwischen den gespreizten Beinen hindurch nach der Landschaft zu sehen: sie schworen darauf, daß dieser schwindelnde Blick allein erst den blauen Dunst der Ferne ganz erfühlen läßt. Wenn mir später oft gesagt worden ist, ich hätte meinen Beruf verfehlt, eigentlich sei schad um mich, ich wäre doch ein geborener Jurist!, so mag ich das den Rechtsfällen danken, deren Erörterung das Kind von klein auf anzuhören ja nicht gezwungen, aber leidenschaftlich gewillt war: denn es machte mir den größten Spaß, wie da Satz um Satz mit einer logischen Strenge, die mich entzückte, jetzt ein Beweis aufgebaut und gleich darauf mit einer ganz ebenso herrlichen Logik derselbe Beweis wieder abgeführt wurde. Wunderbar war es, wie sich alles beweisen, wunderbar, wie sich das eben noch unwiderleglich Bewiesene gleich darauf aber auch ebenso unwiderleglich wieder widerlegen ließ: entscheidend war offenbar immer schließlich nur, auf welcher Seite der bessere Jurist stand, der schlagfertigste, dem immer im richtigen Augenblick noch ein Paragraph einfiel, an den bisher noch gar nicht gedacht worden war. Ich fand bald heraus, daß es sich, um Recht zu behalten, keineswegs darum handelte, im Recht zu sein. Sonderbar, eigentlich! Es wurden Entscheidungen erzählt, empörend für jedes Rechtsgefühl, aber, wie man im selben Atemzug versicherte, juristisch unanfechtbar. Sehr sonderbar! Doch war es denn nicht offenbar in der Welt überhaupt so? In den Turnieren, von denen ich in Geschichtsbüchern las, wer siegte denn da, wen kränzte lächelnd die schönste der Frauen? Den Edleren? Nein, den, der besser focht! Und was plagte sich doch mein armer kleiner Bruder rechtschaffen beim Lernen vergeblich ab, während ich so sicher aufzutreten und jeden meiner Lehrer so geschickt zu behandeln verstand, daß sie es, auch wenn ich einmal gar nichts wußte, sondern nur so schwabbelte, nicht merkten. So war das also: geschickt und niemals verlegen zu sein, dreister geschickt und gescheit als die anderen, darauf allein kam es im Leben offenbar an! Und so, gierig lauschend, wie hinter mir erzählt wurde, was irgendein Rechtsfall im Instanzenweg wieder an Unfällen alles erlebt hatte, ging ich still voran und bemühte mich, immer schon im voraus mir zu sagen, was sich dafür und was sich dagegen und was sich dann aber erst auch noch wieder gegen das Dagegen sagen ließe. Ja, dieses Geistesspiel machte mir ein solches Vergnügen und ich fühlte mich darin so stark, daß ich es wagte, mit argloser Miene zuweilen den Alten frech ins Gespräch zu fahren, die Fragen meiner Wißbegier dabei so glücklich stellend, daß gar der herrische Finanzrat vor Begeisterung für das Wunderkind seinen Hustenkrampf bekam, was bei ihm immer das höchste Zeichen von Ergriffenheit war. Mein unschuldiger Vater aber in seinem Stolz ahnte nicht, welcher gräßliche Sophist in dem gewitzten Buben erwuchs! Ich gewöhnte mir an, für jeden Grund automatisch gleich immer auch den Gegengrund bereit zu haben, und wenn ich eben noch als beredter Anwalt irgendeiner Meinung geglänzt hatte, mir gleich darauf zu beweisen, daß ich als ihr Gegner in der Aufdeckung ihrer Schwächen und zur Widerlegung meiner eben noch triumphierenden Beweise nicht weniger beherzt war. Man fand den kleinen Spiegelfechter offenbar so drollig, daß man darüber ganz vergaß, ihn daran zu mahnen, es könnte doch vielleicht auch etwas über allen Beweisen Wahres geben, eine wirkliche Wahrheit.
