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Diese Schrift hat sich gewissermaßen selbst geschrieben. Es erging mir seltsam mit ihr. Ich hatte sie nicht vor und staune noch, wie sie mich auf einmal überkam.
Ich spreche seit Jahren gern in Danzig. Diese Menschen sind mir lieb geworden. Sie hören gut zu und bringen dem Redner etwas entgegen, das ihn produktiver macht, als er in gemeinen Stunden ist. Ihre Teilnahme steigert ihn, ihre Gunst holt alle Kraft aus ihm heraus, und indem er sie, so leicht sie sich bewegen, so gern sie sich verlocken lassen, dabei doch kritisch aufmerksam, ja beim ersten Anlaß gleich zum Spott bereit merkt, muß er auf der Hut sein, nimmt sich zusammen und übertrifft sich selbst. Es ist mir dort geschehen, daß ich bei Vorträgen, die mir längst geläufig, ja durch Übung und Gewohnheit schon fast mechanisch geworden waren, Wendungen, Einfälle, Lebendigkeiten fand, die ich mir gar nicht anmaßen durfte, sondern, fast mit Neid, eigentlich diesen Zuhörern und ihrer geheimnisvoll mich belebenden Kraft zusprechen mußte. Darum ist es mir auch, wenn ich einen Vortrag zum erstenmal halten soll, in Danzig am liebsten. Wenn ich nämlich über etwas zum erstenmal spreche, weiß ich zwar ein und aus, ich weiß, woher und wohin, ich weiß, was ich sagen will, und auch ungefähr wie, doch liegt das alles höchst ungewiß im Schatten, es ist noch ganz ungestalt, und gar nicht weiß ich, wieviel sich davon ergreifen, festhalten, gar aber formen lassen wird. Ich bin selber immer sehr neugierig. Wenn ich nämlich nichts sage, als was ich vom Anfang an sagen will, das genügt mir nicht, sondern es muß, indem ich spreche, noch etwas dazu kommen, was mich selber überrascht, ja mir oft im ersten Augenblick gar nicht recht geheuer ist, bis es sich dann auf einmal doch als eben das zu erkennen gibt, worauf ich insgeheim immer schon aus war; in guten Gesprächen geht's einem ja auch so: bloß dadurch, daß man einen Zuhörer hat, findet man dann, was man immer schon gesucht, aber vergeblich, solang man mit sich allein war. Nur muß der Zuhörer auch danach sein. In Danzig ist er es mir.
Nun bot mir Stadtrat Goeritz, der Leiter des Vereins, in dem ich immer spreche, das letzte Mal an, mich jetzt einmal über die neueste Kunst auszulassen; über Expressionismus, Kubismus, Futurismus. Goeritz, der selbst einen ganz entschiedenen Geschmack, ein ganz zuverlässiges Kunstgefühl hat, sich also sicher weiß, kann es sich erlauben, auf alles einzugehen, ohne Angst, dadurch verwirrt zu werden. Und seine Leute stehen in einer starken Überlieferung so fest, daß er auch für sie nichts zu fürchten hat; die bläst so bald kein Wind um, woher er auch kommen mag. Den Stadtrat scheint's eher zu freuen, wenn er sie von Zeit zu Zeit einmal gehörig aufschütteln und zerzausen kann. Es ist ein gut versicherter Menschenschlag, dem man getrost zumuten darf, was ungewissen Geistern vielleicht gefährlich würde. Sie haben einen vortrefflichen Magen, sie werden auch den Futurismus verdauen! Und mein Goeritz hält darauf, seine Stadt mit allem zu versehen, was gut und teuer ist; es soll keiner erst nach Berlin fahren müssen, um das Neueste zu haben. So sprach er mir Mut zu, mich ja nicht zu schonen, und ich sah seinen munteren klugen Augen das Vergnügen an, einen solchen Sauerteig an mir zu haben. Als ich ihm aber zugesagt hatte, fiel es schwer auf mich, denn ich mußte ja jetzt vor allem erst einmal darüber