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9. Ein ungebetener Gast.

»Gelobt sei Amerika!« rief der Nachtwächter zum Ergötzen aller mehrere Nächte beim Stundenanrufen aus, statt des üblichen Dankspruches gegen Gott. Der Krappenzacher, der, weil er selber nichts galt, gern bei den »rechten« Leuten auf die Armen schimpfte, sagte beim Ausgang aus der Kirche am Sonntag und nachmittags auf der langen Bank vor dem Auerhahn: »Der Columbus ist ein wahrer Heiland gewesen. Von was kann der einen nicht alles erlösen! Ja, das Amerika ist der Saukübel von der alten Welt, da schüttet man hinein, was man in der Küche nicht mehr brauchen kann: Kraut und Rüben und alles durcheinander, und für die, wo im Schloß hinterm Haus wohnen und Französisch verstehen oui! oui! ist es noch gutes Fressen.«

Bei der Armut an Gesprächsstoffen war natürlich der ausgewanderte Dami geraume Zeit der Gegenstand der Unterhaltung, und wer zum Gemeinderat gehörte, pries seine Weisheit, daß er sich von einem Menschen befreit habe, der gewiß einmal der Gemeinde zur Last gefallen wäre. Denn wer in allerlei Gewerben herumkutschiert, fährt ins Elend.

Natürlich gab es viele gutmütige Menschen, die Barfüßele alles berichteten, was man über ihren Bruder sagte und wie man über ihn spottete. Aber Barfüßele lachte darüber, und als von Bremen aus ein schöner Brief von Dami kam – man hätte gar nicht geglaubt, daß er alles so ordentlich setzen kann – da triumphierte sie vor den Augen der Menschen und las den Brief mehrmals vor. Innerlich aber war sie traurig, einen solchen Bruder wohl auf ewig verloren zu haben. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihn nicht genug habe aufkommen lassen, daß sie ihn nicht genug vorn hin gestellt habe; denn das zeigte sich jetzt, welch ein geweckter Bursch der Dami war, und dabei so gut. Er, der von allen im Dorfe hatte Abschied nehmen wollen, wie von dem Stock an der Gemarkung, füllte jetzt fast eine ganze Seite mit lauter Grüßen an einzelne, und jeder hieß der »Liebe«, der »Gute« oder der »Brave«, und Barfüßele erntete vieles Lob überall, wo sie die Grüße ausrichtete und dabei immer genau zeigte: »Seht, da steht's!«

Barfüßele war eine Zeitlang still und in sich gekehrt, es schien sie zu gereuen, daß sie den Bruder fortgelassen oder nicht mit ihm gegangen war. Sonst hörte man sie in Stall und Scheune, in Küche und Kammer und beim Ausgang, mit der Sense über der Schulter und dem Grastuch unterm Arm, immer singen; jetzt war sie still. Sie schien das gewaltsam zurückzuhalten. Aber es gab ein gutes Mittel, die Lieder wieder hinaustönen zu lassen. Am Abend schläferte sie die Kinder des Rodelbauern ein, und dabei sang sie unaufhörlich, wenn die Kinder auch schon lange schliefen. Dann eilte sie noch zur schwarzen Marann' und versorgte sie mit Holz und Wasser und allem, was sie bedurfte.

An Sonntagnachmittagen, wenn alles sich vergnügte, stand Barfüßele oft still und unbewegt an der Thürpfoste ihres Hauses und schaute hinein in die Welt und den Himmel und sah, wie die Vögel flogen, und träumte so vor sich hin, bald hinaus ins Weite, wo der Dami jetzt sei und wie es ihm ergehe, und dann konnte sie wieder unverwandten Blickes lange Zeit einen umgelegten Pflug betrachten und einem Huhn, das sich in den Sand eingrub, zuschauen. Wenn ein Fuhrwerk durchs Dorf fuhr, schaute sie auf und sagte fast laut: »Die fahren zu jemand! Auf allen Straßen der Welt geht kein Mensch zu mir, denkt kein Mensch zu mir; und gehör' ich denn nicht auch her?« Und dann war's ihr immer, als erwarte sie etwas, ihr Herz pochte schneller wie einem Ankommenden. Und unwillkürlich tönte es von ihren Lippen:

Alle Wässerlein auf Erden,
Die haben ihren Lauf;
Kein Mensch ist ja auf Erden,
Der mir mein Herz macht auf.

