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Alle Geschichte der Malerei ist immer Geschichte des Sehens. Die Technik verändert sich erst, wenn sich das Sehen verändert hat. Sie verändert sich nur, weil sich das Sehen verändert hat. Sie verändert sich, um den Veränderungen des Sehens nachzukommen. Das Sehen aber verändert sich mit der Beziehung des Menschen zur Welt. Wie der Mensch zur Welt steht, so sieht er sie. Alle Geschichte der Malerei ist deshalb auch Geschichte der Philosophie, besonders der ungeschriebenen.
Sehen ist zugleich ein Leiden und ein Handeln des Menschen. Je nachdem er sich dabei mehr leidend oder mehr handelnd verhält, passiv oder aktiv, je nachdem er entweder möglichst rein empfangen oder es möglichst stark erwidern will, verändert sich das Sehen, verändert sich das Bild. Immer besteht Sehen aus zwei Tätigkeiten, einer äußeren und einer inneren, einer, die dem Menschen angetan wird, und einer, die dann der Mensch ihr antut. Damit wir sehen, muß zunächst draußen etwas geschehen; das muß auf uns eindringen, ein Reiz muß uns treffen. Aber kaum trifft er uns, so antworten wir. Erst antwortet das Auge. Es erleidet den Reiz nicht bloß, es empfängt ihn nicht bloß, es läßt ihn nicht bloß geschehen, sondern gleich wird es selber an ihm tätig; es nimmt ihn auf, es meldet ihn uns an, gibt ihn weiter und schickt ihn unserem Denken zu: der Reiz wird zur Empfindung, die Empfindung wird bewußt und in unser Denken eingefügt. Schon Plato wußte, daß das Auge den Reiz nicht untätig erleidet, sondern ihn gleich sozusagen pariert; er spricht (im Timaeus) von einem Feuer, das dem Auge entströmt. Und Goethe hat immer wieder auf die »Selbsttätigkeit« des Auges, das »Eigenleben« des Auges, auf seine »Gegenwirkungen gegen das Äußere, Sichtbare«, auf das »Ergreifen der Gegenstände mit dem Auge« hingewiesen. Wenn uns der Reiz bewußt wird, hat ihn das Auge schon umgeformt; er trägt schon unser Zeichen, er gehört schon halb uns an. Und kaum ist er apperzipiert, so macht sich jetzt unser Denken über ihn her. Goethe hat gesagt, daß wir »schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren«. Denn solange wir, was wir sehen, noch nicht bedacht haben, erblicken wir es garnicht. Erblicken ist immer schon ein Erkennen. Bloß der Reiz, der vom Auge dem Denken übergeben, vom Denken aufgenommen und ins Denken eingefügt wird, wird Gestalt. Wir sind es, die ihn gestalten. Wenn wir einen Baum sehen, haben stets wir ihn erdacht. Zum Baum wird er erst durch unser Denken. Es wäre sonst eine Farbenempfindung geblieben. Solange ich den äußeren Reiz des Baumes nicht bedenke, wird er mir höchstens allenfalls als ein grüner Fleck bewußt, den zunächst auch mein Auge selbst, ohne daß ein äußerer Anlaß notwendig wäre, hervorgebracht haben könnte. Ich muß das Grün erst bedenken, um gewiß zu werden, daß ich genötigt bin, einen äußeren Reiz dazu anzunehmen; ich muß auf ihn erst des Menschen »ureigensten Begriff« der Ursache anwenden, ich muß ihn einordnen, ich muß ihn aus meiner Erfahrung ergänzen: dann erst weiß ich, was der grüne Fleck ist, und erst, daß ich das weiß, verhilft mir dazu, daß ich nicht bloß einen grünen Fleck sehe, sondern ihn mir schließlich nach diesem so langen Verfahren als einen Baum, ja wohl gar als Eiche, Tanne, Buche deuten kann.
