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Leute, die seit zwanzig Jahren meinem Urteil über Maler vertrauen, sind jetzt auf einmal wütend auf mich, weil ich auch den Expressionismus zu verstehen trachte, aber das soll ich nicht dürfen! Es ist sehr komisch, wenn auch von einer etwas versalzenen Komik, sie dabei mit genau denselben Argumenten hantieren zu sehen, die vor zwanzig Jahren, als sie noch jung waren, von den Alten gegen sie gebraucht wurden. Sie bemerken nicht, daß nun sie die Alten sind. Ich aber will jung bleiben, wenigstens darin, daß ich noch immer nicht glauben kann, die Welt müsse plötzlich stillstehen. Es ist sonderbar, daß jeder Geschichte bloß bis auf sich selbst gelten lassen will; bloß bis zu seiner Geburt darf sie dauern. Sie scheint vom Anfang an nur den Zweck gehabt zu haben, ihn hervorzubringen; ist aber dieser Zweck erreicht, dann soll sie aufhören. Daß sie noch weiter will, ja gar über ihn hinaus, findet er unverschämt. Und da streiten wir nun, wer von uns eigentlich der Verräter ist. Ich beschuldige sie, ihrer Jugend untreu geworden zu sein: die hat stark ihren eigenen Ausdruck verlangt, und so verlangt jetzt eine neue Zeit wieder den ihren. Und sie beschuldigen mich, den Widersachern des Impressionismus anzuhängen, für den ich eben noch war. Aber ich bin noch immer für ihn. Seine Kunst gilt mir heute noch für den höchsten Ausdruck, den sich der Geist meiner Generation erschaffen hat. Ja für die Vollendung aller klassischen Kunst gilt sie mir. Bloß darin unterscheiden wir uns, daß ich mir nicht denken kann, meine Generation sei die letzte der Menschheit. Wenn aber nach ihr noch eine kommt, so muß diese wieder anders sein. Solange die Menschheit nicht ausstirbt, erneut sie sich, und kein Sohn wird sich je beim Werke des Vaters beruhigen. Der Freitag hat ein anders Pensum als der Donnerstag, sagt Lagarde. Das mußten auch wir uns damals von den Alten erst ertrotzen. Erinnert ihr euch denn gar nicht mehr? Und jetzt kommt eine neue Jugend und fordert wieder dasselbe Recht auf ihr eigenes Pensum. Ihr aber wollt, ganz wie damals jene, daß es immer Donnerstag bleibe. Jede Generation, scheint's, will ihren eigenen Augenblick verewigen. Und so steht ihr jetzt ebenso vor der Jugend wie damals das Alter vor euch und bringt selber wieder eben die nämlichen Dummheiten gegen sie vor, die euch damals an den Alten so erbitterten. Keine fehlt. Sogar, wenn ihr schließlich gar nichts anderes mehr wißt, die läppische Verleumdung nicht, es sei den Jungen ja nicht »ernst«, sondern bloß darum zu tun, aufzufallen um jeden Preis, den Bürger zu verblüffen, Ärgernis zu geben, sie seien nicht einmal Narren, sie seien Schwindler.
Es gibt in der Kunst stets auch Schwindler. Vielleicht mehr als Künstler. Wer den Begriff weit genug und die Forderung der Echtheit sehr strenge nimmt, kann mit einem gewissen Schein von Recht auch Praxiteles einen Schwindler zu nennen wagen, und wenn man ihn etwa an der Innerlichkeit Botticellis oder Grecos mißt, auch Raffael. Ja der richtige Puritaner der Kunst könnte finden, daß, wer überhaupt Inneres äußert, immer schon bis zu einem gewissen Grade »schwindeln« muß. Und so wird das wohl auch unter Impressionisten ja zuweilen vorgekommen sein. Keine Schule, keine Richtung ist davor sicher, in allen wird geschwindelt, aus Eitelkeit, aus Bequemlichkeit, aus Prahlerei, aus Übermut, ja oft auch aus einer Art Schadenfreude. Ich weiß nicht einmal, ob überhaupt irgend ein Künstler jemals ganz davor sicher war. Keiner ist immer in der Fülle. Den erhabenen Stunden folgen Ermattungen, Versagungen. Die schaffende Kraft tröpfelt dann nur, da hilft er ihr denn ein bißchen nach. Es ist auch gar nicht ausgemacht, daß er nicht recht hat, ein bißchen nachzuhelfen, ein bißchen zu schwindeln. Goethe hat nie geschwindelt, fast nie. Wenn es bloß tröpfelte, ließ er es eben bloß tröpfeln, unverhohlen. Es wäre zuweilen aber vielleicht gar nicht schlecht gewesen, wenn er lieber ein bißchen geschwindelt hätte. Es wäre für das Werk gewiß oft besser gewesen. Und man muß schon Goethe sein, um sein eigenes Werk so gering achten zu dürfen, daß einem wichtiger ist, nur sich selber stets ganz rein zu halten; den mittleren und gar den kleinen Künstlern geht das Werk vor, um seinetwillen fälschen sie sich und machen mehr aus sich, als sie sind, oder doch mehr, als sie gerade jetzt sind, mehr, als ihnen der Augenblick gibt. Ja je länger man darüber nachdenkt, was denn eigentlich in der Kunst schwindeln heißt, je strenger man die Frage nach der Gesinnung des Künstlers stellt, desto problematischer wird alles.