»Ich wollte, ich wäre so alt wie Ihr,« sagte sie einmal, als sie aus solchen Träumen heraus bei der schwarzen Marann' ankam.

»Sei froh, daß der Wunsch kein Wahr ist,« erwiderte die schwarze Marann'. »Wie ich so alt war wie du, da war ich lustig und hab' drunten in der Gipsmühle 132 Pfund gewogen.«

»Ihr seid doch einmal wie das andermal, und ich bin gar nicht gleich.«

»Wenn man gleich sein will, muß man sich die Nase abschneiden, da ist man im ganzen Gesicht gleich. Du Närrle, gräm dir deine jungen Jahre nicht ab, es gibt sie dir keiner wieder heraus. Die alten kommen schon von selber.«

Es gelang der schwarzen Marann' leicht, Barfüßele zu trösten. Nur wenn sie allein war, lag noch ein seltsames Bangen auf ihr. Was soll das werden?

Ein wunderliches Rumoren ging durch das Dorf. Man sprach seit vielen Tagen davon, daß es in Endringen eine Nachhochzeit gebe, wie seit Menschengedenken keine in der Gegend gewesen sei. Die ältere Tochter des Dominik und des Ameile – die wir noch vom Lehnhold her kennen – heiratete einen reichen Holzhändler im Murgthal, und man sagte, das gäbe eine Lustbarkeit, wie man sie noch nie erfahren.

Der Tag rückte immer näher heran. Wo sich zwei Mädchen begegnen, ziehen sie sich hinter eine Hecke, in einen Hausflur und können gar kein Ende finden und behaupten doch stets, daß sie gewaltig Eile hätten. Man sagt, es käme alles aus dem Oberlande und aus dem ganzen Murgthal und dreißig Stunden Wegs her, denn das sei eine große Familie. Am Rathausbrunnen, da war erst das rechte Leben, da wollte kein Mädchen ein neues Kleidungsstück haben, um sich andern Tags um so mehr an der Ueberraschung und dem Staunen zu erfreuen. Vor lauter Fragen und Hin- und Herreden vergaß man das Wasserschöpfen, und Barfüßele, die am spätesten gekommen war, ging am frühesten mit vollem Kübel wieder heim. Was ging sie der Tanz an! Und doch war's ihr immer, als hörte sie überall Musik.

Am andern Tage hatte Barfüßele viel im Hause hin und her zu rennen, denn sie sollte die Rosel aufputzen. Sie erhielt manchen heimlichen Knuff beim Zöpfen, aber sie ertrug es still.

Die Rosel hatte ein gewaltiges Haar, und das sollte auch gewaltig prangen. Sie wollte heute etwas Neues damit probieren. Sie wollte einen Maria-Theresienzopf haben, wie man hierzulande ein kunstreiches Geflechte aus vierzehn Strängen nennt; das sollte als neu Aufsehen erregen. Es gelang Barfüßele, das schwere Kunstwerk zu stande zu bringen, aber kaum war es fertig, als die Rosel es im Unmut wieder aufriß und sie sah wild aus, wie ihr die Stränge über den ganzen Kopf und über das Gesicht hingen, dabei war sie aber doch schön und stattlich und gewaltig im Umfang, und ihr ganzes Gebaren sprach es aus: minder als vier Rosse können nicht in dem Hause sein, in das ich einmal heirate! Und in der Thal warben viele Hofsöhne um sie, aber sie schien noch keine Lust zu haben, sich für irgend einen zu bestimmen. Sie blieb nun bei den landesüblichen zwei Zöpfen, die den Rücken hinabhingen, mit eingeflochtenen roten Bändern, die fast bis an den Boden hinabreichten. Sie stand fertig geschmückt da, und nun verlangte sie einen Blumenstrauß. Sie selbst hatte die ihr zugehörigen Blumen verwildern lassen, und trotz aller Einsprache mußte Barfüßele doch endlich nachgeben und ihre schöngehegten Blumen vor dem Fenster fast aller Blüten berauben. Auch das kleine Rosmarinstöckchen verlangte Rosel zu haben, aber Barfüßele wollte sich eher zerreißen lassen, ehe sie das hergab, und die Rosel spottete und lachte, schimpfte und schalt über die einfältige Ganshirtin, die so eigenwillig thue und die man doch um Gottes willen im Hause habe. Barfüßele antwortete nicht, und sie sah Rosel nur an mit einem Blick, vor dem Rosel die Augen niederschlug.

