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III

»Denn wißt, es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhause … Wenn der Mensch viele solche Erinnerungen aus der Jugend hat, ist er fürs ganze Leben gerettet.« Dieser Worte Dostojewskis bin ich ein leibhafter Beweis: vor dem mir zeitlebens oft genug drohenden Untergang hat mich in den gefährlichsten Augenblicken immer wieder Erinnerung ans Elternhaus bewahrt. Wenn sie mich, noch so leise, mahnend ergriff, gleich war ich wieder geborgen.

Sobald ich erschienen war, gaben die Eltern ihr eigenes Leben auf: es hatte für sie fortan nur noch den einen Sinn, meinem zu dienen. Dies war ihnen selbstverständlich, darin stimmten Vater und Mutter überein. Wie sie denn eigentlich in allen Dingen, ohne sich erst verständigen oder auch nur einander erst fragen zu müssen, übereinstimmten, nur in den Grundzügen ihres Wesens nicht: ich habe niemals wieder zwei so durchaus an Geist und Gemüt einander widersprechende, schon der ganzen inneren Anlage nach unverträgliche, grundverschiedene Menschen in solcher ungetrübter Eintracht gesehen wie meinen lieben, gütigen, frauenhaft milden Vater und meine männlich starke, männlich stolze, männlich starre Mutter. Wenn der Notar Dr. Alois Bahr, bald auch Gemeinderat, Landtagsabgeordneter, ja Landesausschuß- und Landesschulrat gar, Turner, Festredner, Gelegenheitsdichter, Führer der Liberalen, ein hochgewachsener bärtiger schöner Mann, von jedermann gegrüßt, allgemein beliebt, ja verehrt, erhobenen Hauptes, zierlichen Gangs, freundlich selbstbewußt aufrecht, mit der fast um einen Kopf kleineren, rundlichen, mühsam Schritt haltenden und wie man bei uns zu sagen pflegt: zeppelnden, immer schon leise gebeugten, in seinem Arm hängenden, zärtlich stolz emporblickenden unscheinbaren Frau durch die Stadt schritt, hätte man ihnen freilich nicht angesehen, daß dies alles aber eigentlich umgekehrt war. Doch Bürger, gar Kleinstädter, haben gute Nasen: sie vertrauten dem Vater gern, sie witterten, daß er ihnen im Grunde doch innerlich irgendwie verwandt war, während ihnen meine Mutter immer ganz fremd blieb, verdächtig, ja fast unheimlich, als wenn es mit ihr »nicht ganz richtig« wäre; sie hat es ihnen still bei sich mit Haß und Hohn ehrlich vergolten.

Mein Vater war in seiner Art ein vollendeter Mensch, in der mittleren Art des gebildeten Bürgertums; meine Mutter war ein mißlungenes oder doch irgendwie gehemmtes, verkümmertes, irgend einmal stecken gebliebenes Exemplar der höchsten Menschenart: ein Genie, von der bureaukratischen Umgebung ihrer Jugend plattgedrückt. Er, von einer inneren Freiheit, Anmut und Würde, wie sie mir kein zweites Mal an einem Spießbürger erschienen, immer von vornherein geneigt, lieber sich selber Unrecht zu geben als anderen, immer erst ganz zuletzt, wenn überhaupt, an sich denkend, ein wohlwollend geborener Mann, der sein ganzes Leben immer nur Opfer gebracht hat und höchst erstaunt, ja beschämt gewesen wäre, wenn ihm jemand dafür gedankt hätte, was sich übrigens auch niemand einfallen ließ, heiter, für alles empfänglich, selig, wenn er nur an schönen Sommerabenden, abgehetzt von der Hast der Tagesarbeit, geschwind noch auf den Freinberg rennen konnte, um vor dem Jesuitenkloster dort bei Sonnenuntergang die fernen Berge verblassen zu sehen, dankbar für alles, für ein Gedicht Platens oder Geibels wie für jeden harmlosen Scherz oder wenn man ihm auch nur an langen Winterabenden von dem alten Burgtheater, seiner schönsten Erinnerung, erzählen