Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Also: je nachdem der Mensch zur Erscheinung steht, entweder sie von sich abweisend oder aber sich ihr hingebend oder endlich sich an ihr, sie an sich bewährend, je nachdem sieht er auch anders, nämlich bald mit dem Auge des Geistes allein, bald mit dem Auge des Leibes allein, bald mit den Augen des Geistes und des Leibes zusammen.
Als Sir Francis Galton am 17. Januar 1911 starb, wußte man in Deutschland noch nicht viel von ihm, seine Wissenschaft der Eugenik fing eben erst an, zunächst im stillen zu wirken. Den Sinn dieser Wissenschaft hat Heinrich Driesmann getroffen, als er sagte, noch wichtiger, als daß die Menschen gut erzogen werden, sei, daß sie gut geboren werden. Wie die Menschen besser geboren werden könnten, darüber hat Sir Francis sein ganzes langes Leben lang nachgedacht. Er war ein Enkel des Erasmus Darwin, kam in Birmingham zur Welt, studierte Medizin, ging 1846 auf Reisen, erst ins nördliche, später auch ins südliche Afrika, als richtiger Engländer zunächst darauf aus, sich mit den Menschen und der Welt gut bekannt zu machen, neugierig mehr nach außen gekehrt mit offenen Augen und Ohren als sich selber zugetan, für den ihm noch immer Zeit genug bleiben würde, wenn er nur erst einmal mit der Menschenart im allgemeinen vertraut geworden wäre. Als tüchtiger Geograph, als erfahrener Anthropolog kam er zurück und legte, was er sich erarbeitet hatte, in bedeutenden Schriften vor. In den fremden Ländern war er die Verschiedenheit der Rassen gewahr geworden, und das ließ ihn nun auch daheim bemerken, wie verschieden doch selbst in demselben Volke die Menschen sind, an Leib und Seele. Die Frage nach der Ursache dieser Verschiedenheit, nach ihrer Entstehung, nach ihrer Erhaltung lag nahe und, erst einmal so weit, war er schon auf dem Wege zu der Frage, der er dann seine ganze Kraft, die größte Geduld und alle pedantische Genauigkeit des Engländers gewidmet hat, der Frage, ob wir denn, da der Mensch sich ändern kann, nicht irgend ein Mittel hätten, ihn nach unserem Wunsche zu ändern, also, wie wir seit langem schon Pflanzen und Tiere züchten, nun endlich auch Menschen zu züchten. Darüber hat er Untersuchungen, Beobachtungen, Rundfragen angestellt, Vorträge gehalten, Aufsätze für Zeitungen, Berichte für wissenschaftliche Gesellschaften und Bücher geschrieben, und so ist er der Vater der Eugenik geworden, die sich jetzt in Zeitschriften und auf Kongressen allmählich die Welt erobert (es ist merkwürdig genug, daß meines Wissens noch an keiner deutschen Universität Eugenik gelehrt wird). Dabei verfuhr er, echt englisch, immer streng induktiv, unermüdlich Wahrnehmungen sammelnd, Erfahrung auf Erfahrung häufend, alle Nachrichten aufzeichnend, aber ohne jemals vorschnell Schlüsse daraus zu ziehen und Hypothesen zu wagen, oder gar Ideen, was er vielmehr mit einer ebenso bewundernswerten als unbegreiflichen Entsagung getrost der Zukunft überließ, die nur mit möglichst viel Vorrat zu versorgen seinem selbstlosen Ehrgeiz völlig genügte. Für sein Hauptwerk gilt »Inquiries into Human Faculty and its Development«. (Zuerst 1883 erschienen, jetzt auch in Everymans Library.)