Aber hatten sie sich in Akten und Prozessen ausgeschwelgt, dann fingen die Herren zu politisieren an. Der Bub entnahm daraus, daß er in einem unglücklichen, höchst verwahrlosten, hinter dem übrigen Europa weit zurückgebliebenen Lande lebte, jedoch dafür in einer herrlichen Zeit des Fortschritts und der Aufklärung. Daran, daß jetzt eine Morgenröte der Menschheit war, schien in der Tat kein Zweifel möglich, auch in der Schule bekam er das von allen Lehrern zu hören, auch in der »Gartenlaube« stand es. Sie war ja so stark, daß sich ihr Licht selbst in diesem elenden Österreich nicht mehr ganz ersticken ließ. Unter den Schlägen von 1850 von 1866 war nun die Macht der Finsternis auch in Österreich gebrochen. Denn eigentlich gar nicht die Preußen, die man haßte, hatten uns besiegt, sondern der Schulmeister war es, eben der deutsche Schulmeister, vor dem ja jetzt auch der klerikale Spuk des napoleonischen Frankreich zerstoben war. In solchen großen Vereinfachungen lernte der Knabe, wie die Gegenwart, so dann auch die Vergangenheit des Vaterlandes kennen: da waren zuerst die freundlichen Babenberger, es kam der tapfere Rudolf von Habsburg, der den barbarischen Ottokar schlug, dann gab es noch Maximilian, den letzten Ritter, und dann aber erst wieder den edlen Ritter Prinz Eugen, es gab Maria Theresia, die große Kaiserin, und es gab noch den unvergeßlichen Kaiser Josef, in dessen Bahnen jetzt wieder einzulenken sich Franz Josef, in seiner Jugend übel beraten, nun aber durch Solferino und Königgrätz belehrt, nach den Weisungen des Bürgerministeriums bemüht hatte, dessen tiefe politische Weisheit, von der allein noch Rettung für Österreich erhofft werden konnte, des guten Kaisers Entschließungen auch künftig leiten möge, weshalb zunächst jetzt das wichtigste war, es an einem gewissen Nachdruck der öffentlichen Meinung nicht fehlen zu lassen. Im übrigen mochte man ruhig der still waltenden unaufhaltsamen Zeit vertrauen: dieses Jahrhundert der freien Wissenschaft, der wachsenden Bildung, der staunenswerten Erfindungen, der technischen Wunder, der fortschreitenden Beherrschung der Natur durch den Menschengeist war so gewaltig groß, daß alle die drohenden Ränke der Finsternis nun den frohen Gang zur Freiheit nicht mehr hemmen konnten. Und heimlich, wenn er von allen diesen Herrlichkeiten der gepriesenen Zeit vernahm, dachte der Bub oft, welches Glück er eigentlich doch hatte, gerade in einem Augenblick geboren zu sein, wo zum ersten Male die Menschheit, nachdem sie so viele Jahrtausende lang in Wahn, Aberglauben und Unwissenheit geschmachtet, jetzt kühn ihr Haupt erhob und durch die Kraft des freien Gedankens den Weg ins Paradies auf Erden fand, das vielleicht, bis er eben die Matura hinter sich hätte, gerade eröffnet werden wird. So gerade im richtigen Moment zur Welt gekommen zu sein, das war schon ein sehr schönes Gefühl. Und er freute sich auch, rechtzeitig davon erfahren zu haben: so war er im voraus schon aufmerksam darauf und konnte sich bereit halten für den großen Augenblick, immer schon bereit zum Einzug ins irdische Paradies, wenn einst die Posaunen der Freiheit blasen!