zuhörte. Kränkungen nicht bemerkend, Unrecht gern verzeihend, weil er es sich immer als Mißverständnis auslegte, unerschütterlich in seinem Glauben an eine dem Menschenherzen angeborene Güte, die nur zuweilen irrt, weil es ihr, um sich selber recht zu verstehen, bisher noch an der rechten Ausbildung und Einübung des Verstandes gefehlt hätte, voll innigen Vertrauens auf die lenkende Macht über den Sternen und daß ihre große, gütig gebietende, beglückende Stimme zu jedem von uns aus seinem Gewissen spricht, und so des Rechten immer still bei sich ganz unmittelbar gewiß, immer im Grunde heiter beruhigt, freudig arbeitsam, unverzagt auch in Leiden, demütig auch in Freuden, immer dankbar, jeden Tag von neuem dankbar und darum, so wenig ihm, dem sein Leben lang ans Rad der Arbeit geflochtenen, das Schicksal eigentlich jemals Anlaß dazu gab, einer der glücklichsten Menschen, die mir je begegnet sind. Aber an seiner Seite nun sie, jahrelang vergebens umworben, ihn bald kokett anlockend, bald höhnisch abstoßend, endlich doch heimgeführt, errungen, nie ganz bezwungen, seiner überlegenen Bildung spottend im Bewußtsein ihrer inneren Übermacht, ihres gewaltigen Verstandes, ihres durchdringenden Blicks für menschliche. Schwächen, dabei nun aber auch noch eine so ganz aus Scham gewobene Frau, daß ihr die bloße Nähe von Menschen körperlich widerwärtig, ja die Berührung einer Hand schon unerträglich war, unerträglich aber gar ihr eigenes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, ihr eigener insgeheim so heiß empfundener Wunsch, einmal wen lieb zu haben, ihre Gier, sich hinzugeben, die sie, als wäre sie dadurch befleckt, ja geschändet, mit der gegen sich selbst wie gegen andere gleich unerbittlichen Entschlossenheit ihres ganz stillen, unter allerhand Ausgelassenheit, Spott und Übermut maskierten Willens niederrang, kleine Brünhilde der schlesischen Statthalterei, lebenslang unerlöst geblieben, ja durch ihres geliebten Gatten ahnungslose, still verklärte, gütige Heiterkeit insgeheim oft fast bis zur Raserei gereizt. Ich vermute, daß ich der einzige Mensch bin, der jemals ahnte, was diese von tragischer Liebesleidenschaft und einer dämonischen Liebesohnmacht gepeinigte Frau, die sich in einemfort über die ganze Welt lustig machte, deren entsetzliche Herzensnot sich in einem unauslöschlichen Feuerwerk alles verspottender Neckereien entlud, an ihrem Unvermögen, zärtlich zu sein, gelitten haben muß. Ich ahnte das, weil ich's von ihr erbte. Sie wußte, daß ich's ahnte. Darum hat sie keins ihrer Kinder so sehnsüchtig gemieden, keins inniger mißhandelt als mich. Wir haben einander mit erfinderischem Hasse geliebt und hätten uns eher die Zunge durchbissen, als uns ein gutes Wort zu geben; es war aber auch wirklich nicht nötig, wir blieben so verwachsen, als wäre sie nie ganz von mir entbunden worden. Auch hielt uns noch ein unausgesprochenes Geheimnis zusammen: wir beide ganz allein wußten von unserer Art, wenn uns zum Weinen war, einen schlechten Witz zu machen, über den alle lachen mußten. Kindern mit lieb kuschelnden Mamas gönn ich's, doch ich beneide sie nicht. Ich war zu sehr der Sohn meiner Mutter, um mich herzen zu lassen. Und das Geschenk der tiefen inneren Einsamkeit, das mich bis auf den heutigen Tag vor den Menschen verwahrt hält, will ich ihr nie vergessen. Ein einziges Wesen fand ich auf meinem Wege, das mich aufschloß; und da hat es sich verlohnt. Mit den anderen aber will ich mir hoffentlich auch weiter meine Späße machen, noch eine Zeitlang.