Zwei Kräfte wirken aufeinander ein, eine äußere und unsere innere, jede uns im Grunde gleich unbekannt. Allein genügt keine. Durch beide zusammen entsteht die Erscheinung erst. Sie ist für jeden eine andere, je nachdem sein eigener Anteil stärker oder schwächer ist, die Selbsttätigkeit seines Auges, der Grad seiner Aufmerksamkeit, das Maß seiner Erfahrung, die Kraft seines Denkens, der Umfang seines Wissens. Wenn eine dieser Bedingungen sich verändert, muß sich mit ihr auch jede Erscheinung verändern. Meistens ist sich der Mensch dieser Bedingungen ja gar nicht bewußt. Aber es kann auch geschehen, daß er sie stark empfindet, und dann kann es geschehen, daß er sie verändern will. Sobald er inne wird, daß sein Sehen immer die Wirkung einer äußeren und seiner inneren Kraft ist, kommt es darauf an, wem er mehr traut, der äußeren Welt oder sich selbst. Denn danach bestimmt sich ja schließlich alles menschliche Verhältnis. Sobald er einmal so weit ist, daß er sich und die Welt unterscheiden lernt, daß er Ich und Du sagt, daß er Äußeres und Inneres trennt, hat er nur die Wahl, entweder vor der Welt in sich selbst oder aber aus sich selbst in die Welt zu flüchten oder schließlich sich an der Grenze zwischen beiden zu halten; das sind die drei Stellungen des Menschen zur Erscheinung.
Wenn er in Urzeiten zum erstenmal erwacht, erschrickt er vor der Welt. Damit er zu sich kommen und sich empfinden kann, muß er sich erst einmal der Natur entrissen haben, und dies bleibt nun in seiner Erinnerung wach: Los von der Natur! Er haßt sie, er fürchtet sie, sie ist stärker als er, er kann sich vor ihr nur retten, indem er sie flieht, sonst wird sie ihn wieder verschlingen. Er flieht vor ihr in sich selbst. Daß er den Mut hat, sich von ihr zu trennen und ihr zu trotzen, das beweist ihm, daß in ihm eine geheime Kraft sein muß. Der vertraut er sich an. Aus sich holt er seinen Gott und stellt ihn der Natur entgegen. Eine Macht muß sein, stärker als er, doch stärker auch als die Welt. Über ihm und über ihr thront sie, kann ihn vernichten, aber kann ihn auch schützen gegen sie. Wenn sein Opfer den Gott gnädig stimmt, bannt es die Schrecken der Natur. So zieht der Urmensch einen Zauberkreis von Andacht um sich und steckt ihn mit den Zeichen seines Gottes ab: die Kunst beginnt, ein Versuch des Menschen, den Zwang der Erscheinung zu brechen, indem er sein Inneres erscheinen läßt; er schafft in die Welt hinein eine neue, die ihm gehört und ihm gehorcht. Schreckt ihn jene durch die rasende Flucht, in der Erscheinung um Erscheinung alle seine Sinne – bald das Auge, bald das Ohr, die tastende Hand und den schreitenden Fuß – ängstigen und verwirren, so beschwichtigt und ermutigt ihn diese durch die Stille, das Maß und den Gleichklang ihrer starren unwirklichen, sich ewig wiederholenden Formen; im primitiven Ornament ist der Wechsel durch die Ruhe, der Augenschein durch das Gedankenbild, die äußere Welt durch den inneren Menschen überwunden. Und wenn ihn die Wirklichkeit durch ihre Tiefe verstört dadurch, daß er sie sich nicht ertasten kann, daß sie weiter reicht, als er greifen kann, daß immer hinter allem noch ein anderes und immer wieder etwas droht, so befreit ihn die Kunst, indem sie die Erscheinung aus der Tiefe holt und sie in die Fläche setzt. Der Urmensch sieht Linien, Kreise, Quadrate, und sieht alles flach. Beides aus demselben inneren Bedürfnis, die drohende Natur von sich abzuwenden. Sein Sehen hat immer Angst, überwältigt zu werden, und so verteidigt es sich gleich, es leistet Widerstand, es schlägt zurück. Jeder äußere Reiz alarmiert sogleich den inneren Sinn, der immer bereit steht, niemals die Natur einläßt, sondern sie Stück für Stück aus der Flucht der Erscheinungen reißt, aus der Tiefe in die Fläche bannt, entwirklicht und vermenschlicht, bis ihr Chaos von seiner Ordnung bezwungen ist.