Darin handelt ein Kapitel auch vom inneren Sehen. Er untersucht die Fähigkeit mancher Menschen, Gegenstände, die sie kennen, willkürlich erblicken zu können, auch wenn diese Gegenstände nicht gegenwärtig sind, auch mit geschlossenen Augen, also nicht für irgendeinen äußeren Reiz hin, sondern bloß durch die Willenskraft ihres eigenen Geistes allein. Bei Gelehrten, Künstlern, Weltleuten, Männern, Frauen und Kindern herumfragend, fand Galton, daß diese Fähigkeit nicht allgemein ist. Manche haben sie gar nicht und verstanden nicht einmal, was mit seiner Frage gemeint war. Es scheint ihnen eine bloße Redensart, wenn man etwas im Geiste zu sehen behauptet. Wer sie wörtlich nimmt, betrüge sich selbst. Fast alle Männer der Wissenschaft, die er gefragt hat, antworten so. Es ergab sich ferner, daß diese Fähigkeit nicht überall, wo sie sich zeigt, denselben Grad hat; die Kraft, Klarheit und Bestimmtheit der inneren Erscheinungen wechselt je nach dem Subjekt. Manche, besonders Frauen, auch die meisten Kinder beteuern, alles, was sie kennen, ihr Wohnzimmer etwa oder Eltern, Lehrer, Freunde oder Landschaften der Heimat, im Geiste, sobald sie wollen, so deutlich erblicken zu können, so genau, wie mit offenen Augen. Ja, wenn er daran leise zweifeln wollte, begriffen sie das gar nicht, es schien ihnen selbstverständlich. Menschen ohne diese Fähigkeiten konnten sie sich gar nicht denken. Sie ließen sich auch von ihm prüfen, antworteten richtig, ohne zu zögern, und wurden ärgerlich, wenn er meinte, daß es doch aber vielleicht bloß ein Erinnern sei, kein unmittelbares Erblicken; sie schworen, es sei ein Erblicken. I can see my breakfast-table or any equally familiar thing with my mind's eye, quite as well in all particulars as I can do if the reality is before me. Jeden Unterschied zwischen Bildern, die das Auge des Geistes sieht, und den äußeren Bildern, die das Auge des Leibes sieht, jeden Unterschied an Schärfe, Gewißheit und Realität leugneten sie. Andere freilich gaben einen Unterschied zu, sei es, daß ihnen das geistige Bild nur in den Hauptzügen deutlich, im Detail aber blaß, flimmernd und verschwommen war, sei es, daß es erst durch Anstrengung allmählich aufgehellt und ausgeführt oder auch gewissermaßen immer wieder nachgefüllt werden mußte. Noch anderen blieb es gar ganz schattenhaft, so daß einer sagte, es sei eigentlich gar nicht ein geistiges Bild zu nennen, sondern eher ein Symbol. Dagegen war es einem Redner wieder ganz leibhaft, der seine Reden zunächst niederzuschreiben pflegt, sie dann aber auswendig hält und dabei das Manuskript, das er gar nicht mit hat, im Geiste vor sich sieht, Wort für Wort; es geschieht ihm zuweilen, daß er plötzlich stockt, wenn in diesem abwesenden Manuskript, aus dem er aber ja dennoch eigentlich vorliest, irgend etwas undeutlich geschrieben oder durchstrichen und verwischt ist. Ebenso hat ein anderer behauptet, wenn er auswendig Klavier spielt, die Noten dabei vor sich zu sehen und im Geist umzublättern. Festgestellt wurde, daß diese Verschiedenheiten der geistigen Bilder nicht etwa durch Verschiedenheiten der sinnlichen Sehkraft erklärt werden können; es kommt vor, daß einer bei ganz schwachen geistigen Bildern in der Wirklichkeit sehr gut sieht, während ein anderer kurzsichtig ist und dabei dennoch die schärfsten geistigen Bilder hat. Auch aus großer Lebendigkeit der geistigen Bilder, die ja eine starke Phantasie vermuten läßt, auf Begabung zu lebhaften Träumen zu schließen, erwies sich als falsch. Ebensowenig waren Beziehungen des geistigen Sehens zum Gedächtnis zu finden: einer kann ein schlechtes Personengedächtnis haben und dennoch imstande sein, einen Menschen, den er nicht erkennt, wenn er ihm auf der Straße begegnet, mit dem Auge des Geistes, sobald er will, so deutlich vor sich zu sehen, daß er ihn zeichnen könnte. Um zu beteuern, daß zwischen dem geistigen Bild und einer wirklichen Erscheinung gar kein Unterschied an Intensität sei, wird nämlich oft diese Wendung gebraucht, das geistige Bild sei so scharf, daß man es zeichnen könnte. Ein Maler aber, der auch die Deutlichkeit seines inneren Sehens beteuern wollte, drückte sich dazu höchst merkwürdig aus. »Meine geistigen Bilder«, sagte dieser Maler, »sind so klar, daß, wenn ich nicht zeichnen könnte, ich ohne Zögern sagen würde, daß ich sie zeichnen könnte.