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Goethes Geschichte wäre nun einmal zu schreiben: wie jede Generation ihm von einer anderen Seite beikommt, sich von ihm nimmt, was sie für sich brauchen kann, und ihn sich immer von neuem wieder adaptiert; jede hat sich ihren eigenen Goethe gemacht und wenn man diese Goethes nebeneinander stellt, ist es kaum zu glauben, daß alle von einem und demselben Menschen ausgegangen sein sollen.
Den Mitlebenden hat er sich immer wieder entzogen. »Wenn die Leute glauben, ich wäre noch in Weimar, dann bin ich schon in Erfurt«, sagt er selbst einmal und nennt sich den »veränderten Freund«. Sie konnten ihm nicht nachkommen; kaum glaubten sie ihn zu fassen, war er ihnen schon wieder verloren, er ließ sich nicht festhalten. Die Freunde des »Götz« erkannten ihn im »Tasso« nicht wieder, die Treuesten schraken vor der Farbenlehre zurück, bald war er wirklich der einsame Merlin im leuchtenden Grabe. Er ist nicht mehr ernst zu nehmen, er treibt es zu arg, klagte schon Karoline Herder, einer nach dem anderen stimmte bald traurig bei. Er war ihnen soweit voraus, daß sie meinten, ihn überholt zu haben. Der Berliner Kreis geistreicher Jüdinnen allein hütete sein Andenken noch. Auch sie verstanden, erkannten ihn nicht, doch fühlten sie das ungeheure Geheimnis und hegten es in Ehrfurcht. Dann kam gar ein vorwitziges Geschlecht, ganz dem Tage zugetan, das sich vermaß, die Menschheit durch »Verfassungen« zu heilen; der Dichter galt nur noch als Lieferant von Zitaten für Festredner in Turnvereinen und politischen Liedertafeln, dazu fand sich in den »Wanderjahren« und im »Faust« wenig. Sie wußten mit dem »kalten« Goethe nichts anzufangen. Allmählich wurde der von dem »heiteren« Goethe abgelöst, dem Olympier, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Heyse, ja mit Paul Lindau bekam, ein freies Kind der Welt, hoch über dem Menschenleid beschaulich thronend; den marmornen Goethe nannte man ihn, er war aber doch mehr aus Gips. Das Beste taten für ihn noch in aller Stille die verkannten, unrecht geschmähten Goethephilologen: sie trugen mit deutschem Fleiße das Material zusammen, nun mochte sich ein neues Geschlecht seinen Goethe daraus auferbauen, und jedes folgende wieder, das Material ist da, Goethe kann uns jetzt doch nicht mehr ganz abhanden kommen; und er hat ja Zeit, er wartet. Oder soll Nietzsche recht behalten, daß Goethe niemals den Deutschen angehören wird?
In den neunziger Jahren ging dem Deutschen wieder auf, daß Goethe vorhanden ist. Man kann das etwa von der preisgekrönten Schrift Richard M. Meyers datieren (dessen kluges, auch wieder die Tatsachen unbefangen versammelndes Buch über Nietzsche jetzt vielleicht für diesen ebenso wirken wird, wenn es junge Leute bestimmt, ihn einmal ohne Vorurteil und unbetört zu lesen). In den neunziger Jahren kehrte sich das Geschlecht, das damals eben ins tätige Leben eintrat, Goethe zu und – sah nun auch wieder nur sich selber in ihm. Es entstand der monistische Goethe, dessen sich dann ein Jahrzehnt lang die Oberlehrer so sehr berühmten, bis ihm endlich Chamberlain den Garaus gemacht hat. Goethe, der die ganze Menschheit enthält, enthält auch einen Monisten, wie er die Griechen, das Rokoko und die Romantik, Voltaire, Kant und Herder, ja Schelling und Hegel, die Mystik, den Pietismus und den Katholizismus enthält, aber alle zusammen. Nimmt man aus dem Ganzen ein einziges Stück heraus, als ob es allein Goethe wäre, so fälscht man ihn, indem man ihm sein Leben nimmt, das eben in diesem Zusammenhang seiner sämtlichen Stücke, wie sie sich bedingen und einander auch wieder begrenzen und eins das andere so beleuchten als beschatten, immer erst entsteht.
