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Kaum irgendein anderer deutscher Schriftsteller hat mich in den letzten Jahren so stark angezogen und auch festzuhalten vermocht wie Martin Buber. Was ich von ihm gelesen, erschien mir als gute Botschaft, als ein Zeichen dafür, daß die Menschheit vielleicht wieder einmal daran ist, sich umzuwenden. Er, Johannes Müller und Rudolf Steiner, diese drei vor allen, sagen uns das an. Die Menschheit hat ja die Gewohnheit, immer wenn sie eine Zeitlang ganz zum Sichtbaren hin, ganz im sinnlich Wahrnehmbaren stand – so ganz darin, daß ihr alles Unsichtbare entschwand – sich plötzlich wieder umzukehren, nun wieder zum Unsichtbaren hin, so sehr, daß sie zuletzt das Sichtbare gar nicht mehr sehen will. Das sind dann die horchenden, ins Schweigen hineinhorchenden Zeiten, denen die Nacht zu reden beginnt. Es ist jetzt gerade hundert Jahre her, da war eine solche Zeit. Und wirklich erinnert Buber sehr an Novalis. Eine so tiefe Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen, in das wir uns verwoben ahnen, eine so bange Sorge um unsere Pflichten, eine so zarte Scheu vor jedem leisesten Unrecht an unserer Seele, wie sein »Daniel« zeigt, ist seit Novalis unter Deutschen nicht mehr vernommen worden.
»Daniel« (im Inselverlag erschienen) nennt Buber seine »Gespräche von der Verwirklichung«; es sind ihrer fünf: eins in den Bergen, das von der Richtung, eins über der Stadt, das von der Wirklichkeit, eins im Garten, das von dem Sinn, eins nach dem Theater, das von der Polarität, und eins am Meer, das von der Einheit handelt, Gespräche von den höchsten Dingen, deren das Irdische teilhaft werden kann. Mir ist das Buch seit Wochen ein lieber Gefährte, so einer, dem man so gern zuhört, weil man dabei sich selbst zu hören meint; und wirklich bleibt es ja unentschieden, ob man nicht, während er spricht mehr auf sich selber horcht und sich nur von seinem Klang angenehm begleiten läßt, wie wenn man im Garten geht und die Blätter rauschen. Dies empfand ich dabei zuweilen selbst und empfand es fast als ein Unrecht an Buber. Aber wenn ich, um es gutzumachen, mich dann zwang, aufzumerken und mir genau den Sinn seiner Reden einzuprägen, statt sie nur immer so rauschen zu lassen, erging es mir oft seltsam. Solange ich jedes Gespräch als Musik auf mich einwirken ließ, schwoll ich von Gedanken. Sobald ich einen einzelnen Satz genau zu befragen unternahm, ward ich irre. Ich mußte manchen erst dreimal, mußte ihn viermal lesen, bevor ich ihn recht zu verstehen begann. Mit meinem Griechisch ist es nicht mehr weit her, aber ich lese noch immer einen Dialog Platos leichter als einen Bubers. Beide muß ich mir erst übersetzen und Plato macht's mir nicht so schwer. Aber warum muß ich mir ein deutsches Buch erst übersetzen müssen?
Ich frage nicht müßig, auch nicht tadelnd. Aber es geht mir nahe, warum ein Schriftsteller, der mir sehr viel zu sagen hat, es mir so sagt, daß ich es mir erst mit anderen Worten sagen muß, um es allmählich verstehen zu lernen. Und einer doch, der ja des Sagens kundig und bloß damit zu spielen durchaus unverdächtig ist!
Ich weiß noch einen, der mich auch zuweilen so fragen läßt: Simmel. Sein Goethe hat mir den stärksten Eindruck gemacht, unter Qualen. Ich las ihn mit heller Freude – zum zweitenmal. Dann freilich mit doppelter Freude: nicht nur an der ganz wunderbaren Architektur des gotisch aufstrebenden Buches, sondern auch darüber, daß ich es jetzt endlich verstand! Bald darauf traf ich einen Freund und schwärmte dem davon vor. Er hatte das Buch auch gelesen, verzog aber den Mund:
»Was findest du daran eigentlich?«
Ich fing an, ihm rasch in großen Zügen den Goethe Simmels aufzubauen.
»Herrlich!« rief er unwillkürlich auf einmal.
Ich mußte lachen:
»Nun also, was streitest du dann?«
Er wurde wütend.