Daß ich unter der Härte meiner Mutter, die das ungestillte Verlangen nach einer überwältigenden Empfindung in grimmiger Ironie verbarg, daß ich als Kind da nicht zusammenbrach, verdank ich meinem Vater. Er war ein so rührender Mensch, daß man in seiner lieben Nähe gleich immer von neuem Zutrauen zum Leben gewann. Im bloßen Blick seiner guten Augen, die, wie kurzsichtige gern, etwas hilflos Suchendes, Bittendes hatten, lag so viel beruhigende Kraft, daß, wenn er dann noch, die Worte sorgfältig wägend und messend, in einem linzerisch gemilderten Hochdeutsch mir ins Gewissen zu reden begann, vor dem Wohlgefühl, das aus seinem klaren, festen, lichten Wesen floß, gleich jeder Schmerz entwich, jeder Trost zerbrach. Ich frage mich zuweilen, was, wenn ich, ohne des Vaters alles besänftigende, alles ebnende Güte, damals unter dem unerbittlich fordernden, sich nirgends auf ein Halbieren einlassenden Sinn der in allem aufs volle Maß drängenden Mutter niedergebrochen wäre, mich aber dann dennoch vielleicht durch die Kraft meiner im Grunde doch stichhältigen Natur allmählich wieder aufgebracht und emporgehoben hätte, was dann wohl aus mir geworden wäre. Vielleicht mehr. Vielleicht, da mir ja von der Mutter Seite doch nur der Weg ins Tragische blieb, etwas Strindbergisches. Meine Kindheit war den um die Mutter lauernden Dämonen zuweilen so nahe, daß ich bei der bloßen Erinnerung daran noch einen Hauch ihrer fliegenden Hitze spüre. Mein Vater ahnte sie nicht, war aber in seiner bezaubernd liebenswürdigen Schwäche, ganz unbewußt, so stark, daß ihm in guten Stunden immer wieder sie zu bannen gelang. In guten Stunden konnte meine Mutter unter den besänftigenden Strahlen der väterlichen Heiterkeit ihre zynische Menschenverachtung, ihren wilden Ekel, ihr ergrimmtes Hohnlachen über die Welt zu so harmloser Verulkung unserer lieben Mitbürger mildern, daß es, wenn wir abends um den runden Tisch saßen und sie, ebenso begabt, jedermanns Eigenheiten zu gewahren wie sie dann gleich auch mit leiser Übertreibung mimisch darzustellen, die Reihe der guten Freunde vor uns aufmarschieren und mit ihren sämtlichen Wunderlichkeiten in Ton, Blick oder Gang parodiert paradieren ließ, das amüsanteste Haustheater gab. Sie ruhte schon in ihrem stillen Salzburger Grab, als eine ihrer Jugendfreundinnen einmal irgendwo eins meiner Lustspiele sah: »Mir war's«, erzählte die alte Dame, »als hätt ich die Minna Weidlich reden gehört!« Der Kunst des Dialogs, die man an mir gelegentlich rühmt, wurde nachgesagt, sie stamme direkt von Bauernfeld ab. Ich habe sie von den Lippen meiner Mutter, wie ich auch die Kunst, im Handumdrehen, im Wortumdrehen allen schweren Erdenernst ausäffend ins Komische zu ziehen, von ihr als Knirps schon üben lernte. Wie oft, wenn alles im Hause nur auf den Zehenspitzen schlich, während sie den ganzen Tag, den quälenden Kopf in ein nasses Tuch gepreßt, stöhnend in Schmerzen rang, sprang sie dann unversehens auf ein Stichwort für ihren immer lauernden Spott