Jedoch nicht bloß des Urmenschen Sehen ist ein solches entschlossen abwehrendes Handeln auf jeden erlittenen Reiz hin, wir finden es auch auf einer Höhe der Menschheit wieder: im Orient. Dort hat der reife Mensch die Natur überwunden, die Erscheinung ist durchschaut und als Schein erkannt, und wen das Auge trügerisch in diesen Wahn verlocken will, den lehrt Erkenntnis widerstehen. Im Morgenland ist alles Sehen durch einen Zug erkennenden Mitleids gedämpft, und wohin der Weise schaut, erblickt er nur, was er weiß: das Auge nimmt den äußern Reiz auf, aber bloß, um ihn gleich zu entlarven. Alles Sehen ist dort ein Absehen von der Natur. Wir mit unseren Augen sind unfähig, uns das auch nur vorzustellen. Denn wir sehen ja, soweit der Kreis unserer Gesittung reicht, jetzt alle noch immer mit den Augen der Griechen. Die Griechen haben den Menschen umgekehrt: er stand gegen die Natur, sie wenden ihn zur Natur hin, er verbarg sich vor ihr, sie lehren ihn sich ihr anvertrauen, er geht in sie, sie nimmt ihn auf, er wird eins mit ihr. Es muß ein ungeheurer Augenblick gewesen sein. Wir haben noch Zeugen davon. In München steht der Apoll von Tenea, im British Museum sind, im Mykenischen Saal, Gefährten von ihm, und das erste Zimmer des Athenischen Nationalmuseums ist ihrer voll. Götterbilder der uralten Art sind es, auferbaut aus Furcht der Menschen, zum Schutze vor der äußeren Welt, als beruhigende Zeichen der inneren. Aber indem ein junges Geschlecht nun den ererbten Gott in der Väter Art nachzubilden strebt, regt sich unversehens ein neuer Sinn in ihm, es wird ihr untreu und die Hand, die das alte Bild des Gottes nachformen soll, läßt sich verlocken: sie holt den Gott nicht mehr aus dem Abgrund der Menschenbrust, sie sucht ihn draußen, Natur dringt ein, er belebt sich, hier löst sich ein Arm ab, dort wird die Schulter frei, das Starre regt sich, er erwacht, es ist kein Gott mehr, er ist ein Mensch geworden und der Mensch wird mit ihm Natur. Im Griechen verständigt sich der Mensch mit der Natur, sie verliert ihre Schrecken für ihn; er macht seinen Frieden mit ihr und indem er sich ihr hinzugeben wagt, hofft er, sie zu beherrschen. Die Götter ziehen auf das Feld und in den Wald ein, im geometrischen Ornament erblüht die Pflanze, regt sich das Tier; Gott und Mensch und Tier vermischen sich, alles wird eins. Es entsteht der klassische Mensch, der, nach Goethes Wort, »sich eins weiß mit der Welt und deshalb die objektive Außenwelt nicht als etwas Fremdartiges empfindet, das zu der inneren Welt des Menschen hinzutritt, sondern in ihr die antwortenden Gegenbilder zu den eigenen Empfindungen erkennt«. Alle Geschichte des Abendlandes entwickelt seitdem bloß immer noch diesen klassischen Menschen. Immer tauchen zuweilen Erinnerungen der Urzeit wieder auf und drohen warnend der klassischen Entwicklung; sie bleibt stärker. Und das Christentum kommt, mit seinem tiefen Argwohn gegen die Natur, mit seiner beseligenden Botschaft einer übernatürlichen Heimat; der klassische Mensch behauptet sich. Die abendländische Menschheit hat seinen Blick behalten, ja sie bildet den klassischen Blick nur immer noch aus. Es ist der Blick des Vertrauens zur Natur. Der Mensch kehrt sich immer mehr von seinem Inneren ab und nach außen. Er wird immer mehr Auge. Und das Auge wird immer mehr empfangend, immer weniger handelnd. Das Auge hat gar keinen eigenen Willen mehr, es verliert sich an den Reiz, bis es zuletzt ein völliges Passivum wird, nichts mehr als ein reines Echo der Natur. Goethe hat noch gefragt: »Was ist Beschauen ohne Denken?« Wir haben es seitdem erlebt. Wir könnten auf seine Frage jetzt antworten und ihm sagen, was es ist: Impressionismus.