Wenn sich der monistische Wanderlehrer auf Fausts Monolog in »Wald und Höhle« beruft (»Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles«), so vergißt er nur die Replik Mephistos, in der sich der Katzenjammer aller monistischen Verzückungen auftut:
»Und Erd' und Himmel wonniglich umfassen,
Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen,
In stolzer Kraft, ich weiß nicht was, genießen,
Bald liebewonniglich in alles überfließen,
Verschwunden ganz der Erdensohn,
Und dann die hohe Intuition –
Ich darf nicht sagen wie – zu schließen.«
Er vergißt, daß Goethe nicht Faust ist, sondern Faust und Mephisto zusammen, und er vergißt, daß der Monismus auch nur eine Phase Faustens ist, der steigt dann zu den Müttern hinab, dringt zur Tat auf freiem Grund mit freiem Volke durch und fährt, von Engeln getragen, zum Himmel auf. Für jeden Satz Goethes, der seinen Monismus beweisen soll, will ich mit fünf anderen seinen Dualismus erbringen: Niemand hat, als Kind, Mann und Greis, so stark Erdenreich und Geisterwelt einander suchen, verschränken, ja durchdringen, aber immer wieder einander verlieren, ja befeinden gefühlt wie Goethe.
Es gibt kaum eine Meinung, für die man sich nicht auf Goethe berufen kann, gleich aber auch gegen sie, und ohne daß man ihn je so mit sich selbst wiederlegen könnte, denn er hat nicht heute die eine, morgen die andere Meinung, und auch das trifft nicht zu, daß er beide Meinungen zusammen hätte, sondern immer deutet er damit nur auf ein Höheres hin, wovon die beiden, wovon alle Meinungen immer nur wieder ein Unzulängliches sind, das niemals Ereignis wird, wohin alle menschlichen Meinungen immer nur ein immer wieder versagendes Verlangen unserer immer von neuem ausgestreckten, immer von neuem abstürzenden Sehnsucht sind. Er ist darum geneigt, mit seiner Hersilie von allen Sentenzen, Maximen, in die der Mensch die Wahrheit einzufangen versucht, zu finden, »daß man sie alle umkehren kann und daß sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr«. (»Wanderjahre«, Tempel Seite 70.) Das heißt nicht, daß er an der Wahrheit zweifelt. Er verzweifelt nur daran, sie mitteilen zu können. »Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert.« (»Wanderjahre«, Tempel Seite 32.) Da wir nun aber doch einmal, wenn wir nicht, wie Montan, lieber ganz verstummen, auf »das schlechte Zeug von öden Worten« angewiesen sind, hilft er sich damit, daß er eben »das Gemeinste« immer wieder anders ausspricht, indem er so, immer wieder von einer anderen Seite her an die Wahrheit heranschleichend, doch wenigstens ein Gefühl der ewig verhüllten erahnen zu lassen hofft. In jenem berühmten Brief an Jacobi, vom 6. Januar 1813, hat er es selbst ausgesprochen: »Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.« Ebenso auf einem Zettel von seiner Hand (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band, Seite 374): »Wir sind naturforschend Phantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.« Und wieder, noch schärfer, einmal in den »Einzelnen Betrachtungen und Aphorismen über Naturwissenschaft im allgemeinen« (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band Seite 163): »Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen. Philosophie deutet auf die Geheimnisse der Vernunft und sucht sie durchs Wort zu lösen. Mystik deutet auf die Geheimnisse der Natur und Vernunft und sucht sie durch Wort und Bild zu lösen.« Jedes deutet also in seiner eigenen Art, indem er sich dazu seiner besonderen Mittel bedient, jedes hat auf seine Weise recht, aber alle können doch immer nur »deuten«, es bleibt »Geheimnis«, das nur »die Organe aller Wesen zusammen erfassen mögen«, der lobpreisende Chor der sämtlichen Erschaffenen.