empor, um uns geschwind irgendeinen Würdenträger der Stadt in all seiner Linzer Feierlichkeit überwältigend vorzumimen, mit einer verschmitzten Anmut, einer grandiosen Frechheit der Übertreibung, die, zunächst anscheinend ganz arglos, nur eben ein bißchen medisant, zuweilen geradezu bis ins Nihilistische wuchs, in einen nichts mehr verschonenden, alles zersetzenden Hohn, vor dem jeder Lebensernst barst, ja jedes Menschenleid selbst ins Lächerliche zerging: man freute sich dann im Hause, daß es der gnädigen Frau schon besser ging, sie war schon wieder ganz vergnügt. Die liebe Meeresstille meines im Immergrün seiner treuen Güte beruhigten Vaters hat der armen Frau wohl auch kaum etwas anderes übrig gelassen, als lachend zu verzweifeln. Ich aber, der nun schon gleich unter jener erwärmenden, aber freilich dabei doch auch entkräftenden Güte des Vaters aufwuchs, bin von Anfang an selber durch sie schon allmählich so geschwächt und aufs Bürgerliche reduziert worden, daß nur ein sehr feines Ohr auch meinem Lachen noch zuweilen die Verzweiflung anhören mag; das deutsche Publikum hat Gott sei Dank nie was davon bemerkt. Wenn ich nach einigem Schwanken allmählich vielleicht doch ein immerhin leidlich anständiger Mitbürger, ein beinahe nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft, ja »mit Nachsicht der Taxen« gelegentlich fast etwas wie eine Respektsperson, Rückfälle vorbehalten, geworden zu sein fürchten muß, dies wäre dann allein meines Vaters Verdienst: das bißchen Tüchtigkeit, Geradheit und Zuverlässigkeit, den Sinn für Maß, Ordnung und Pflicht, der sich zu Zeiten doch immer wieder in mir regt, und auch meine beste Tugend: mir lieber noch weniger zuzutrauen, als ich kann, um nur ja nicht übers Ziel meiner Kraft zu schießen, hab ich von ihm. Aber daß ich in verschwiegenen, gesegnet dunklen Stunden doch immer wieder Fäden, Fühler ins Geheimnis, in den Abgrund, ins alles gebärende Chaos strecken darf, daß ich doch auch das Schaudern kenne, der Menschheit bestes Teil, das Schaudern vor mir selbst, das Schaudern vor uneingestanden Gräßlichem in der eigenen Brust, und daß ich so, selten genug, in den Tiefen meiner Einsamkeit mich demütig den Großen der Menschheit, den großen Denkenden, den großen Schaffenden, den großen Leidenden schmerzerkoren fast wie Brüdern nicht gesellen, aber in Ehrfurcht von weitem nähern oder doch unterm Eiseshauch ihrer Schönheit erbeben darf, das hab ich von meiner Mutter, die ihr ganzes Leben damit verbrachte, den unseligen todestraurigen angeschossenen Adler, der sie war, in einer amüsanten kleinen Notarin zu verstecken. Ich sehe sie noch immer vor mir auf ihrem Totenbette, wie sie da so friedlich lag, förmlich aufatmend im Tode, vom Druck des Lebens befreit, den sonst so harten, klein verkniffenen Mund erlöst, ja wie zu einem dankbaren Lächeln verklärt, endlich sich zurückgegeben; ich hatte sie niemals so glücklich gesehen: so froh lag sie da, fast einer aus böser Verbannung stolz heimkehrenden Königin gleich!