Jetzt hatte sich eine rote Wollrose auf dem linken Schuh verschoben und Barfüßele war eben niedergekniet. um sie behutsam festzunähen, da sagte die Rosel halb in Reue über ihr Benehmen, halb doch noch im Spott:

»Barfüßele, heut thu' ich's nicht anders, heut mußt du mit zum Tanz.«

»Spotte nicht so, was willst du denn von mir?«

»Ich spotte nicht,« beteuerte die Rosel noch halb neckisch; »du solltest auch einmal tanzen, bist ja auch ein junges Mädle, und es wird auch deinesgleichen auf dem Tanz sein; unser Roßbub geht ja auch, und es kann auch ein Bauernsohn mit dir tanzen, ich will schon einen überzähligen schicken.«

»Laß mich in Frieden oder ich steche dich,« mahnte Barfüßele am Boden, zitternd vor Freude und Trauer.

»Die Schwägerin hat recht,« nahm die junge Bäuerin, die bis jetzt zu allem geschwiegen hatte, nun das Wort, »und ich gebe dir kein gutes Wort mehr, wenn du heute nicht mit zum Tanz gehst. Komm, da setz dich hin, ich will dich auch einmal bedienen.«

Und ein Mal über das andere übergoß Barfüßele eine Flammenröte, wie sie so dasaß und ihre Meisterin sie bediente, und als sie ihr die Haare aus dem Gesichte that und sie alle nach hinten wendete, wollte Barfüßele fast vom Stuhle sinken, da die Bäuerin sagte: »Ich zöpf' dich, wie die Algäuerinnen gehen. Das wird dich ganz gut herausputzen, und du siehst auch so aus wie eine Algäuerin: so untersetzt und so braun und so kugelig; du siehst aus wie die Tochter von der Landfriedbäuerin in Zusmarshofen.«

»Wie die? warum wie die?« fragte Barfüßele und zitterte am ganzen Leibe. Was war's, warum sie jetzt gerade an die Bäuerin erinnert wurde, die ihr von Kind auf im Sinne lag und die ihr damals erschienen war wie eine wohlthätige Fee aus dem Märchen? Aber sie hatte keinen Ring, den sie drehen konnte, damit sie erscheinen müsse; nur innerlich konnte sie sie herbannen, und das geschah oft fast unwillkürlich.

»Halt dich ruhig, sonst rupf' ich dich,« befahl die Bäuerin, und Barfüßele hielt still und atmete kaum. Und wie ihr die Haare so mitten durch geteilt wurden, und wie sie so dasaß, die Hände zusammengepreßt, und alles mit sich machen lassen mußte, und die hochschwangere Frau sie bald warm anhauchte, bald an ihr herumbosselte, da kam sie sich vor, als würde sie plötzlich verzaubert, und sie redete kein Wort, als dürfe sie den Zauber nicht verscheuchen, und senkte demütig den Blick.