»Was schwindelst du mir denn vor? Von diesem Goethe steht bei Simmel kein Wort!«
Ich holte das Buch und bewies ihm, daß ich nichts hineingelesen hatte, es stand alles deutlich da, wenn man nur erst einmal so weit war, sich darin auszukennen. Da fragte der Freund:
»Jetzt erklär mir aber nur gefälligst, welchen Sinn es haben soll, so bedeutende und bezwingende Gedanken als Rätsel aufzugeben? Wenn du seine Gedanken so ausdrücken kannst, daß ich sie gleich verstehe, warum drückt er sie so aus, daß ich nicht einmal ahne, es könnten Gedanken vorhanden sein?«
Ich frage mich das auch. Gar bei den feierlichen Botschaften, die jetzt Expressionisten oft erlassen! Auch da gelang es mir ja schon, höchste Wut, die solche Verkündigungen gemeiniglich überall entfesseln, sogleich zu beschwören, bloß indem ich den sibyllinischen Spruch in ein deutliches Deutsch übertrug. Wenn Paris von Gütersloh sich vernehmen läßt, klingt's nach den Müttern, und niemand merkt, daß dieser so rein nach dem Rechten strebende Künstler meistens die grundgescheitesten Dinge sagt, nur freilich absurd. Warum?
Ich frage mich das auch und war bisweilen auch schon geneigt, diese Mode der dunklen Rede zu schelten. Bin aber doch dann wieder davon abgekommen und nun freilich allmählich schon ganz irre geworden: ich weiß jetzt gar nicht mehr, wie man Wahrheiten vortragen soll. Dunkle Reden ärgern den Hörer, aber klare hört er gar nicht an oder überhört sie; wird ihm nämlich die Wahrheit zu leicht, zu bequem gemacht, dann achtet er sie wieder nicht. Das gilt besonders vom Deutschen, der ja nichts ernst nimmt, solang er nicht dabei schwitzen muß. So ziemlich alles Gescheite, was seit der Erschaffung der Welt gedacht worden ist, steht in der Farbenlehre, in den Wanderjahren, in Ottiliens Tagebuch; es ist seitdem noch kein neuer Gedanke hinzugekommen. Wer aber macht Gebrauch davon? Das Mächtigste, das Subtilste, Höchstes und Feinstes, ja kaum mehr zu Denkendes, da so zart, so schattenhaft ist, daß es wirklich nur im Vorüberschweben erfühlt werden kann, im Anblick selbst schon wieder Entfliehendes, das dem Ahnenden kaum den Saum eines Schleiers zurückläßt, faßt Goethe still bedächtig an und bindet es ans Wort. In manchen solchen Sätzen scheint die Sprache wirklich oft noch hinter den Gedanken zu dringen, durch ihn hindurch bis an das Urbild selbst, das sie mit leisem Schauder berührt, tief davon erklingend. Wer aber macht Gebrauch davon? Diese Stellen werden gelesen, und es wird über sie hinweg gelesen. Ja der Leser ist höchst erstaunt, wenn man ihm sagt, was sie enthalten. Es ist mir vorgekommen, daß ich einen, der im erregten Gespräch Unausgesprochenes aus Tiefen emporzuwälzen meinte, auf Stellen bei Goethe hinwies, wo das ausgesprochen ist, und – er hat's nicht glauben wollen! Auch wenn ich ihm die Stelle vorlas, noch immer nicht. So lange nicht, bis ich sie Wort für Wort in irgendeinen gelehrten Jargon übertrug. Ich mußte sie ihm erst verdunkeln, um sie ihm klarzumachen. Unser trübes Auge verträgt das volle Licht der Sprache Goethes nicht.
Denn ehrlich gestanden: mir selbst ist es auch schon so gegangen. Auch ich habe Gedanken vermeintlich entdeckt, die ich längst bei Goethe gelesen, aber dort nicht erkannt hatte, offenbar auch, weil sie dort zu sehr im Lichte stehen. So gilt Kant für »schwer«, auch nur weil er zu klar ist: er findet den notwendigen Ausdruck, wir aber sind gewohnt, immer erst einige Zeit gewissermaßen in Gedanken herumgewälzt und erst gründlich durchgeschüttelt zu werden, bevor wir auf das Notwendigste stoßen. Erst als ich mich entschloß, einmal jedes Wort Kants in seinem vollen Sinn zu denken und gar nichts dahinter zu suchen als seinen natürlichen Sinn, diesen aber ganz, da fand ich ihn klar und verstand nun erst, daß er auf Goethe gewirkt hat wie »das Betreten eines hell beleuchteten Raumes«. Es scheint aber, daß wir heute besser im Schatten denken, bei Nebel.
Dann hätte also Buber, hätte Simmel, hätten die Expressionisten ja recht? Dann wäre der mystagogische Dunst uns vielleicht ein unentbehrlicher Behelf? Dann wäre die dunkle Rede notwendig, weil nur in der Finsternis der Leser dann sein eigenes Licht leuchten läßt? Vielleicht. Denn wir sind so falsch erzogen, daß wir erst irgendwie gewaltsam aufgeschreckt werden müssen, um den Sinn der Worte zu vernehmen. Solange uns eine Rede nicht bange macht, horchen wir gar nicht hin. Thema für ein germanisches Seminar: Bangemachen als notwendiges Element der heutigen Schreibart.