Wenn meine Mutter in der Maske der kleinen Spötterin ganz Verstand, ganz Scham und Stolz, ganz dämonischer Wille war, so herrschten in meinem Vater hellere Gaben vor: ein angeborenes Vertrauen zum Leben, die größte Dankbarkeit, eine fast kindliche Zuversicht und über allem der Wunsch, recht zu tun, gut zu sein und jedem eine Freude zu machen. Arm aufgewachsen, Bettelstudent, Hauslehrer in adeligen Familien, vergaß der Enkel des schlesischen Leinewebers nie, daß er von unten kam, aus dem Volke. Das war sein Stolz, aber ohne das leiseste Ressentiment. Wenn es ihm selber gelungen war, schloß er daraus, mit Fleiß, Ausdauer und Sparsamkeit müsse jedem gelingen, es zu was Rechtem zu bringen. Er war ein unverbesserlicher Optimist; selbst an mir ist er am Ende doch nie ganz irre geworden. Alle Gaben, alle Kräfte waren in ihm einander so gut zugewogen, daß keine jemals aus dem ruhigen, gleichen Schritt seines Lebens fiel. Und wenn keine besonders hervorstach, diese wunderbare Mischung selber war schon ungewöhnlich.

Er war eine schöne Seele, wenn auch freilich in josefinischer Ausgabe. Er hatte sich von den Schotten in Wien, bei denen er mit Franz Nissel und Siegmund Schlesinger auf der Schulbank saß, jenen vormärzlichen Humanismus mitgebracht, in dem ein arg verdünntes, kaum mehr katholisches Christentum sich nur noch an der Krücke des kategorischen Imperativs, dem freilich in unseren Landen allmählich ein Schimmer österreichischer Liebenswürdigkeit angeflogen war, aufrecht hielt. Nun lag es aber im Ernst seiner großen inneren Rechtschaffenheit, mit dem Verstand nichts aufnehmen zu können, ohne es sogleich auch mit dem Gemüt ergreifen und durchs Tun, ja durch das ganze Sein bewähren zu müssen. Wofür er als Jüngling bei Schiller, den er noch bis ins Alter hinein Goethen vorzog, bei Gutzkow, aus dessen »Rittern vom Geiste« sich der Student ganze Hefte voll exzerpiert hatte, geschwärmt, das fortan aber auch mit jedem Atemzuge seines Lebens zu bezeugen trieb ihn ein Ehrgeiz, der sich ganz treuherzig mit einem früh sich regenden bürgerlichen Erwerbsinn aufs beste vertrug, wie denn überhaupt an ihm das Merkwürdigste war, welch hoher Idealist da ganz fest auf den breiten Schultern eines tüchtigen Bürgers von der mittleren Art saß. Er hatte gar nichts vom Hjalmar, eher noch in der fast exaltierten Unbedingtheit seiner sittlichen Forderungen etwas von einem moralischen Don Quixote, und selbst in jenen gefährlichsten Jahren, wo der Sohn den bösen Blick, den fast hellseherisch die geheimsten Winkelzüge der Eltern aufstöbernden Blick bekommt, hat sich in mir niemals auch nur der leiseste Verdacht an der arglosen Unschuld dieses Mannes, der immer ein großes Kind blieb, neben dem ich mir mit vierzehn Jahren ein Greis an Welterfahrung und Menschenkenntnis schien, geregt. Es wurde mir nur schwer, begreifen zu lernen, daß er, ein Wunder an sittlicher Kraft, Schönheit und Würde, dabei doch in allem übrigen niemals das Maß eines richtigen Linzer Notars überschritt. Er gehörte zu den Menschen, die jeden Frühling wieder zitieren: »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche!«, von Pfingsten nicht reden können, ohne hinzuzusetzen: »Das liebliche Fest« und automatisch beim Anblick von Fichten anstimmen: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut dort oben?