Zunächst ist es einmal gewiß, daß höchstens der Künstler selber sagen kann, ob er geschwindelt hat, und wo. Auch der Künstler selbst wird es nicht immer sagen können. Und wenn er es sagen kann, ist es unwichtig; denn wenn es ihm nur erst einmal bewußt wird, daß er schwindelt, leidet er ja viel weniger daran, als wenn er unbewußt schwindelt. Sehr oft aber sieht wie geschwindelt aus, was vielmehr Hilflosigkeit ist, und zwar eine Hilflosigkeit aus innerem Überschuß. Arme Künstler haben es selten nötig: aber wen die Fülle der inneren Forderungen überdrängt, der kann sich in der Hast, alles zu fassen, in der Angst, nur ja nichts zu verlieren, vor lauter Empfindung bisweilen bloß mit einer Verworrenheit helfen, und es wirkt dann als Flüchtigkeit, was Flucht ist: Flucht vor dem zu reichen Segen; es wirkt als Untüchtigkeit, was gerade die reinste Gesinnung ist, die sich nichts, aber auch gar nichts schuldig bleiben will. Das kann kaum der Künstler selbst seinem eigenen Werk ansehen. Wie will es erst ein anderer, von außen? Jedoch die Frage geht noch tiefer; es muß nämlich erst auch noch untersucht werden, ob wir nicht überhaupt, was das Kunstwerk betrifft, die Gesinnung des Künstlers überschätzen. Der andächtige Künstler ist uns wert, er verdient es auch menschlich. Dürfen wir aber deshalb auch das Werk nach der Andacht seines Künstlers bewerten? Es gibt nichts Andächtigeres als Hausmusik, wie Dilettanten sie noch in kleinen Städten pflegen; Beethoven wird da mit Tränen in den Augen gespielt. Der Virtuose, der in der großen Stadt konzertiert, weint höchstens über die Konkurrenz. Jene haben gewiß die reinere Gesinnung, aber dieser hat die besseren Finger. Es gibt weihevolle Schauspieler, denen aber die Rührung im Halse stecken bleibt, und Windhunde, die, während ihr leidumflorter Blick den Zuschauer unten betörend entrückt, sich damit unterhalten, ihren Partner oben, gar wenn es einer von den weihevollen ist, mit Witzen aus dem Text zu bringen. Ich möchte wetten, Liebermann hat sein ganzes Leben noch nichts von der Ergriffenheit gespürt, mit der irgendein ungeschicktes Mädl Blumen für die Großmama, die bange Braut ein Kissen, »Nur ein Viertelstündchen!«, für den Geliebten stickt. Wer ist nun der Echte: der Beethoven beweinende Dilettant oder der Virtuose, der dabei schon an die Abrechnung mit dem Agenten denkt, der Weihevolle oder der Windhund, die Braut oder Liebermann? Was ist überhaupt »echt«? Und wann hat der Künstler echt zu sein? Im fruchtbaren Augenblick des ersten Einfalls oder in den langen Stunden der Ausführung? Aber wo hört denn der Einfall auf, wann wird er zur Ausführung, und muß die Ausführung nicht immer wieder von neuem zum Einfall werden?