Doch es kamen auch wieder Stunden, wo der aufhorchende Knabe kleinlaut wurde: kleinlaut nicht bloß, sondern tief argwöhnisch gegen sich selbst. Den Gesprächen der Alten entnahm er nämlich immer wieder die Versicherung, der Mensch sei gut, von Natur aus gut! Und er sei nur bisher in Unkenntnis seiner angeborenen Güte gehalten und mit Gewalt durch Bedrückung verhindert worden, gut zu sein und von seiner Natur den rechten Gebrauch zu machen. Der ganze Liberalismus beruht ja auf dieser Fiktion einer Identität der menschlichen Natur mit dem Sittengesetz: ist der Mensch erst völlig befreit und den eigenen Trieben seiner vernünftigen Natur überlassen, so zeigt sich, daß er gar nicht anders handeln kann als gut; nur geknechtet hat der Mensch sich mißverstehen und seine Natur gewaltsam verleugnen gelernt, die, sobald er nur erst die Ketten sprengt, wieder in ihrer unverhohlenen Güte hervorbrechen wird. Der Bub, der das immer wieder zu hören bekam, hatte gar keinen Grund, daran zu zweifeln; er nahm es gläubig an. Der Mensch war also von selber gut. Aber dann war offenbar mit ihm, mit dem Buben, irgend was nicht in Ordnung: denn er konnte sich nicht verhehlen, daß er von selber gar nicht gut war, keineswegs! Er gab sich manchmal Mühe, gut zu sein, weil er einsah, daß man gut sein soll. Aber es war ihm durchaus kein Vergnügen, gut zu sein; im Gegenteil! Er hätte, seiner Natur gehorchend, alles unterlassen, was er sollte, und viel lieber alles getan, was er nicht sollte. Gerade was er nicht sollte, hatte den größten Reiz für ihn, und alles, was er sollte, war ihm höchst langweilig: »von selber« war er offenbar also gar nicht gut, er wäre »von selber« lieber ein Bösewicht gewesen, irgend etwas stimmte da nicht! Der Papa freilich machte sich es leicht! Mein Vater hatte nämlich, wenn er guter Laune war, die Gewohnheit, meiner Mutter, wenn sie sich wieder über eine meiner Schreckenstaten beklagte, gern zu sagen: »Nein, das glaub ich gar nicht, das muß ein Irrtum sein, meinen Hermann kenn ich zu gut, der tut so was nicht, das muß ein anderer gewesen sein, es gibt offenbar heimlich noch einen zweiten Hermann im Haus, der stellt zuweilen so grausliche Sachen an und da glaubt man dann, daß es unser Hermann gewesen ist, aber den kenn ich besser, es ist ausgeschlossen, daß mein Hermann so was tut!« Mit solcher Berufung an mein besseres Ich glaubte der Vater mich durch Beschämung zu bekehren. Es hat auch gewirkt: ich schämte mich und nahm mir vor, derlei nicht wieder zu tun. Und dem Buben war es ja sehr recht, daß der Vater so viel von ihm hielt oder doch vorgab, so viel von ihm zu halten. Immerhin aber wußte der Bub, daß ja jener zweite, der nicht anerkannte, der falsche Hermann von dem Liebling des Vaters unzertrennlich war: daß er selber aus beiden bestand. Und er wußte, daß doch der Vater das auch ganz gut wußte! Dieser zweite Hermann war ein Vorwurf, ich oder jedenfalls ein Teil von mir sei zuweilen so, daß mein Vater den bloßen Gedanken schon, einen solchen Sohn zu haben, von sich wies. Er hatte doch aber einen solchen unmöglichen Sohn, ich war nun doch einmal so!? Freilich, ich wußte, daß es bloß ein Scherz war. Doch in diesem Scherz stak etwas, das mich empörte; mir sollte damit etwas insinuiert werden, wogegen ich mich innerlich heftig wehrte, nämlich daß dieser zweite Hermann irgendwie von mir abwich, eigentlich nicht zu mir gehörte, sondern mir fremd war, daß es nicht ganz bei Besinnung, daß es gewissermaßen nur aus Versehen geschah, wenn ich schlimm war. Das gab mein Vater vor, ich aber konnte das im stillen nicht zugeben, denn ich fühlte zu deutlich, daß, wenn ich schon durchaus zwischen den beiden hätte wählen müssen, mir der verfemte viel näher stand, daß er eigentlich der echte, daß ich im Grunde von dem, den der Vater verleugnete, viel mehr war als von dem, den er seinen Hermann nannte! Wußte das der Vater nicht? Wollte der Vater das nicht wissen? Irgendwie, wenn auch dumpf und ratlos, empfand der Bub, daß es besser für ihn gewesen