nachdenken, wie ich denn eigentlich selbst vom Expressionismus denke. Mit dem Impressionismus bin ich aufgewachsen. Ich war Impressionist, bevor ich einen kannte. Wenn ich mich dann für den Impressionismus schlug, war es für mein eigenes Leben. Und als ich ihn nun plötzlich aber nicht mehr von den Alten, sondern von einer neuen Jugend bedroht sah, das mahnte mich daran, daß es Abend für uns wird. Ich schloß daraus zunächst nur, es sei Zeit, daß ich mit Anstand alt werden lerne. Die mit mir jung gewesen waren, wollten das aber nicht, und es verdroß mich, sie gegen die Jugend nun selbst wieder genau so töricht und ungerecht zu sehen, wie vor dreißig Jahren die Alten gegen uns. Ich schämte mich für uns alle. Die Folge war zunächst, daß ich vermied, Expressionisten zu begegnen. Mir scheint, ich hatte fast Angst, am Ende vor ihnen auch so dumm zu sein wie meine Freunde. Doch überwand ich das allmählich wieder und sagte mir: Du mußt dich darein finden lernen, daß du jetzt nicht mehr mitzutun hast, neue Menschen sind da, sie bringen der Zeit, was sie braucht; immerhin aber kannst du dir es ja ansehen! So tat ich, verstand nicht alles an ihnen, fand aber nichts, was mich erzürnt hätte: ich sah großen Willen mit reiner Leidenschaft am Werk und hatte, wenn ich es mir auch nicht immer ausdeuten konnte, doch ein starkes Gefühl schönster Verheißungen. Weiter war ich eigentlich noch gar nicht, als ich damals nachzudenken begann, was ich den Danzigern sagen sollte. Genügt denn das aber nicht? Muß denn alles gleich »erklärt« werden? Ja kann Kunst überhaupt »erklärt« werden? Was geht es meine Danziger schließlich an, ob mir der Expressionismus gefällt oder mißfällt und aus welchen Gründen? Welchen Sinn hat es, für eine Kunst zu werben oder vor einer Kunst zu warnen? Hat es überhaupt einen Sinn, daß man über eine Kunst urteilt? Ich will den Danzigern lieber einfach zeigen, in welcher merkwürdigen Situation sich der ratlose Kunstfreund heute sieht, wie diese neueste Kunst auf ihn wirkt, was ihn an ihr empört, warum er sich und was er von ihr bedroht glaubt, und was sie will, warum sie das will und ob sie damit nicht vielleicht etwas will, was jetzt gewollt werden muß, ja vielleicht etwas, was längst schon gewollt worden ist, so daß in diesem Allerneuesten vielleicht Allerältestes der Menschheit wieder erkannt werden könnte. Diese Fragen hatten sich mir aufgedrängt, ich wollte sie nun auch den Danzigern stellen und ihnen bei der Antwort helfen. Ich war selber neugierig darauf. Und auch diesmal enttäuschten sie mich nicht, ich spürte wieder stark, wie sie mir halfen, meiner eigenen Gedanken erst selber Herr zu werden. Es wirkte stark und als ich gewahr wurde, daß sich viele dadurch wirklich gefördert, ja geradezu wie befreit fühlten, beschloß ich, es niederzuschreiben, es mochte vielleicht auch anderen behilflich sein. Ich wollte hinschreiben, was ich gesprochen hatte. Damit aber erging es mir höchst seltsam! Denn indem ich einfach niederzuschreiben glaubte, was ich in Danzig gesagt hatte, fand ich mich bald unversehens weggelockt, so weit weg, daß ich einhalten, umkehren und noch einmal von vorn anfangen mußte. Kaum aber war dies geschehen, als ich mich gleich wieder auf einem Abweg sah, und so fort und immer wieder, und ich hatte dabei noch immer das, was ich meinte, nicht herausgesagt! Mein Vortrag war schließlich mit diesen Extratouren so verflochten und umwunden, daß ich selber