Mehr als »deuten« können wir nicht. »Deuten« oder wie Goethe es auch gern nennt: bis an das Urphänomen kommen, »die Phänomene bis zu ihren Urquellen verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt.« (»Farbenlehre« I. Band Einleitung.) An diesen »Urverhältnissen« wird uns Halt geboten, sie mögen wir anschauen und allenfalls ahnen, daß, was sie in sich verbergen, auch in uns verborgen vorhanden ist. Wir können an ihnen, wie er in jungen Jahren einst dem Grafen Stolberg schrieb (»Der junge Goethe«, Inselverlag, 5. Band, Seite 309), Gott, »den unergreiflichen«, berühren, aber jedes Wort davon ist nur »Kindergelall und Gerassel«. Aussprechen können wir nichts davon, aber Zeugnis können wir ablegen dafür, durch unser Tun nämlich, indem nun jeder, der einmal des »Urlebendigen« irgendwie bei sich gewahr geworden, das selige Gefühl davon in sein Tagewerk mitnimmt, Erkennen werden wir die Wahrheit nie noch aussprechen können, aber wir können uns zur Wahrheit bekennen: wir können das Geheimnis fühlen und es bezeugen, indem wir es ausüben, jeder auf seine Art, der eine durch sein Tun, der andere in seinem Wandel, aber alle doch immer nur hindeutend, mag man das nun mit einem Wort, das leicht mißbraucht werden kann, symbolisch oder, wie Goethe noch lieber sagt, analogisch nennen. Sobald man sich aber dann verleiten läßt und das Symbolische, das Analogische beim Worte nimmt, als wäre damit ausgesprochen, was doch ewig unaussprechlich bleibt, ist man, kaum geborgen, schon wieder verloren. Heraklit hat vom delphischen Gott gesagt, daß er nichts ausspreche, nichts verberge, sondern es anzeige. (οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει.) So will Goethe, wenn er spricht, nichts aussprechen, sondern er zeigt das Geheimnis an. Und darum muß er sich immer wieder widersprechen. Denn auch indem er widerspricht, zeigt er das Geheimnis wieder an. Sein ganzes Leben ist solch ein ununterbrochenes Zeigen auf das Geheimnis. »An Gott glauben,« hat er einmal gesagt, »dies ist ein schönes löbliches Wort, aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbart, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.« Sein ganzes Leben war ein ununterbrochenes Anerkennen, ja man möchte sagen: Ausüben Gottes.
»Abglanz« nur erreichen wir, niemals das, was glänzt, selbst. Wir erreichen immer nur Modifikationen eines Unbekannten. Wie wir uns vermessen, an ihnen dieses selbst ergreifen zu wollen, müssen wir schon in uns selber greifen, wir dichten schon. Wenn ich an die Linde im Garten denke, muß ich sie mir schon erdenken. Sie ist das ja nie, sie wird es erst durch mich. Damit ich sie nur überhaupt gewahren kann, muß durch mich an ihr etwas geschehen. Was ich jedesmal von ihr erblicke, sind jedesmal wieder andere Modifikationen, und daß ich alle diese Modifikationen auf einen und denselben unbekannten Grund, immer auf ein und dasselbe Unbekannte beziehe, das ist schon meine Tat. Dies meint Goethe, wenn er unablässig immer wieder auf das Tun dringt. Durch Tun erst wird Wissen ganz. »Das Halbgewußte hindert das Wissen. Weil alles unser Wissen nur halb ist, so hindert unser Wissen immer das Wissen« (»Naturw. Schriften« 10. Band, Seite 76). Alles Wissen ist ohnmächtig, solange nicht aus unserem Innern noch eine Kraft dazu kommt, die, was wir wissen wollen, erst vollbringt. Diese Kraft in uns, die wir den Modifikationen antun, bleibt uns ebenso unbekannt als die hinter den Modifikationen wirkende, sie bewirkende Kraft; wir glauben nur gewiß zu sein, daß diese beiden Unbekannten einander durch uns hindurch die Hände reichen. So kommt Goethe zu seinem besonderen Begriff einer Wissenschaft, für die das Wissen nicht hinreicht, die mehr sein muß, nämlich Kunst.Wie durchaus arisch das ist, sieht man daran, daß der Indoarier »alle Beschäftigung mit Beweisen«, also gerade das, was allein wir jetzt für Wissenschaft gelten lassen wollen, Avidja, »Nichtwissen« nennt. Darüber Chamberlain »Arische Weltanschauung« S. 52. »Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, dieser daß Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten . . . Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physikalische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften, fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.« (»Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«, in dem Abschnitt »Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten.«) Daß er »keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit« ausgeschlossen haben will, auch die Phantasie nicht, dieser Gedanke kehrt immer wieder. So fordert er in dem Aufsatz über Stiedenroths Psychologie (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band, Seite 73) mit fast eben den nämlichen Worten, daß der Forscher »alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse«, und spottet über den Mann der »sogenannten exakten Wissenschaften«, der »auf der Höhe seiner Verstandesvernunft nicht leicht begreifen wird, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist.« Den Wert der Erfahrung leugnet er nicht, »so wenig als man den Seelenkräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusammengenommen, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft absprechen wird« (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band, Seite 24). So gibt er immer und immer wieder und »wieder zu bedenken, daß die Tätigkeiten in einem höhern Sinne, nicht vereinzelt anzusehen sind, sondern daß sie einander wechselsweise zu Hilfe kommen und daß der Mensch, wie mit anderen, also auch mit sich selbst öfters in ein Bündnis zu treten und daher sich in mehrere Tüchtigkeiten zu teilen und in mehreren Tugenden zu üben hat« (»Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«, Konfession des Verfassers). Sobald aber einer dieses »Bündnis« wirklich eingeht und sich seiner sämtlichen Tüchtigkeiten und Tugenden zu bedienen unternimmt, ist ihm ja die Wissenschaft eigentlich schon zur Kunst geworden, denn »das Wissen, indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemerken, das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so müssen sie doch, ehe sie sich's versehen, die produktive Einbildungskraft zu Hilfe rufen« (»Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen«, »Naturwissenschaftliche Schriften«, Band 6, Seite 302). Wer sich nämlich nicht in irgendeine besondere »Manifestation des menschlichen Wesens« versperrt, sondern sie sämtlich, ja den ganzen Menschen ans Werk setzt, sieht sich bald in Widersprüche verstrickt, denn wenn sie gleich alle dasselbe manifestieren, so hat doch jede ihr eigenes Element, in das sie alles eintaucht, wie denn das Auge nur sehen kann, das Ohr immer hören muß, und so tut sich ein Abgrund auf, die Brücke müssen wir selber schlagen, aus uns selbst. Je mehr wir alle unsere Kräfte daran wenden, desto weniger kommen wir zurecht, solange wir uns nicht zu einem Gewaltstreich entschließen und nicht, was uns immer noch fehlt, einfach selbst erschaffen. »Idee und Erfahrung«, schreibt Goethe an Schopenhauer, »werden in der Mitte nie zusammentreffen; zu vereinigen sind sie nur durch Kunst und Tat.« Und in den »Vorarbeiten zu einer Psychologie der Pflanzen« (»Naturwissenschaftliche Schriften«, Band 6, Seite 302) baut er eine Pyramide der Wissenschaft auf: unten die »Nutzenden«, über ihnen die »Wissenden«, noch höher die »Anschauenden«, ganz oben aber die »Umfassenden«, von denen er sagt: »die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.