»Ich wollt', ich könnte dich zu deiner Hochzeit so einkleiden!« sagte die Bäuerin, die heute von lauter Güte überfloß. »Ich möchte dir einen rechtschaffenen Hof gönnen, und es wäre keiner mit dir angeführt; aber heutigestags geschieht das nicht mehr. Da springt das Geld nach dem Geld. Nun sei du nur zufrieden. Solang mir ein Auge offen steht, soll dir bei mir nichts fehlen, und wenn ich sterbe – ich weiß nicht, es ist mir diesmal so bang um die schwere Stunde – gelt, du verläßt meine Kinder nicht und vertrittst an ihnen Mutterstelle?«

»O Gott im Himmel, wie könnt Ihr nur so etwas denken!« rief Barfüßele, und Thränen rannen ihr aus den Augen. »Das ist eine Sünde, und man kann auch sündigen, daß man Gedanken über sich kommen läßt, die nicht recht sind.«

»Ja, ja, du hast recht,« sagte die Bäuerin, »aber wart noch, sitz noch still, ich will dir meinen Anhenker holen, und den will ich dir um den Hals thun.«

»Nein, um Gottes willen nicht; ich trage nichts, was nicht mein ist. Ich thät' mich in den Boden hinein schämen vor mir selber.«

»Ja, aber so kannst du nicht gehen. Oder hast du vielleicht noch selber etwas?«

Barfüßele erzählte, daß sie allerdings einen Anhenker habe, den sie als Kind von der Landfriedbäuerin erhalten, der aber wegen Damis Auswanderung verpfändet sei bei der Witwe des Heiligenpflegers.

Barfüßele mußte nun stillsitzen und versprechen, sich nicht im Spiegel zu sehen, bis die Bäuerin wieder käme, die nun forteilte, um das Kleinod zu holen und selber für das Darlehen zu bürgen.

Welche Schauer flossen nun durch die Seele Barfüßeles, wie sie nun so da saß, sie, die allzeit Dienende, nun bedient, und in der That fast wie verzaubert. Sie fürchtete sich fast vor dem Tanze, sie war jetzt so gut und so freundlich behandelt – wer weiß, wie sie herumgestoßen wird, und keiner sieht nach ihr um, und all ihr äußerer Schmuck und ihre innere Lust ist vergebens! »Nein!« sagte sie vor sich hin, »und wenn ich weiter nichts habe, als daß ich mich gefreut habe: das ist nun genug; und wenn ich mich gleich wiederum ausziehen und daheim bleiben müßte, ich wäre schon glückselig.«

Die Bäuerin kam mit dem Schmucke, und das Lob des Schmuckes und Schimpfen auf die Heiligenpflegerin, die einem armen Mädchen solche Blutzinsen abnehme, ging seltsam durcheinander. Sie versprach, noch heute das Darlehen zu bezahlen und es Barfüßele allmählich am Lohne abzuziehen.

Jetzt endlich durfte sich Barfüßele betrachten. Die Frau hielt ihr selber den Spiegel vor, und aus den Mienen beider glänzte es und sprach es wie ein jauchzender Wechselgesang der Freude.

»Ich kenn' mich gar nicht! ich kenn' mich gar nicht!« sagte Barfüßele immer und betastete sich auf und nieder mit beiden Händen im Gesicht. »Ach Gott, wenn nur mein' Mutter mich so sehen könnte! Aber sie wird Euch gewiß vom Himmel herab segnen, daß Ihr so gut zu mir seid, und sie wird Euch beistehen in der schweren Stunde; brauchet nichts zu fürchten.«

»Jetzt mach aber ein ander Gesicht,« sagte die Bäuerin, »nicht so ein Gotteserbarm; aber es wird schon kommen, wenn du die Musik hörst.«

»Ich mein', ich höre sie schon,« sagte Barfüßele. »Ja, horchet, da ist sie.« In der That fuhr eben ein großer Leiterwagen mit grünen Reisern bedeckt durch das Dorf, und darauf saß die ganze Musik, und der Krappenzacher stand mitten zwischen den Musikanten und blies die Trompete, daß es schmetterte.