seine Züge kaum mehr erkennen konnte. Es wäre freilich am Ende ja nicht so schwer gewesen, ihn wieder herzustellen, ich hatte dazu nur resolut wegzustreichen oder doch die Ranken meiner Digressionen abzubiegen. Aber indem ich dies versuchte, war es mir fast wie eine Unehrlichkeit. Denn ich konnte mir nicht helfen: gerade das, was offenbar nicht recht dazu gehörte, schien mir doch eigentlich vielmehr erst recht dazu zu gehören. Klar war ja jener kahle Vortrag, auch ging er geradeaus und hielt sich nicht auf, im Niederschreiben aber belaubte sich alles und umdunkelte sich, es wurde kraus. Ja in unmutigen Augenblicken gestand ich mir ein, daß es ein Herumreden um die Sache war. Aber ich konnte mir nicht helfen: so herumzureden um die Sache schien mir ehrlicher als jene Klarheit und wenn ich undeutlich wurde, so war ich desto wahrer und wenn ich nicht leugnen konnte, daß ich mich wiederholte, ja mit fast ebendenselben Worten, kam es mir vor, als hätten dieselben Worte doch jedesmal einen anderen Sinn, und erst, oft genug wiederholt, den vollen. Ich konnte mir nicht helfen, es mußte schon so bleiben, ich ließ es stehen, wenn ich auch dabei kein ganz reines Gewissen hatte.
Aber auch mein Gewissen beruhigte sich, als ich mich plötzlich eines Kapitels der Wanderjahre erinnerte, das mir immer schon geheimnisvoll nahegegangen war, jetzt aber noch eine neue Bedeutung erhielt. Es ist das elfte Kapitel im zweiten Buch. Wilhelm schreibt an Natalien, er hat etwas auf dem Herzen und siehe, da geht's ihm wie mir! Er beginnt von einem Jüngling, der, am Ufer des Meeres spazierend, einen Ruderpflock findet und bloß dadurch, daß er alles sucht, was dazu gehört, sich am Ende, er weiß selbst kaum wie, als Herrn eines mächtigen Fahrzeugs und hochberühmt unter den Seefahrern findet. Als es aber soweit ist, hält Wilhelm im Schreiben ein und muß bekennen, daß »diese artige Geschichte nur im weitesten Sinne hierher gehört, jedoch mir den Weg bahnt, dasjenige auszudrücken, was ich vorzutragen habe«. Er holt also von neuem aus und beginnt von vorne, doch nur um im nächsten Augenblick wieder zu gestehen: »Da dieses aber auch nicht ist, was ich sagen wollte, so muß ich meinen Mitteilungen von irgendeiner anderen Seite näher zu kommen suchen.« So beginnt er zum dritten Mal und erzählt jetzt von seiner Kindheit, erzählt die Begegnung mit dem schönen Knaben des Fischers, mit der sanftmütigen Tochter des Amtmanns und wie ihn da in einem Augenblick das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe ergriffen. Schon aber stockt er wieder, denn er merkt mit einem Male, daß er ja wieder nicht sagt, was er sagen will! Und ärgerlich, fast verzagend klagt er: »Wenn ich nun aber nach dieser umständlichen Erzählung zu bekennen habe, daß ich noch immer nicht ans Ziel meiner Absicht gelangt sei und daß ich nur durch einen Umweg dahin zu gelangen hoffen darf, was soll ich da sagen! wie kann ich mich entschuldigen! Allenfalls hätte ich folgendes vorzubringen: Wenn es den Humoristen erlaubt ist, das Hundertste ins Tausendste durcheinander zu werfen, wenn er kecklich seinem Leser überläßt, das, was allenfalls daraus zu nehmen sei, in halber Bedeutung endlich aufzufinden, sollte es dem Verständigen, dem Vernünftigen nicht zustehen, auf eine seltsam scheinende Weise ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem Brennpunkte zuletzt abgespiegelt und zusammengefaßt erkenne?