« Das klingt an dieser Stelle fast wie ein verwegener Scherz und als ob er vielleicht nur den Dogmatisten der bloßen Erfahrung, die ihm so herzlich zuwider waren, eins damit versetzen wollte. Es ist aber der notwendige Schluß aller Goethischen, des »herrlichen« Kant Frucht tragenden Weisheit. In den »paradoxen Sätzen«, die er »auf seinen Sommerfahrten« notiert, dann aber nun auch erst noch »in Verbindung zu bringen, die hervortretenden Widersprüche zu vergleichen«, keine Zeit mehr gefunden hat, können wir sie sozusagen im Urzustande belauschen. Sein Hauptsatz steht voran: »Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze.« Sodann kommt er gleich auf die »Idee der Metamorphose« zu sprechen, aber wie nennt er sie? Eine »Gabe von oben«, da er ja, was immer er erlebte, erdachte, erträumte, alles vom Genius dargereicht empfand. Von ihr aus gelangt er zur Musik, die er »zum Trutz der Natur« erscheinen läßt. Da haben wir ganz eben denselben Gedanken wieder, als ob die Natur sich dem Menschen fügen müßte, und unmittelbar darauf heißt es denn auch geradezu: »Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend.« Damit spricht er aus, was ihm Wissenschaft (jene Wissenschaft, die er sich zur Kunst gesteigert denkt) ist: Gesetz geben. Nicht die Natur enthält das Gesetz und der Mensch entnimmt es ihr, sondern sie erhält es von ihm. Freilich muß aber »unsere ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschrift nicht widerspenstig machen, aber uns dagegen auch durch ihre Willkür nicht vom Zweck entfernen lassen.« Es ist völlig das Verhältnis des Künstlers zu seinem Stoff. Auch der Künstler muß sich ja hüten, den Stoff zu »zwängen«, um ihn nicht »widerspenstig zu machen«, und darf sich doch aber auch nicht durch die »Willkür« des Stoffes »vom Zweck entfernen lassen«. Jetzt verstehen wir erst, wie Goethe an einer anderen Stelle (»Naturwissenschaftliche Schriften«, 6. Band, Seite 348) sagen kann, der Naturforscher »verweile am liebsten in der Region, wo Metaphysik und Naturgeschichte übereinandergreifen«. Und so verstehen wir jetzt auch, warum er dem Forscher immer wieder und wieder zur Phantasie rät. »Phantasie ist der Natur viel näher als Sinnlichkeit, diese ist in der Natur, jene schwebt über ihr. Phantasie ist der Natur gewachsen, Sinnlichkeit wird von ihr beherrscht« (»Naturwissenschaftliche Schriften«, 6. Band, Seite 361). Für Phantasie sagt er zuweilen auch »produktive Einbildungskraft« oder »innere produktive Kraft« oder »Ideenvermögen«, gemeint ist immer die unbekannte Kraft, die den Menschen das Geheimnis, das er niemals erkennen wird, durch die Tat berühren läßt. Um die menschlichen Tüchtigkeiten und Tugenden fruchtbar zu machen, muß noch etwas hinzukommen: die Einflüsterung des Genius. Der Genius geht so treu mit Goethe mit wie mit dem Katholiken sein Schutzengel. Niemand hat kindlicher in seinem ganzen Leben überall der »höheren Leitung« vertraut, niemand sich so sehr als das Werkzeug eines verborgenen Plans gefühlt, niemand sich auf Schritt und Tritt so sicher behütet gewußt, er selber war sich immer nur der Empfänger, der Melder des göttlichen Funkens. Gelassen erzählt er, daß nicht er es war, der zur Optik wollte, »ich bin vom Genius dahin geführt worden«. Er klagt über die Last, die er sich damit aufgeladen, »oder vielmehr der Genius hat's getan«. Er ist immer bloß der Apparat des Genius; was er vollbringt, geschieht vielmehr an ihm; was er zu tun scheint, das wird ihm vielmehr angetan. Er hat des Papstes Gregor Hymnus an den Heiligen Geist übersetzt: »Der herrliche Kirchengesang Veni Creator Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht.« Und wie seltsam einem das auch vorkommen mag, ihm ist all sein Tun in Leben, Kunst und Wissenschaft immer eingegeben worden, eingegeben von einer höheren, nicht ihm selber eigenen, ja ihm gar nicht bewußten, ohne seinen Willen über ihn hereinbrechenden, ihn überwältigenden Kraft. Und wenn er versucht hat, Wissenschaft als Kunst zu behandeln, so heißt das nur, daß er auch als Erkennender wie als Schaffender die Eingebung der Himmlischen zu Hilfe ruft.