« Das kann doch nur heißen, daß er, der sich auf das Zeichnen ja versteht, weiß, daß seinen geistigen Bildern bei all ihrer Schärfe, Bestimmtheit und starken Gegenwart dennoch irgend etwas fehlt, was der Zeichner zum Zeichnen braucht. Galton erinnerte das an die Gesichter, die wir zuweilen im Kaminfeuer auch mit so bestimmten Zügen erblicken, daß wir meinen, sie zeichnen zu können, aber wenn wir es versuchen, sind sie weg. Es muß also doch irgendein Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Sehen sein, und je mehr ihm Galton nachging, desto seltsamere Sonderbarkeiten des geistigen Sehens ergaben sich dabei. Es ergab sich, daß manche mit dem Auge des Geistes mehr sehen, als das Auge des Leibes jemals sehen kann: das geistige Bild enthält zuweilen mehr, als ein sinnliches jemals enthalten kann. Sie können nämlich mit dem Auge des Geistes auf einmal sehen, was sie sonst bloß nacheinander sehen: sie sehen mit dem Auge des Geistes alle vier Seiten eines Würfels, eine ganze Kugel auf einen Blick. Sie sehen also mit dem Auge des Geistes sozusagen rundherum. Sie beschreiben das as a kind of touchsight, als eine Art Tastsehen, was also so zu verstehen wäre, daß der Geist in sein Sehen gewissermaßen auch das Tasten mit hereinnimmt; oder wir müßten annehmen, daß er die Zeit ausschalten kann. Ja das geht so weit, daß manche mit dem Auge des Geistes sogar sich selbst erblicken können und imstande sind, sich in ihrem Zimmer mit Frau und Kind bei Tisch und dabei auch noch, was an der Wand hinter ihrem Rücken hängt, zusammen zu sehen. Womit also bewiesen wäre, daß dieses geistige Sehen, dessen manche Menschen, in der Kindheit fast alle, fähig sind, mehr als ein bloßes Erinnern oder ein bloßes Reproduzieren des sinnlichen Sehens, daß es ein eigenes Produzieren ist, daß das geistige Sehen eine schaffende Kraft hat, die Kraft, eine Welt nach anderen Gesetzen zu schaffen als den Gesetzen des sinnlichen Sehens. Wenn wir, was wir sonst mit den Augen des Leibes sehen, nun mit den Augen des Geistes betrachten, erblicken wir eine Welt, die uns, an jener gemessen, deformiert scheint; sie weicht von jener ab. Wer überhaupt mit dem Auge des Geistes zu sehen vermag, sieht anders, als er mit dem Auge des Leibes sieht, aber freilich auch anders, als wieder ein anderer mit dem Auge des Geistes sieht; ja ein Mensch unterscheidet sich vom andern im geistigen Sehen weit mehr als im sinnlichen, das geistige Sehen ist mehr individualisiert als das sinnliche, weil ja das Individuum selbst am inneren Sehen mehr beteiligt ist als am äußeren. Das Auge des Leibes verhält sich vor allem passiv: es empfängt, und was ihm durch den äußeren Reiz angetan wird, ist stärker als seine eigene Tätigkeit, stärker als was es selbst dann an dem äußeren Reize noch vornimmt, während das Auge des Geistes sich aktiv verhält und die Nachbilder der Wirklichkeit bloß als Stoff für seine Kraft benützt. Dies wird uns noch deutlicher, wenn wir unser geistiges Sehen einmal sich selber überlassen und nun beobachten, was es aus seiner eigenen Kraft hervorbringt, frei von aller gewollten Erinnerung, ohne von uns aufgefordert zu sein, woran es sich halten soll. Schließen wir die Augen des Leibes und warten geduldig, was geschieht, nach Goethes Beispiel!