wäre, wenn man ihm gesagt hätte: Dies sollst du, natürlich wird es dir schwer, denn eben, was er soll, wird dem Menschen immer schwer und gerade darin, daß er sich dazu wider Willen erst überwinden lernen muß, liegt der Sinn der Pflicht und, wenn du es lernst, das sittliche Verdienst; jenes aber hinwieder darfst du nicht, natürlich hast du darum gerade die größte Lust dazu, denn eben, was er nicht darf, lockt den Menschen immer an, aber diese Lust zum Bösen durch tapferen Widerstand bändigen und dich begütigen zu lernen, dazu bist du da, das ist recht eigentlich das Thema deines Lebens, in dieses große Spiel um Leben und Tod setze du deine ganze Kraft ein! Aber so konnte freilich mein lieber Vater nicht sprechen, bei seinem unerschütterlichen Vertrauen zum Menschen, bei seinem rührenden Glauben an die Güte der menschlichen Natur, der arglose Mann, der, wieviel Niederträchtiges er auch von Menschen doch selbst erlebt hat, immer nur ein »Mißverständnis«, einen »Irrtum« darin sah, der bis an sein Ende niemals daran irre ward, der Tag sei nicht mehr fern, wo durch Ausbildung des Verstandes, durch Erkenntnis seines wahren Vorteils, durch Übung des sittlichen Willens, durch das frohe Gefühl von Freiheit und Sicherheit, durch die Pflege von Wissenschaft und Kunst es endlich doch so weit sein wird, daß kein Mensch mehr den unglücklichen Einfall hat, bös zu sein.
Warum aber hat sich der Bub diesem so gütigen Vater nicht anvertraut? Warum sprach er sich darüber nicht mit ihm aus? Vielleicht hielt mich davon damals schon ein merkwürdiges Gefühl ab, das mit den Jahren mein ganzes Verhältnis zum Vater durchwirkt hat: das Gefühl, ihn schonen zu müssen. Ich wurde von klein auf gewahr, daß die Mutter, die zuweilen in ihrer jähen Art sehr rücksichtslos sein konnte, mitten in einer heftigen Rede plötzlich abbrach, mit einem Blick ärgerlichen Mitleids, einem mütterlichen Blick auf ihren Mann, auf dieses Kind, das einen rasend machen konnte in seiner himmlischen Arglosigkeit, um die doch aber schad, aus der ihn aufzuwecken wirklich ein Verbrechen gewesen wäre. Dazu kam noch, daß meinem Vater selber, wie zum Selbstschutz seiner rührenden Vertrauensseligkeit, die Begabung verliehen war, rings um sich herum, alles was ihn in seinem frohen Glauben an die Menschheit, in seinem heiteren Optimismus irgendwie hätte stören können, einfach nicht zu bemerken; wenn es einmal gar zu arg war, nahm er verwundert die Augengläser ab, um den Hauch abzuwischen, der offenbar allein schuld war, daß er so trüb sah, und wenn er dann die Augengläser wieder aufsetzte, war wirklich die Welt schon wieder hell. Ja, diese Begabung, alles von der guten Seite zu nehmen, war so stark, daß sie sich auch auf seine Mitmenschen übertrug: wer immer in seinen Lichtkreis trat, wurde still und mild; es stand nicht dafür, einem Menschen bös zu sein, der es gar nicht bemerkt hätte, man hatte nichts davon. Dieses unwillkürliche Verstummen vor meinem Vater war im ganzen Hause zu spüren, selbst die Dienstboten wurden in seiner Gegenwart anders, niemand wollte seine gute Meinung enttäuschen. So nahm auch ich von klein auf in meinem Betragen gegen ihn bald etwas Gönnerhaftes an. Er tat mir eigentlich leid, daß sein Bub so ganz aus der Art geschlagen war, und ich bemühte mich, ihn davon so wenig als möglich merken zu lassen: ich lernte mich beherrschen, lernte mich verwahren. Ich war sehr lieb mit ihm, aber, aus Schonung, nicht ganz aufrichtig: ich spielte vor ihm den Buben, den ich ihm gewünscht, den er verdient hätte. So bin ich ein sehr einsames Kind geworden, von einer ganz tief liegenden, undurchdringlichen Einsamkeit, die nach vielen Jahren erst erlöst oder doch gelockert worden ist, erst in meiner zweiten Ehe. Meine Mutter konnte mir auch nicht helfen: sie litt ja selber ebenso mit. Wir gewöhnten uns, am heitersten zu sein, wenn wir ganz traurig waren. Da wurzeln meine Lustspiele, denn das ist ja der Sinn der Komödie: den Menschen vorzuschwindeln, daß man über das Leben lachen kann.