« Er kann sich nicht anders helfen und sie, an die er schreibt, sie muß sich »eben in Geduld fassen, lesen und weiterlesen; zuletzt wird denn doch auf einmal hervorspringen und ganz natürlich erscheinen, was, mit einem Worte ausgesprochen, dir höchst seltsam vorgekommen wäre.« Das war mir nun ein rechter Trost, wenn ich auch freilich, im selben Atem noch, mich gleich wieder fragte: Ist denn das ein Trost? Ist es denn nicht der alternde Goethe vielleicht? Ist es nicht vielleicht ein Zeichen des Alters, das um seine Gedanken nur noch in Gleichnissen schweifend kreisen kann, statt sie mit scharfen Worten tapfer aufzuspießen? Aber nein! Ging es denn dem jungen Goethe besser? In einem Briefentwurf Kestners an Hennings vom 18. November 1772 heißt es: »Im Frühjahr kam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt, seiner Handthierung nach Dr. Juris, 23 Jahre alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier – dies war seines Vaters Absicht – in Praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, Pindar usw. zu studieren, und was sein Genie, seine Denkungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden.« Und weiter: »Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie, und ein Mensch von Charakter, besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen.« Der junge Goethe gesteht also nicht bloß, daß er sich immer nur »uneigentlich« ausdrückt, niemals »eigentlich« ausdrücken, niemals die Gedanken selbst, wie sie sind, sagen kann, er gesteht noch mehr, er gesteht, daß er die Gedanken selbst, wie sie sind, nicht einmal denken kann, daß er also schon »uneigentlich« denkt. Erst wenn er einmal älter sein wird, hofft er, daß er die Gedanken selbst, wie sie sind, wird denken und sagen können. Als er aber alt geworden war, hat er erkannt, daß all unser irdisches Denken und Sagen immer »uneigentlich« bleibt: die Wahrheit ist zugegen, aber verborgen. Jenes Geständnis des jungen Goethe wirkt noch merkwürdiger, wenn man es fast aufs Wort beim jungen Augustinus wiederfindet: »Nun stand ich in meinem dreißigsten und steckte noch immer in dem gleichen Schlamme, begierig nach den flüchtigen und zerstreuenden Gütern des Augenblicks und zu mir sprechend: morgen werde ich es finden, deutlich wird es sich kundgeben, und ich werde es festhalten.« Als aber dann die Wahrheit dem heiligen Augustinus von Gott dargereicht wurde, in jener erhabenen Stunde mit seiner Mutter Monika, da diese beiden gesegneten Menschen »die Weisheit, durch welche alles besteht, in einer Verzückung des Herzens leise berührten«, da hat auch er erkannt, daß vor ihr alles verstummt, »jede Sprache und jedes Zeichen!« (Hertling »Augustin«, bei Kirchheim in Mainz, Seite 28 und 55). Und so gering und unscheinbar auch irgendeine Wahrheit sein mag, sie hat, um wahr zu sein, dies mit der höchsten gemein, daß sie größer ist als alles Denken und Sagen der Menschen. Sie schwebt über uns und ist uns schon entschwebt, wir können ihr nur eilends winken. Und wer in unverdrossenem Bemühen auch nur den Schatten auch nur der kleinsten Wahrheit berührt, dem versagt die Rede; da steht er und muß mit der Mechtild von Magdeburg klagen: Nun gebricht mir mein Deutsch!
Was reden wir dann noch? Was schreiben wir gar? Wäre das am Ende nur ein atavistisches Übel? Aber vielleicht ist alles Reden, alles Schreiben nur ein Händeringen unserer inneren Not. Und jeden tröstet es doch, wenn er auch den anderen die Hände ringen sieht.