Goethe hat in einem Aufsatz, den er 1819 über Purkinjes »Sehen in subjektiver Hinsicht« schrieb, sein inneres Sehen genau geschildert. Er empfand ja überhaupt sehr stark, was er einmal »das Eigenleben des Auges« nennt: das Bedürfnis des Auges, selbst tätig zu sein (was Schopenhauer geradezu von »Aktionen des Auges« sprechen läßt), seine »Lebendigkeit«, seine Bereitschaft, »selbst Farben hervorzubringen«. Ja, wenn er vom Auge spricht, scheint er oft von einer lebenden Person zu reden: es »verlangt durchaus in seinen Zuständen abzuwechseln«, es »kann und mag« in keinem »identisch verharren«, es ist »vielmehr zu einer Art Opposition genötigt«, die »nach einem Ganzen strebt«, und »genießt einer angenehmen Empfindung, wenn etwas der eigenen Natur Gemäßes ihm von außen gebracht wird«. Er wird nicht müde, immer wieder auf dieses Doppelwesen des Auges hinzuweisen: »Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub, aber das Auge vernimmt und spricht. In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch. Die Totalität des Innern und Äußern wird durchs Auge vollendet.« Er wird nicht müde, immer wieder darauf zu dringen, daß »ein Unterschied ist zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbeizusehen«: denn »ohne mit Augen des Geistes zu sehen, tasten wir . . . blind umher«. Darum stimmt er auch so lebhaft Purkinjen zu, der dem Auge seine eigene »Einbildungskraft« beimißt, einen Teil der »allgemeinen Seelenkraft«. Und dies veranlaßt Goethe, sein eigenes inneres Sehen zu beschreiben. Er erzählt: »Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupte mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie solange, als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer bunt gemalten Scheibe dachte, welcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope . . . Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eigenen Lebendigkeit des Organs mit vollkommener Freiheit ohne Vorsatz und Leitung.«
Mit dieser seltsamen Erzählung Goethes stimmen nun manche Beobachtungen Galtons auf das Überraschendste, besonders die Mitteilungen, die ihm der Reverend George Henslow über seine »Visionen« gemacht hat, Erscheinungen innerer Bilder, die nicht seinem Willen gehorchen, sondern ungerufen kommen. Der Reverend verhält sich wie Goethe. Auch er schließt die Augen und wartet, nur denkt er sich zunächst gar nichts, er überläßt sich ganz dem inneren Auge, und es dauert nicht lange, so taucht ein Bild vor ihm auf, ganz klar, doch meistens irgendwie von der Wirklichkeit unterschieden, usually not quite natural in its shape, somewhat different from the real thing. Ganz wie Goethe kann auch er die Erscheinung nicht »fixieren«; sie verändert sich unablässig, sie quillt weiter. Er hat versucht, diese Veränderungen durch seinen Willen zu lenken; mit verschiedenem Erfolg. Zuweilen gelingt es ihm, die wechselnden Erscheinungen am Ende wieder zur ersten Gestalt, zum Anfang zurückzubringen, so daß schließlich ein Kreis entsteht, a visual cycle. Einen solchen Fall beschreibt er so: Es erscheint ihm eine Armbrust, zu der sich bald ein Pfeil gesellt, die Hand einer unsichtbar bleibenden Person taucht auf und schießt den Pfeil ab, da füllt sich der ganze Raum mit schwirrenden Pfeilen, die schon in fallende Sterne, diese wieder gleich in Flocken verwandelt sind; Schnee bedeckt das Feld, eine verschneite Pfarre zeigt sich; jetzt aber ist der Frühling gekommen, die Sonne scheint auf ein Tulpenbeet, das der Reverend aus seiner Kindheit kennt, die Tulpen verschwinden, bis auf eine, die sich verdoppelt, doch entsinken ihr die Blätter, nur der Stempel bleibt, ein aufgedunsener und angeschwollener Stempel, dem Hörner wachsen, die durch allerhand Verwandlungen der Reihe nach ein Bohrer, ein Stift, ja ganz unkenntliche Gestalten, zuletzt aber wieder jener Armbrust ähnlich werden, zu der Herr Henslow ja durch sein Denken das innere Bild zurückbringen will und wirklich, wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten, am Ende zurückbringt. Er hat dieses diorama of a very eccentric kind nachgezeichnet, Galtons Buch bringt die Zeichnungen.