Nun war kein Halt mehr im Dorfe, alles machte sich eilig davon. Die Bernerwägelein, einspännig und zweispännig, aus dem Dorfe selber und aus den benachbarten, die hier durch mußten, jagten fast einander wie im Wettrennen. Rosel stieg zu ihrem Bruder auf den Vordersitz, und Barfüßele saß hinten im Korbe. Es schaute immer vor sich nieder, solange man durch das Dorf fuhr, so schämte es sich. Nur beim Elternhause wagte es aufzublicken: die schwarze Marann' grüßte heraus, der rote Gockelhahn krähte auf der Holzbeige, und der Vogelbeerbaum nickte: »Glück auf den Weg!«

Jetzt fuhr man durch das Thal, wo der Manz die Steine klopfte, jetzt über den Holderwasen, wo eine alte Frau die Gänse hütete. Barfüßele nickte ihr freundlich. Ach Gott, wie komm' denn ich dazu, daß ich hier so stolz und geschmückt vorbeifahre, und ist's denn nicht eine gute Stunde bis Endringen, und man meint doch, man wäre kaum eingesessen, und jetzt heißt's schon: absteigen! und die Rosel ist schon begrüßt und umstanden von allerlei Gefreundeten und: »Ist das eine Schwester deiner Schwägerin, die du da bei dir hast?« heißt es vielfach.

»Nein, es ist nur unsere Magd,« antwortete Rosel. Mehrere Bettler aus Haldenbrunn, die hier waren, betrachteten Barfüßele staunend, sie kannten sie offenbar nicht, und erst als sie sie lange angesehen hatten, riefen sie: »Ei, das ist ja das Barfüßele.«

»Das ist nur unsere Magd.« Dieses Wörtchen »nur« war Barfüßele tief ins Herz gedrungen; aber sie faßte sich schnell und lächelte, denn in ihr sprach es: »Laß dir nicht von einem Wörtchen deine Freude verderben. Wenn du das anfängst, da trittst du überall auf Dornen.«

Die Rosel nahm Barfüßele beiseite und sagte:

»Geh du nur einstweilen auf den Tanzboden, oder anderswohin, wenn du sonst Bekannte im Ort hast. Bei der Musik sehe ich dich hernach schon wieder.«

Ja, da stand Barfüßele wie verlassen, und sie kam sich vor, als hätte sie ihre Kleider gestohlen und gehöre gar nicht daher, sie war ein Eindringling. »Wie kommst du dazu, daß du zu so einer Hochzeit gehst?« fragte sie sich und wäre am liebsten wieder heimgekehrt. Sie ging durch das Dorf aus und ein, dort an dem schönen Hause vorbei, das für den Brosi erbaut worden war, und worin auch heute viel Leben sich zeigte, denn die Oberbaurätin hielt mit ihren Söhnen und Töchtern hier ihre Sommerfrische. Barfüßele ging wieder das Dorf hinein und schaute sich nicht um, und doch wünschte sie, daß jemand sie anrufe, damit sie sich zu ihm geselle.

Am Ende des Dorfes begegnete ihr ein schmucker Reiter auf einem Schimmel, der das Dorf hereinritt. Er trug eine fremde Bauerntracht und sah stolz drein; jetzt hielt er an, stemmte die Rechte mit der Reitgerte in die Seite, mit der Linken klatschte er den Hals seines Pferdes und sagte: »Guten Morgen, schönes Jungferle! Schon müde vom Tanz?«

»Für unnötige Fragen bin ich schon müde,« lautete die Antwort.

Der Reiter ritt davon, und Barfüßele saß lange Zeit hinter einer Haselhecke und mußte allerlei in sich hineindenken, und ihre Wangen glühten von einer Röte, die der Zorn über sich selbst, über die spitze Antwort auf eine harmlose Frage, die Betroffenheit und ein unbegreifliches inneres Wogen anfachte, und unwillkürlich drängte sich ihr das Lied auf die Lippen:

»Es waren zwei Liebchen im Algäu
Die hatten einander so lieb . . .«

So zu Jubel gespannt, hatte sie den Tag begonnen, und jetzt wünschte sie sich den Tod. »Hier hinter der Hecke einschlafen und nicht mehr sein, o wie herrlich wäre das! Du sollst keine Freude haben, warum noch so lange herumlaufen? Wie zirpen die Heimchen im Grase, und ein warmer Dampf steigt auf von der Erde, und eine Grasmücke zwitschert immer fort, und es ist, als ob sie mit ihrer Stimme immer in sich hineinlange und frische noch innigere Töne heraushole und sich gar nicht genug thun könne, das so recht von ganzem Herzen zu sagen, was sie zu sagen hat, und droben singen die Lerchen, und jeder Vogel singt für sich, und keiner hört auf den andern und keiner stimmt dem andern bei, und doch ist alles . . .«

Noch nie in ihrem Lehen war Amrei am hellen Tage und nun gar des Morgens eingeschlafen: und jetzt, sie hatte ihr Kopftuch über die Augen gezogen, und jetzt küßte der Sonnenstrahl ihre geschlossenen Lippen, die im Schlafe noch immer wie trotzig gepreßt waren, und die Röte auf ihrem Kinn färbte sich röter. Sie schlief wohl eine Stunde, da wachte sie zuckend plötzlich auf. Der Reiter auf dem Schimmel war auf sie zugeritten, und jetzt eben hob das Pferd seine beiden Vorderfüße, um sie auf ihre Brust zu stellen. Es war nur ein Traum gewesen, und Amrei schaute sich um, als wäre sie plötzlich vom Himmel gefallen; sie sah staunend, wo sie war, betrachtete verwundert sich selbst; aber Musikklang aus dem Dorfe weckte schnell alles, und sie ging neu gekräftigt ins Dorf zurück, wo bereits alles noch lebendiger geworden war. Sie spürte es, sie hatte sich ausgeruht von dem Allerlei, was heute schon mit ihr vorgegangen war. Jetzt sollten sie nur kommen, die Tänzer! Sie wollte tanzen bis zum andern Morgen und nicht ausruhen und nicht müde werden.

Die frische Röte eines Kinderschlafes lag auf ihrem Angesichte, und alles sah sie staunend an. Sie ging nach dem Tanzboden; da tönte Musik, aber in den leeren Raum, es waren keine Tänzer da. Nur die Mädchen, die heute zur Bedienung der Gäste gedungen waren, tanzten miteinander herum. Der Krappenzacher betrachtete Barfüßele lange und schüttelte den Kopf. Er schien sie offenbar nicht zu kennen. Amrei drückte sich an den Wänden hin und wieder hinaus. Sie begegnete Dominik, dem Furchenbauer, der heut in voller Freude strahlte.

»Mit Verlaub,« sagte er, »gehört die Jungfer zu den Hochzeitsgästen?«

»Nein, ich hin nur eine Magd und bin mit meiner Haustochter, des Rodelbauern Rosel, gekommen.«

»Gut, so geh hinauf auf den Hof zur Bäuerin und sag ihr, ich schick' dich, du wolltest ihr helfen; man kann heute nicht Hände genug in unserm Hause haben.«

»Weil Ihr es seid, recht gern,« sagte Amrei und machte sich aus den Weg. Unterwegs mußte sie viel daran denken, daß der Dominik auch Knecht gewesen sei und . . . »ja, so etwas kommt nur alle hundert Jahr einmal vor. Und es hat viel Blut gekostet, ehe er zu dem Hof gekommen ist, das ist doch arg.«

Die Furchenbäuerin Ameile hieß die Ankommende, die im Anerbieten ihrer Dienste zugleich die Jacke abzog und sich eine große Schürze mit Brustlatz ausbat, freundlich willkommen; aber die Bäuerin that es nicht anders, Amrei mußte vorher selber sattsam Hunger und Durst stillen, bevor sie andere bediente. Amrei willfahrte ohne viel Umstände, und schon mit den ersten Worten gewann sie die Furchenbäuerin, denn sie sagte: »Ich will nur gleich zugreifen, ich muß gestehen, ich bin hungrig und will Euch nicht viel Mühe machen mit Zureden.«