In der Tat ist der Impressionist die Vollendung des klassischen Menschen. Der Impressionist sucht im Sehen, soweit dies nur irgend möglich ist, alles auszuscheiden, was der Mensch aus Eigenem dem äußeren Reiz hinzufügt. Der Impressionist ist ein Versuch, vom Menschen nichts als die Netzhaut übrig zu lassen. Man pflegt den Impressionisten nachzusagen, daß sie kein Bild »ausführen«. Richtiger wäre zu sagen: sie führen das Sehen nicht aus. Der Impressionist läßt den Anteil des Menschen an der Erscheinung weg, aus Angst, sie zu fälschen. Jeder aufmerksame Blick »theoretisiert« ja schon, er enthält nicht mehr bloß den einen Reiz, er enthält mehr, er enthält einen menschlichen Zusatz, und der Impressionist mißtraut dem Menschen, wie der Urmensch der Natur mißtraut. So will der Impressionist die Natur überraschen, bevor sie noch vermenschlicht worden ist, er geht an den ersten Anbeginn des Sehens zurück, er will den Reiz bei seinem Eintritt in uns erhaschen, eben wenn er uns reizt, eben während er Empfindung wird. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«, hat Kant gesagt. Erst wenn jene äußere Kraft sich mit unserer inneren Kraft berührt, entsteht Erscheinung, und diesen Augenblick der ersten Berührung, das Entstehen der Erscheinung, will der Impressionist ergreifen, wenn der Reiz, den wir erleiden, unsere Tätigkeit alarmiert, und bevor unsere aufgeschreckte Tätigkeit noch auf ihn eingewirkt und ihn umgeformt hat. Einen Moment früher und die Anschauung wäre noch blind. Sie wird erst sehend, wenn unser Denken sie anhaucht. Einen Moment später, und sie wäre nicht mehr rein. Eben in dem Moment, wo die Anschauung sehend wird, in dem wir ihr den Star stechen, fängt sie der Impressionist ab. Schopenhauer sagt: »Unter allen Sinnen ist das Gesicht der feinsten und mannigfaltigsten Eindrücke von außen fähig: dennoch kann es an sich bloß Empfindung geben, welche erst durch Anwendung des Verstandes auf dieselbe zur Anschauung wird. Könnte jemand, der vor einer schönen weiten Aussicht steht, auf einen Augenblick alles Verstandes beraubt werden, so würde ihm von der ganzen Aussicht nichts übrigbleiben als die Empfindung einer sehr mannigfaltigen Affektion seiner Retina, den vielerlei Farbenflecken auf einer Malerpalette ähnlich – welche gleichsam der rohe Stoff ist, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf.« Impressionistisches Sehen läßt sich garnicht besser schildern. Es ist das Sehen einer Zeit, die den Sinnen allein vertraut, an allen anderen Kräften des Menschen aber irre geworden ist; sie hält sich an Goethes Wort: »Die Sinne trügen nicht, der Verstand trügt.« Ihr sind Mensch und Welt völlig eins geworden. Es gibt für sie nichts als Sinnesempfindungen. Wer zu diesem Zusammenhang von Sinnesempfindungen nur auch noch einen Träger zu fordern wagt und daraus auf ein Ich schließt, scheint ihr schon Mythologie zu treiben. »Das Ich ist unrettbar«, hat ihr schärfster Denker gesagt, Ernst Mach. Das Ich ist ihr verschwunden, mit ihm aber eigentlich auch die Welt. Es bleibt nichts als der Sinnenschein von Empfindungen. Zu diesem eine Ursache, ja gar zwei, durch deren Begegnung er entstehe, anzunehmen, ist ihr auch schon wieder eine Anmaßung des Verstandes, die sich nicht rechtfertigen läßt. Sie löst erst den Menschen ganz in Natur auf und merkt am Ende, daß damit auch Natur selbst aufgelöst wird. Und wieder spricht Goethe: »Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.« Der Impressionist, den Weg des Griechen unerschrocken bis ans Ende gehend, versucht die Erscheinung vom Beobachter loszulösen. Der Schluß ist: es erlöschen dann beide.