Aber indem nun das Göttliche sich auf einen Menschen niederläßt, nimmt es Menschenart an, und was in einem Menschen der göttliche Hauch wirkt, trägt schon dieses Menschen Züge. Es verdüstert, es trübt sich, der Mensch färbt darauf ab. »Das Wirkende muß trefflicher sein als das Gewirkte«, sagt Goethe, »und die übersinnliche Musik bringt die Musik in sinnlichem Ton hervor.« Wenn alle Wahrheit, deren wir fähig sind, immer nur unsere eigene Tat ist, so kann jede Wahrheit bloß eben für ihren Täter Gültigkeit ansprechen, als sein Anteil am Göttlichen, der Anteil dieses einen Menschen; und jeder andere wird damit für sich nichts anfangen können und sich wieder seinen selbst suchen müssen. Die Wahrheit ist immer dieselbe, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum; sobald aber die Wahrheit einen Menschen betritt, hat sie schon einen Zusatz von Wahn und Trug und Albernheit, den eben dieser eine Mensch gar nicht entbehren kann, denn eben dieser Zusatz von Wahn und Trug und Albernheit ist es, wodurch ihm die Wahrheit erst sichtbar wird, jeder Mensch braucht einen solchen Zusatz, aber jeder einen anderen, für jeden muß Wahn und Trug und Albernheit wieder besonders gemischt werden. Alles Wissen ist darum völlig individuell, es gilt nur für den einen, der es weiß. »Ich habe mich durchaus überzeugt, das Liebste, und das sind doch unsere Überzeugungen, muß jeder im tiefsten Ernst bei sich selbst bewahren: jeder weiß nur für sich, was er weiß, und das muß er geheimhalten; wie er es ausspricht, sogleich ist der Widerspruch rege, und wie er sich in Streit einläßt, kommt er in sich selbst aus dem Gleichgewicht, und sein Bestes wird, wo nicht vernichtet, doch gestört.« So spricht Montan aus, worauf im Grunde zuletzt alles Tun, alles Wirken Goethes und sein ganzes Verhältnis zu den anderen beruht: er will seine Wahrheit finden und den anderen ihre lassen. Mit immer anderen Worten ruft er uns das immer wieder zu: »Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken; denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft.« Und: »Ich schweige zu vielem still; denn ich mag die Menschen nicht irremachen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da, wo ich mich ärgere.« Und wieder: »Was ich recht weiß, weiß ich nur mir selbst; ein ausgesprochenes Wort fördert selten, es erregt meistens Widerspruch, Stocken und Stillstehen.« Und: »Unsere Meinungen sind nur Supplemente unserer Existenz. Wie einer denkt, daran kann man sehen, was ihm fehlt.« Und: »Was originell ist, trägt immer die Gebrechen des Individuums an sich.« Daraus folgt: »Das Schrecklichste für den Schüler ist, daß er sich am Ende doch gegen den Meister wieder herstellen muß. Je kräftiger das ist, was dieser gibt, in desto größerem Unmut, ja Verzweiflung ist der Empfangende.« Denn: »Das Wahre ist gottähnlich: es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.