Wir sind immer schon mißtrauisch, wenn ein Künstler auf einen äußeren Anlaß hin schafft. Aber Goethe, der Dichter der Gelegenheit –? Es widerstrebt uns, daß ein Künstler auf Bestellung schafft. Aber Raffael und Michelangelo, Greco und Velasquez, Rubens und van Dyck haben auf Bestellung geschaffen! Mit der Echtheit wird heute eine schreckliche Verlogenheit getrieben. Wir sind ja schon so weit, es dem Künstler zu verdenken, wenn er sich überhaupt etwas vornimmt. Ganz unbewußt wollen wir ihn, nachtwandelnd, von Gesichten überfallen; nur den Rauschkünstler, den Traumkünstler, den Wahnkünstler wollen wir! Aber der Rausch-, Wahn- und Traumkünstler Wagner, in so vielen Hoffnungen getäuscht, müde, bloß immer »stumme Partituren« zu schreiben, in seiner Verzweiflung fast daran, sich aufzugeben, entschloß sich eines Tages, mitten in der Arbeit am Ring, lieber einmal eine »Oper für die Italiener« zu machen, ein »leichter und eher aufführbares Werk zu liefern« und – es wurde der Tristan daraus. Was daraus wird, entscheidet. Was der Künstler bewußt »liefern« will, ist gleichgültig, wenn dann der Tristan daraus wird. Es kommt offenbar nicht so sehr darauf an, die rechte Gesinnung zu haben, als eine Kraft, der auch eine schlechte Gesinnung nichts anhaben kann.
Vor dem Zulauf der Anschmecker, der immer Aufgeregten, der Lüsternen, kann sich der Expressionismus so wenig schützen, als es der Impressionismus konnte. Sie sind überall dabei, das bleibt keinem erspart. Die Prüfung zu bestehen, muß er stark genug sein. Warum aber laufen sie jetzt dem Expressionismus zu, und nicht mehr dem Impressionismus? Sie sind unerfreulich, doch eins haben sie: sie wittern die Zeit, sie spüren es in den Knochen, wenn das Wetter umschlägt. Und Freunde, das Wetter schlägt um, der Mensch schlägt wieder einmal um: er stand lange nach außen, jetzt kehrt er sich wieder nach innen. Ihr möchtet euch einreden, es sei bloß eine Mode. Das scheint es in den großen Städten nur. In den großen Städten erscheint alles zunächst als Mode. Aber seht euch die Jugend im tiefen Deutschland an, die von keinen Moden weiß! Es ist noch gar nicht lange her, da kam ich in eine ganz kleine deutsche Stadt, und bei mir erschien ein junges Mädchen mit der Bitte, mir ihre Bilder zeigen zu dürfen. Sie sei keine Malerin von Beruf, sie male nur aus Lust, die Eltern hätten auch eigentlich nichts dagegen; aber was sie male, das empöre die ganze Verwandtschaft so, daß der Vater nun darauf dringe, eine so beschämende, sie selbst und die ganze Familie nur dem Gelächter preisgebende Beschäftigung einzustellen; es sei denn, daß sie verspreche, fortan vernünftig zu malen, was sie doch aber nicht könne; denn sie könne beim besten Willen nicht anders malen und so wünsche sie, schon an sich ganz irre geworden, ja fast verzweifelnd, einmal von einem Fremden zu hören, ob sie denn wirklich wahnsinnig sei! Ich kam in ihr Atelier, und es war mir seltsam, in dieser fernen kleinen Stadt im Osten plötzlich wie mitten in Paris zu sein: die junge Dame malte Matisse, ja fast bis zu Picasso hin. Sie war niemals aus ihrer Heimat fort gewesen, sie kannte die neue Malerei bloß aus Kunstzeitschriften. Sie machte sich gar keine besonderen Gedanken darüber, sie hatte nicht vor, modern zu malen. Sie malte, wie sie malen mußte, sie konnte nicht anders. Sie hätte so gern den Eltern zuliebe gemalt, es gelang ihr aber nicht, zu ihrer hellen Verzweiflung. Da sprach ich ihr Trost zu. Zwar stehe mir kein Urteil über ihr Können zu, dies eine jedoch wüßte ich: ein Maler ist, wer malen muß, nicht anders malen kann, als er malt, und sich dafür, wie er malt, hängen zu lassen bereit ist. Ja das sei sie, sagte sie, mit einem wehmütigen Lächeln. Dieses Lächeln kann ich nicht vergessen. Daß einer in der großen Stadt alles versucht, um aufzufallen, Lärm zu schlagen, Widerspruch, Spott, Erbitterung und dadurch Aufsehen zu erregen, daß er deshalb schließlich nur um jeden Preis ganz anders malt, als bisher je gemalt worden ist, und daß er also auf den Einfall kommt, den Impressionismus einfach einmal umzudrehen, das wäre diesem ungefährlich. Aber dieses liebe stille Menschenkind im Norden, das ja mit seiner Malerei gar nichts will, das bloß für sich malt, das nicht an Ruhm und Reichtum denkt! Es hätte vor zwanzig Jahren impressionistisch malen müssen. Heute muß es expressionistisch malen, es muß.
Warum? Das überlegt einmal, Freunde! Dann werdet ihr den Expressionismus erkennen.