Amrei blieb nun in der Küche und gab den Auftragenden alles so geschickt in die Hand und wußte bald alles so zu stellen und zu greifen, daß die Bäuerin sagte: »Ihr beiden Amreis, du da und meine Bruderstochter, ihr könnt jetzt schon alles machen, und ich will bei den Gästen bleiben.«

Die Amrei von Siebenhöfen, die sogenannte Schmalzgräfin, die weit und breit als stolz und trotzig bekannt war, benahm sich ausnehmend freundlich gegen Barfüßele, und die Furchenbäuerin sagte einmal zu Barfüßele: »Es ist schad, daß du kein Bursch bist; ich glaub', die Amrei thät dich auf dem Fleck heiraten und dich nicht heimschicken wie alle anderen Freier.«

»Ich hab' einen Bruder, der ist noch zu haben, aber er ist in Amerika,« scherzte Barfüßele.

»Laß ihn drüben,« sagte die Schmalzgräfin, »am besten war's, man könnte alle Mannsleute hinüberschicken, und wir blieben allein da.«

Amrei verließ den Hof nicht, bis wieder alles an Platz gestellt war, und als sie ihre Schürze auszog, war sie noch so weiß und unzerknittert wie beim Anziehen.

»Du wirst müd sein und nimmer tanzen können,« sagte die Bäuerin, als Amrei endlich mit einem Geschenke Abschied nahm, und diese sagte:

»Was müd sein? Das ist ja nur gespielt. Und glaubet mir, es ist mir jetzt wohler, daß ich heut schon etwas geschafft habe. So einen ganzen Tag bloß zur Lustbarkeit, ich wüßt' ihn nicht herumzubringen, und das ist's gewiß auch gewesen, warum ich heute morgen so traurig war; es hat mir was gefehlt; aber jetzt bin ich vollauf zum Feiertag aufgelegt, ganz aus dem Geschirr; jetzt wäre ich erst recht aufgelegt zum Tanzen – wenn ich nur Tänzer kriege.«

Ameile wußte Barfüßele keine bessere Ehre anzuthun, als indem sie sie wie eine vornehme Bäuerin im Hause herumführte, und in der Brautstube zeigte sie die große Kiste mit den Kunkelschenken (Hochzeitsgeschenken) und öffnete die hohen, blaugemalten Schränke, drauf Name und Jahrzahl geschrieben war, und darin vollgestopft die Aussteuer und zahlreiches Linnenzeug, alles mit bunten Bändern gebunden und mit künstlichen Nelken besteckt. Im Kleiderschranke mindestens dreißig Kleider, daneben die hohen Betten, die Wiege, die Kunkel mit den schönen Spindeln, um und um mit Kinderzeug behangen, das die Gespielen geschenkt hatten.

»O lieber Gott,« sagte Barfüßele, »wie glücklich ist doch so ein Kind aus so einem Haus.«

»Bist du neidisch?« fragte die Bäuerin, und im Andenken, daß sie das alles einer Armen zeige, setzte sie hinzu: »Glaub' mir, das viele Sach' macht es nicht aus; es sind viele glücklicher, die keinen Strumpf von den Eltern bekommen.«

»Jawohl, das weiß ich und bin auch nicht neidisch um das viele Gut, weit eher darum, daß Euer Kind Euch und so vielen Menschen danken kann für das Gute, was es von ihnen hat. Solche Gewänder von der Mutter müssen doppelt warm halten.«

Die Bäuerin zeigte ihr Wohlgefallen an Barfüßele dadurch, daß sie ihr das Geleite gab bis vor den Hof, ebensogut als einer, die acht Roßköpfe im Stall hatte.

Es tummelte sich schon alles wild durcheinander, als Amrei auf den Tanzboden kam. Sie blieb zuerst schüchtern auf dem Flur stehen. Wo ist denn die Kinderschar, die sonst sich hier tummelte und die Vorfreude des künftigen Lebens im Vorhof genoß? Ach freilich, das ist ja jetzt von der hohen Staatsregierung verboten; das Kirchen- und Schulamt hat die Kinder verbannt, daß sie nicht zusehen dürfen oder gar sich selbst nach den Tanzweisen drehen, wie einst noch in der Kinderzeit Amreis.