« Daher denn auch Goethes Toleranz, die so gar nichts von der landläufigen, nichts von Unsicherheit, Nachgiebigkeit oder gar Entgegenkommen, nichts von Anbiederung und Konnivenz hat, auch nichts von der Geneigtheit, sich anderen, andere sich anzupassen und die eigene Meinung an fremden, fremde wieder an der eigenen solang abzuschleifen, bis sich allmählich eine mittlere daraus ergibt, die keinem mehr weh tut, aber auch keinem mehr wohl. Er läßt sich von seiner nichts abhandeln, aber er will sie keinem aufdrängen, sie wäre ja sonst nicht mehr seine. Er hält sie fest, aber nur für sich, als sein Eigentum. »Weder polemisch noch konziliatorisch, sondern positiv und individuell«, ist sein Wahrspruch und so verkennt er auch nicht, daß ebenso ja jede von unseren Kräften, jede der Fähigkeiten, Tüchtigkeiten und Tugenden, mit denen wir begabt sind, auch wieder sozusagen ein eigenes Individuum in uns ist, das auch wieder seine besondere Wahrheit hat, in die es sich von seinen Mitbewohnern mit ihren Wahrheiten nichts dreinreden läßt. In demselben Menschen ist Augenwahrheit anders als Ohrenwahrheit, jeder Sinn hat seine eigene Wahrheit, und die Phantasie wieder ihre, der Verstand eine andere, das Gemüt eine, der Wille seine und wenn sie sich alle vereinigen, alle zusammen wieder eine neue, die sich, so oft sie sich vereinigen, jedesmal wieder anders erneut, je nachdem sie sich vereinigen, und dies erhält und bewegt unser irdisches Leben, bis es alle Wahrheiten hervorgebracht hat, deren es fähig ist; dann kann es auslöschen. Aber wie sie sich auch zu widersprechen, ja eine die andere zu widerlegen scheinen, sie müssen alle doch in der Tiefe dasselbe sein: dies werden wir gewahr, sobald wir handeln. Im Handeln verstummt unser innerer Widerspruch und was sonst gegeneinander strebt, findet sich zusammen zum Handeln. Handelnd sind wir, wenn wir aus unserem Gewissen handeln, der verborgenen, gemeinsamen, ewigen Wahrheit gewiß. Sie kann vom Menschen weder erkannt noch ausgesprochen werden, aber aufgezeigt, durch die Tat. Wo immer eine Mutter, tief versonnen, ihrem Kind die Brust reicht, wo immer ein Mann für seinen Glauben das Schwert zieht, wo immer ein Mensch reinen Herzens seinen Willen dem inneren Gesetz darbringt, ist sie da. Wir haben sie nirgends, aber überall können wir sie tun.
Ist auch unsere Zeit noch immer nicht reif für diesen Goethe, den ganzen und den man in mehr als einem Sinn, doch freilich auch mit mehr als einem Vorbehalt den katholischen Goethe zu nennen sich fast versucht fühlt? Keine hat wie sie die sämtlichen Möglichkeiten des Menschen ausgekostet, keine wie sie sich von allen enttäuscht gesehen. Wir haben alles erprobt, nichts hat uns standgehalten. Zuletzt auch dies nicht mehr, daß nichts standhält. Auch das hält uns jetzt nicht mehr stand; es ist auch schon wieder überwunden, es war auch wieder nur ein Seitenblick der Wahrheit. Durch alle Verzweiflungen hindurch sind wir geschritten, bis wir jetzt auch am Verzweifeln selbst wieder verzweifeln. Je näher wir uns der Wahrheit glaubten, desto weiter fanden wir uns immer wieder von ihr entfernt. Wenn wir ihr aber dann schon entsagen wollten, stand sie auf einmal mit furchtbarer Gewißheit wieder vor uns da; in jedem Irrtum, jeder Lüge sahen wir ihr verzerrtes Antlitz uns anstarren. So können wir nicht anders, als sie, die wir nirgends erkennen dürfen, überall anerkennen, überall ausüben. Die nackte Wahrheit ist für uns nirgends, aber alles um uns ist ihr Kleid. Von unseren irdischen Sinnen verdunkelt, können wir sie nicht erblicken, aber wir können sie, vom himmlischen Geist erleuchtet, bezeugen. Alles ist Irrtum, mit menschlichen Augen angesehen, aber an allem, aus allem, sobald es der göttliche Hauch berührt, tut sich die ewige Wahrheit kund. Imple superna gratia!