« Wenn er an schönen Sommerabenden, der Aussicht zu genießen, mit dem Rücken zur Landschaft, gesenkten Kopfs, zwischen den gespreizten Beinen hindurch nach den blauen Bergen sah, in welcher Stellung sich angeblich der sanfte Hauch der Fernen erst ganz empfinden läßt, begann ich als kleiner Bub schon zu verstehen, warum die Mama manchen Tag lang, ein nasses Tuch um den schmerzenden Kopf, auf dem Sofa lag. Sie hat die vom Vater ewig besungenen Alpen gehaßt, sie hat auch Kunst und Wissenschaft gehaßt, sie hat diese ganze liberale »Bildung« gehaßt, ihr war das alles ein Schwindel, auf den sie nicht hereinfiel! »Sinnig« war sie gar nicht, und jene Leute, die sich stets um irgendein Ideal »so schön bemühen«, es dann aber eben bei diesem schönen Bemühen bleiben lassen, konnten sie rasen machen. Wie tragische Menschen immer, war sie ganz unsentimental, ihrer großen Empfindung widerstand jederlei Triefen von Gefühlen, und mit einem zynisch aufrichtigen Bösewicht hätte sie sich immer noch eher aussöhnen oder doch innerlich abfinden können als mit dem gewissen, von der eigenen Tugend bis zu Tränen gerührten Biedermann. Ja, fast muß ich fürchten, daß ihr der Stil eines Menschen, sein Wurf, der Griff, mit dem einer sich, wie er nun eben einmal ist, zusammennimmt und zusammenhält, im Grund über seinen sittlichen Wert ging. Ganz naiv verhielt sie sich zur Welt eigentlich zunächst rein ästhetisch, ja artistisch, so wenig sie das je zugegeben hätte, da sie mit einer wahren Passion ihre Verachtung der Kunst zur Schau trug, wie der Wissenschaft übrigens auch und aller »Bildung« überhaupt. Ihr Vater, erst Oberamtmann auf Schloß Johannisberg bei Jauernig, später Statthaltereirat in Troppau, schon in seiner breiten, asthmatischen, den Schlagfluß, an dem er starb, ankündigenden Erscheinung der typische Bureaukrat alten Schlags, konnte noch unter weiblicher Erziehung, wofern ihm dieser Begriff überhaupt aufgegangen war, nichts anderes verstehen, als daß die Mädeln kochen, stricken, flicken, sticken, das Haus halten, die Wirtschaft führen, Dienstboten abrichten, rechnen und sparen zu lernen hätten und dann allenfalls noch mit einer gewissen Geschicklichkeit im Repräsentieren, in der Konversation, zur Not sogar auf Französisch, in Klavierspiel und Tanz, im Kokettieren, kurz in den üblichen, zum Männerfang nötigen gesellschaftlichen Künsten auszustatten, übrigens aber zum Gehorsam, zur Bedürfnislosigkeit, zur Zufriedenheit, zur Geduld, zum Hausdienst anzuleiten und anzuhalten wären, alles andere mochte sich dereinst ihr Mann, wenn er nur erst gefunden wäre, dann aus der Frau selber machen; und als der von seiner Minna nun wirklich gefunden und dieser Adjunkt der Finanzprokuratur in Temesvar auf die Bitte des künftigen Schwiegerpapas von dem ihm befreundeten Justizminister Baron Hein zum Notar ernannt worden war, durfte sich der gute Statthalterbeirat guten Gewissens sagen, seiner Vaterpflicht genügt zu haben. Der jungen Braut können die poetischen Neigungen ihres Erwählten nicht unbekannt geblieben sein: der Adjunkt war ein Schöngeist, der sogar für die »Temesvarer Zeitung« schrieb, ja dort eine Zeit das Richtschwert des Theaterkritikers geschwungen hat. Zunächst ließ ihn meine Mutter damals noch kaum merken, daß es auf der Welt überhaupt nichts gab, das ihr imponiert hatte. Zur Zeit aber, als ich allmählich aufzublicken und aufzuhorchen begann, muß doch auch er schon gewahr worden sein, daß sie fürs Poetische nicht zu haben war. Es war in Linz seit Stifters Tod durch Otto Prechtler vertreten, der, in einen schwarzen Radmantel gehüllt, melancholisch unter den alten Platanen auf der Promenade herumstand; und zuweilen nahm, nach seinem Schlosse Leopoldskron