Es ist das auch einer jener stillen Mordschläge vom grünen Tisch.

Auf dem leeren Flur, über den nur manchmal einer hin und her eilt, wandelt der Landjäger einsam auf und ab.

Als der Landjäger Amrei so daherkommen sah, wie lauter Licht im Angesichte, ging er auf sie zu und sagte:

»Guten Abend, Amrei! So! kommst auch?«

Amrei schauderte zusammen und stand leichenblaß: hatte sie etwas Straffälliges gethan? War sie mit dem bloßen Licht in den Stall gegangen? – Sie durchforschte ihr Leben und wußte nichts, und er that doch so vertraut, als ob er sie schon einmal transportiert hätte. In diesen Gedanken stand sie schaudernd da, als müßte sie eine Verbrecherin sein, und erwiderte endlich: »Dank' schön, ich weiß nichts davon, daß wir uns dutzen. Wollt Ihr was?«

»Oho, wie stolz, ich fress' dich nicht, darfst mir ordentlich Antwort geben. Warum bist denn so bös? Was?«

»Ich bin nicht bös, ich will niemand was zu leid thun, ich bin halt ein dummes Mädle.«

»Stell dich nicht so duckmäuserig.«

»Woher wisset Ihr denn, was ich bin?«

»Weil du so mit dem Licht flankierst.«

»Was? Wo? Wo hab' ich mit dem Licht flankiert? Ich nehm' immer eine Laterne, wenn ich in den Stall gehe.«

Der Landjäger lachte und sagte: »Da, da, mit deinen braunen Guckerle, da flankierst du mit dem Licht; deine Augen, die sind ja wie zwei Feuerkugeln.«

»Gehet aus dem Weg, daß Ihr nicht anbrennet, Ihr könntet in die Luft fahren mit Eurem Pulver da in der Patrontasche.«

»Es ist nichts drin,« sagte der Landjäger in Verlegenheit, um doch etwas zu sagen. »Aber mich hast du schon versengt.«

»Ich sehe nichts davon, es ist alles noch ganz. Es ist genug! Lasset mich gehen.«

»Ich halt' dich nicht, du Krippenbeißerle, du könntest einem, der dich gern hat, das Leben sauer machen.«

»Braucht mich niemand gern zu haben,« sagte Amrei und riß sich los, als wäre sie plötzlich von Ketten befreit. Sie stellte sich unter die Thüre, wo noch viele Zuschauer sich zusammendrängten. Eben begann wieder ein neuer Tanz, sie wiegte sich auf dem Platze nach dem Takte hin und her; das Gefühl, einen abgetrumpft zu haben, machte sie neu lustig, sie hätte es mit der ganzen Welt aufgenommen und nicht nur mit einem einzigen Landjäger. Dieser war aber auch bald wieder da, er stellte sich hinter Amrei und redete allerlei zu ihr: sie gab keine Antwort und that, als ob sie gar nichts höre; sie nickte den Vorübertanzenden zu, als wäre sie von ihnen begrüßt worden. Nur als der Landjäger sagte: »Wenn ich heiraten dürfte, dich thät' ich nehmen,« da sagte sie:

»Was nehmen? Ich geb' mich aber nicht her.«

Der Landjäger war froh, wenigstens wieder eine Antwort zu haben, und fuhr fort:

»Wenn ich nur einmal tanzen dürfte, ich thät' gleich einen mit dir machen.«

»Ich kann nicht tanzen,« sagte Amrei.

Eben schwieg die Musik, und Amrei stieß die vorderen mächtig an, drängte sich hinein, um ein verborgenes Plätzchen zu suchen; sie hörte nur noch hinter sich sagen: »Die kann tanzen, besser als eine landauf und landab.«


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