Ich hatte damals keinen Menschen, mit dem ich hätte reden können. Ja, ich meinte zu bemerken, daß die Erwachsenen alle, wenn sie sich mit Kindern einließen, offenbar, wie sich ja schon durch das Gesichterschneiden, das Augenverdrehen, das Wonnefisteln, das Wortezerkleinern, das ganze Gedalk und Getändel und Gewäsch mit Kindern doch ihr schlechtes Gewissen verriet, logen. Es gab irgendein Geheimnis der Erwachsenen, das den Kindern um jeden Preis verborgen bleiben sollte, das glaubte der Knabe ganz deutlich zu fühlen. Sie sahen sich dann auch zuweilen so merkwürdig an und lachten dumm. Es gab etwas, was die Kinder noch nicht wissen durften. Die Wahrheit, die richtige Wahrheit sollten die Kinder nicht wissen. Was man sie wissen ließ, war nicht die Wahrheit, sondern es sollte sie nur beschäftigen, damit sie nicht auf die Wahrheit kämen. Die ganze Lernerei hatte vielleicht nur diesen Zweck. Es wurde den Kindern zur Ablenkung etwas vorgemacht, was vielleicht ganz unschädlich, vielleicht sogar brauchbar, aber nicht die Wahrheit war, auf die es eigentlich ankam. Hinter der Lernerei lag noch etwas anderes. Sie war nur vorgeschoben und dahinter lag erst die Wahrheit. Den Lehrern war es doch anzusehen, daß sie sich über uns nur lustig machten. Man durfte sich es aber nicht merken lassen, daß man es merkte, sonst hieß es gleich, man sei vorlaut. Zuweilen aber verdroß es mich leise doch wieder, so den Dummen zu machen; fast hieß ich da lieber noch vorlaut.
Eins war mir klar: dies alles, was uns Kindern vorgesagt wurde, gab keinen Sinn, so konnte das Leben unmöglich sein, das ließ ich mir nicht einreden! Der Unterricht, bei dem man doch immer nur irgend was Eingelerntes herzuleiern hatte, sollte bloß unsere Aufmerksamkeit ablenken: er war ein Spiel, um uns den Ernst der Wahrheit zu verheimlichen. Es kam mir vor, daß das Gesicht der Erwachsenen, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, ganz anders war: traurig und so furchtbar müd; aber mit den Kindern fingen sie dann gleich wieder freundlich zu grinsen an. Und sie schienen dabei noch fast gerührt, sie meinten es uns offenbar gut, wenn sie logen. Mich aber empörte das, ich wollte nicht länger von der Wahrheit verschont bleiben, ich fühlte mich stark genug für sie; ich war doch nicht so dumm wie die anderen Buben, das alles beim Buchstaben zu nehmen. Und so beschloß ich, das arglose, willige, heitere Kind zu spielen, um, das sorglose Vertrauen der Erwachsenen täuschend, auf die Wahrheit zu kommen. Ich hatte längst bemerkt, daß jeder von ihnen, wenn man seinen Eigenheiten und Marotten zu huldigen und ihm nach dem Munde zu reden verstand, sogleich gewonnen war und sich gehen ließ; da würde mir schon früher oder später einmal einer das so strenge vor den Kindern gehütete Geheimnis verraten. So gewann ich Übung in der Kunst, auf die Marotten der Erwachsenen einzugehen, und darin bestand hauptsächlich meine von allen Lehrern gerühmte Begabung. Ich schien ein zutrauliches, frohes, lenksames Kind und war voll Argwohn, verhalten und tief einsam. In jener Zeit ist es ein Grundzug meines Wesens geworden, mir bei großer Mitteilsamkeit von mir nichts merken zu lassen.