Wer sich die Mühe nimmt und selbst einmal mit den Augen des Geistes experimentiert, lernt dadurch die bildende Kunst neu verstehen. In ihrer Geschichte wechseln Epochen, die sich dem Auge des Geistes anvertrauen (wie fast alle Urkunst, wie die Kunst des Orients), mit Epochen ab, die das Auge des Leibes vorwalten lassen (wie die griechische Kunst seit der Zeit des Apoll von Tenea und jede, die sich an der griechischen bildet). Es kommen aber auch Epochen, wo das äußere mit dem inneren Sehen ringt und die Kunst sich nicht entscheiden kann (in der gotischen Plastik, im Barock und auch in jenem heimlichen Barock der Impressionisten, von dem Meier-Gräfe einmal spricht). Oder es kommt auch vor, daß ein Ausgleich versucht, ein Kompromiß geschlossen wird, daß inneres und äußeres Sehen sich zu vereinigen trachten, daß keines sich ganz durchzusetzen und das andere ganz zu verdrängen, jedes sich doch zu behaupten und des anderen zu erwehren vermag, ja schließlich eins das andere zu durchdringen, mit ihm zu verschmelzen und, indem es sich verliert, sich erst recht wiederzufinden scheint (Leonardo, Rembrandt, Cézanne). Doch bleiben in diesen höchsten Werken immer noch Stellen, denen man irgendein Mißverhältnis, irgendeine Inkongruenz anfühlt, als ob hier gleichsam mit Heftigkeit, ja mit einer gewissen blinden Angst umgeschaltet würde, in ein anderes Element hinüber; daher das fast Gespenstische dieser Werke. Goethe, die Schwierigkeit besprechend, Idee und Erfahrung zu verbinden, meint, es scheine »zwischen Idee und Erfahrung eine gewisse Kluft befestigt, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht«, und diese Kluft nennt er einen »Hiatus«. Besser kann man jenen leidenden und doch auch so reizenden Zug nicht nennen, durch den die höchsten Werke der bildenden Kunst an manchen Stellen plötzlich zu klaffen, nicht recht zu schließen, ja bisweilen schon auseinanderzufallen scheinen.
Wenn Maler, die das Auge des Geistes vorwalten lassen, mit ihren Werken an ein Publikum geraten, das gewohnt ist, den Augen des Leibes zu vertrauen, oder umgekehrt, kann man sich denken, welche Konfusion entstehen muß. Wer sein Sehen niemals beobachtet hat, ist ohnedies geneigt, das Auge für ein Fenster zu halten, durch das die Welt hereinsieht. Dazu kommt noch, daß wir an der klassischen Kunst erzogen worden sind, einer immer hinausblickenden, die Welt einsaugenden Kunst. Der Impressionismus ist ja nur das letzte Wort der klassischen Kunst, er vollendet und erfüllt sie ganz, indem er das äußere Sehen auf das höchste zu steigern, das innere Sehen soviel als möglich auszuschalten, das »Eigenleben«, die Selbsttätigkeit, den Willen des Auges immer mehr abzuschwächen sucht und so den Menschen zum völligen Passivum seiner Sinne macht. »Mais moi-même je n'existais plus, j'étais simplement la somme de tout ce que je voyais«, darin hat Barrès den ganzen Impressionismus ausgesprochen. In dieser Zeit ist es, von den Künstlern und von den Laien, allmählich ganz vergessen worden, daß der Mensch auch Augen des Geistes hat. (Es gab natürlich auch Ausnahmen, wie Klimt und Hodler, die beide, so gern sie sich gelegentlich mancher technischen Gewohnheiten des Impressionismus bedienten, doch niemals ein Bild gemalt haben, das nicht ein persönlicher Willensakt wäre.) Jetzt aber scheint's, daß sich in der heraufkommenden Jugend mit Heftigkeit der Geist wieder meldet. Vom äußeren Leben weg kehrt sie sich dem inneren zu, lauscht den Stimmen der eigenen Verborgenheiten und glaubt wieder, daß der Mensch nicht bloß das Echo seiner Welt, sondern vielleicht eher ihr Täter oder doch jedenfalls ebenso stark ist wie sie. Ein solches Geschlecht wird den Impressionismus verleugnen und eine Kunst fordern müssen, die wieder mit den Augen des Geistes sieht: dem Impressionismus folgt der Expressionismus, auch wieder einseitig, auch wieder einen Teil der menschlichen Natur verleugnend, auch wieder nur eine halbe Wahrheit. Die ganze streift ja der Mensch nur zuweilen einen Atemzug lang und streift an ihr vorbei, stets von einem Irrtum zum anderen schwingend.