durchreisend, der dicke Julius von der Traun, recte Dr. Alexander Schindler, Abgeordneter und Börsenspieler, durch seinen Witz und seine Ähnlichkeit mit dem dritten Napoleon berühmt, rasch auf dem Bahnhof herablassend ein opulentes Frühstück ein. Meine Mutter, etwas voreilig schließend, daß Goethe und Schiller kaum viel anders wären, dankte seitdem für Poesie. Der Vater wußte sich kein schöneres Gedicht als »Waldmeisters Brautfahrt« von Otto Roquette. Wenn ich in die Berchtesgadener Ramsau komme, klingt mir heute noch die helle, vom Mitgefühl leise bebende Stimme, mit der er es mir dort vorlas, im Ohr; das ist heuer gerade fünfzig Jahre her. Wir verbrachten vierzehn Tage mit dem Onkel Libor dort, gingen täglich morgens in den rauschenden Wald, und da, während die Vögel sangen, las er uns daraus vor, jeden Tag einen Gesang. Er las es seinem Buben vor, weil seine Frau dafür durchaus nicht zu haben war: sie fand derlei fad, verlogen und abgeschmackt. Ihr den »Lear«, »Le Cousin Pons« oder die »Karamasows« vorzulesen hat er nie versucht. Sie hat zeitlebens kein Buch gekannt, das ihr inneres Maß gehabt hätte. Auch keinen Menschen. Menschen von vollem Maß gab es ja damals in der guten Stadt nur zwei. Der eine war der große Bischof von Linz, Franz Josef Rudigier; dem waren die Liberalen spinnefeind, und der Vater hielt im Landtag lange Reden gegen ihn. Der andere Mensch im damaligen Linz aber, der junge Domorganist und Chormeister der Liedertafel, der eine Zeit als Klavierlehrer eines losen Tantchens, dem er, verliebt, unablässig die kleinen ungeschickten Händchen abzuküssen nicht müde ward, ins Haus kam, Anton Bruckner, war mit seinen Kratzfüßen, vor Verlegenheit schwitzend, in seinen ungelenken Huldigungen ein bäurischer Tolpatsch von solcher Possenkomik, daß meine Mutter vor Lachen nicht dazu kam, sich ihn einmal näher anzusehen. So blieb sie das ganze Leben lang allein. Und so tief vereinsamt, wie sie gelebt hat, ist sie gestorben.

Mein lieber, heiterer, wohltemperierter Vater aber hatte doch etwas, wodurch er weit übers bürgerliche Maß wuchs: dadurch nämlich, daß er, wenn auch nicht erkannte, so doch empfand und durch Empfindung verstehen und, daß er es dankbar empfand, täglich von neuem bezeugen lernte, wie viel höherer Art als er selbst die Mutter war. Ja die Freude, mit der er sich das eingestand, und nicht bloß sich selber, hatte was Rührendes, sie gab ihm fast zuweilen einen Zug von Größe. Mit weißen Haaren noch schien er eigentlich immer eher der Bräutigam seiner Frau. Das Bedürfnis, zu verehren, emporzublicken, war ihm angeboren. Es hielt sich zuerst an seine Mutter, von ihr übertrug er es auf ihr ganzes Geschlecht. Wie dieser sonst so durchaus bürgerliche Notar zu den Frauen, gar aber zu seiner stand, darin war er eher einem edlen Rittersmann gleich. Sein Verhältnis zu meiner Mutter war ein täglich erneutes Bekenntnis: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan«. In dieser Luft wuchs ich auf, sie sog ich ein. Daß es die Frauen sind, in denen die Würde der Menschheit erst zur schönsten Zeitigung kommt, wie sie ja niemals reiner aufgeblüht ist als an der Mutter Gottes Maria, das war mir von klein auf, das blieb mir, wohin sich mein Leben auch zuweilen verlor, immer ganz unmittelbar gewiß. Und wenn ich den Geist, das bißchen Talent, ja die sämtlichen Grundzüge meines Wesens von der Mutter habe, das Beste dank ich doch dem Vater: dem Vater dank ich die Ehrfurcht vor der Frau.


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