In jenen Worten Goethes von der in die Individualität des Beobachters verschlungenen Erscheinung ist die dritte Stellung des Menschen zur Welt enthalten. Sie wird möglich, wenn der Mensch sich als Natur, aber nicht bloß als Natur fühlt, sondern als ein Zwischenwesen zweier Reiche, aus deren Wirkung aufeinander er entsteht und besteht. Er kehrt sich dann der Welt zu, gibt sich ihr vertrauend hin, läßt sie vertrauend zu sich ein, aber nicht ohne gleich immer aus sich auf sie zu antworten und ihrer Kraft mit seiner entgegenzuwirken. Er verhält sich zu ihr weiblich und männlich zugleich, empfangend und zeugend. Er erleidet sie und gestaltet sie. Sobald des Urmenschen Furcht vor der äußeren Natur einmal überwunden und solange dann der Mensch noch nicht durch Enttäuschungen seines Übermutes an seiner inneren Kraft irre geworden ist, bleibt dies das Verhältnis aller ungestörten Menschen. Unwillkürlich atmen sie die Welt ein und atmen sie, durch ihren Hauch umgeformt, dann wieder aus, freilich ohne sich bewußt zu werden, daß, was sie die äußere Welt nennen, von ihnen erst selbst mit der Welt erzeugt worden ist. Es ist sehr merkwürdig, daß, was praktisch jeder Mensch trifft, theoretisch zu begreifen solche Schwierigkeiten macht. Von allen Griechen hat es nur Plato gewußt, unser deutscher Meister Eckart ringt damit, erst Kant hat es klar ausgesprochen, bewußt erlebt hat es am reinsten Goethe. »Alle, die ausschließlich die Erfahrung anpreisen, bedenken nicht, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist –« so wehrt er allen Impressionismus des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst von sich ab und weiß sich doch ebenso vor allem Expressionismus (der wieder die äußere Welt mit des Menschen innerer Kraft vergewaltigen will) durch sein stillbeglücktes Vertrauen zu den Sinnen zu bewahren. Der gewöhnliche Mensch hat ja auch, wenn auch bloß in seiner dumpfen Art, ein Sehen, worin die Wirkung der äußeren Kraft mit der Gegenwirkung unserer inneren Kraft, der äußere Reiz mit unserer inneren Antwort ausgeglichen ist. Der gewöhnliche Mensch sieht meistens richtiger als der Künstler. Künstlerisches Sehen wird fast immer zunächst mit einem Verlust an richtigem Sehen erkauft; dieses stellt sich auf der höchsten Stufe erst wieder her. Künstlerisches Sehen beruht auf einer inneren Entscheidung: die Augen des Leibes geraten (um noch einmal Goethisch zu sprechen) an die Augen des Geistes, und wie der Künstler diesen Streit austrägt, dadurch allein wird er erst eigentlich zum Künstler. Aber wie viele haben ihn denn jemals völlig ausgetragen? Ausgetragen und dann noch weiter gemalt, da doch dann, wenn der Streit ausgetragen, erst der Anfang ihrer Kunst erreicht wäre! So versteht man auch vielleicht das schaurige Wort jenes japanischen Malers, der sagte, das man erst mit neunzig Jahren ahnen könne, was man zu gestalten vermag. In die Mitte zwischen Impressionismus und Expressionismus zu kommen, zum vollen Sehen, das weder den Menschen durch die Natur noch die Natur durch den Menschen vergewaltigt, sondern beiden ihr Recht läßt, Naturwerk und Menschentat zugleich, gelingt dem Künstler noch am ehesten entweder in Zeiten, die, in der einen Einseitigkeit aufgewachsen, plötzlich heftig von der anderen überfallen werden (Grünewald, Dürer, Cézanne), oder wenn einer sehr eigensinnigen Zeit der Eigensinn des Künstlers gleich stark widerstrebt (Greco, Rembrandt).
Dem Leser, der es nicht schon bemerkt hat, will ich noch ausdrücklich sagen, daß ich viel von meinen Ansichten unserem verstorbenen großen Forscher Alois Riegl, besonders aber Wilhelm Worringers Schriften »Abstraktion und Einfühlung« und »Formprobleme der Gotik« verdanke und daß Chamberlains Goethebuch erst mich Goethe aus Kant verstehen gelernt hat.