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Am Morgen, als das Decken des Turmes beginnen sollte, that Seb seine silberne Sackuhr aus der Tasche und hing sie an den Nagel.
»Warum thust du das? Nimm sie nur mit,« sagte Zilge.
»Ich hör' auf dem Turm schon schlagen, und . . . man weiß nicht, es kann einem was passieren, man . . . man kann sich stoßen.«
»Seb, sei heiter, unser Herrgott hält doch seine Hand über uns –«
»Ja, er kann aber keinen Regen schicken, der mir die Hypothekenschuld abwascht.«
»Mit Fleiß und Sparsamkeit können wir schon manches abtragen, bet' nur recht, eh' du auf den Turm steigst, und bet' auch, wenn du oben bist.«
»Bet' du, du hast's an deiner Stickerei da geschickter.«
»B'hüt' dich Gott, Seb, und gib mir auch ein' Hand.«
»Ich bin zu alt zu solchen Kinderpossen, du hast mich lang genug warten lassen.«
Dennoch küßte Seb beim Weggehen die Kinder und reichte auch Zilge die Hand. Zilge, die sonst keine Minute unnötig von ihrem Stickrahmen aufstand, nahm das eine Kind auf den Arm und das andre an die Hand und stand lange Zeit auf der Anhöhe hinter der Kirche und schaute hinauf zu ihrem Manne auf dem Turme. Aber Seb schaute sich nicht um.
Es ist eine alte weise Regel der Dachdecker, daß sie nicht über sich und nicht unter sich schauen dürfen; blickt einer nach den ziehenden Wolken, so zieht es ihn unwillkürlich mit fort, hinein, hinauf in das wogende Wolkenmeer, und die Wolken treiben ein falsches Spiel, sie nehmen ihn nicht auf, die Erde läßt ihn nicht und zieht ihn zerschmettert zu sich nieder.
Das aber thut sie auch, wenn der in der Höhe Schwebende hinabschaut auf die Erde, sein Fuß gleitet, und er stürzt und zerschmettert.
Seb mußte immer an jenen grausenhaften Anblick denken, wenn er bald zwischen Himmel und Erde schweben wird, er greift aus und nirgends ein Halt, nirgends als im Tod . . .
Den Blick auf das Nächste geheftet, arbeitete Seb weiter, und das ist die sicherste Gewähr, man steht fest, als stände man auf ebenem Boden. Wie der Blick am Nächsten haftet, so hat auch der ganze Körper eine Ruhe und Sicherheit an ihm.
Tagelang war Seb auf dem Kirchturm, und seine unheimlichen Gedanken verließen ihn nicht. Das alte Uhrwerk im Turm, das im Innern mit einem Bretterdache gedeckt war, schnurrte und surrte, und wenn es eine Stunde anschlug, dröhnte es Seb durch Leib und Seele, aber immer sah er keinen andern Ausweg als den jähen Tod. Er liebte sein Weib und seine Kinder, aber er sagte sich, daß er ihr Elend nicht ertragen könne, und dazu noch die Unmacht, ihnen zu helfen; starb er, und starb er im Dienste der Gemeinde, so mußten gute Menschen, ja die Gemeinde mußte sich der Verlassenen annehmen; bei eigenen Lebzeiten wäre das nie geschehen, und er hätte das nie ertragen. Das stand fest.
Der Küster rief eines Mittags Seb in die Glockenstube, er mußte zu einem Leichenbegängnisse läuten und fürchtete, daß es dem auf dem Turme Arbeitenden Schaden thun könne. Seb stand in der Glockenstube, und um und um umdröhnt von den gewaltigen metallenen Klängen, rannen ihm die Thränen aus den Augen, und er wischte sie mit harter Hand ab.
Als er wieder auf das Dach stieg, war es ihm, als müßte er jetzt sein Schicksal vollenden, aber der über dem Abgrund schwebende Geist wird oft an unscheinbar dünnen, seltsam verschlungenen Fäden gehalten. Die Leute sollten nicht sagen, der Seb habe weder eine Grundmauer legen, noch einen Turm decken können; seine Handwerksehre mußte für ewige Zeiten feststehen; er wollte nicht von einer halbfertigen Arbeit sich davonmachen. Er legte jeden Ziegel und strich jede Kelle Mörtel fest, daß sie für die Ewigkeit haften. Trauernd sollten die Menschen bekennen, was der Seb für ein Mann gewesen.
Daheim redete Seb fast gar nichts, es war ihm unheimlich bei Weib und Kindern, er kam sich wie ein Gespenst vor, das hier noch umwandelte, er hatte sie ja verlassen, er verließ sie ja bald.
Am letzten Morgen ließ Seb von dem Küster die Turmuhr stellen, er behauptete, daß er heute das Summen und Surren und gar das Schlagen nicht vertragen könne. Lautlose Stille lag nun über dem ganzen Dorf, als Seb auf das Turmdach heraustrat, und wie heute keine Stunde schlug, so mußte alles still daran denken, in welcher gefahrvollen Lage heute Seb schwebte.
Er war noch nicht lange an der Arbeit, als er plötzlich ein Klappern hörte, er schaute sich um – der Storch war mit seinem Weibchen angekommen und zeigte ihm unter seltsamem Verbeugen und In-die-Brust-werfen das neu hergerichtete Haus und die ringsum frühlingsgrüne Welt; das war ein Schnattern und Klappern und ein bedächtig fröhliches Gethue, und jetzt flogen die Wandervögel auf. Halt! fast wäre unfreiwillig zur Wahrheit geworden, was Seb so lange als Vorsatz im Sinne hatte, er war ausgeglitten, er hielt sich nur noch am Vorsprunge fest. Er hatte dem Fliegen des Storchenpaares zugesehen, wie sie so wohlig in der Luft schwimmen und, ohne sich zu stoßen und zu schwingen, ruhig schweben und wieder in schiefen Bogen ins Nest sich senken.
Als sich Seb wieder aufrichtete, belebte ihn plötzlich ein neuer Gedanke: er hatte den Tod überwunden, er wollte leben und Zilge und dem Dorf zeigen, was er vermag; sie sollten eine Weile noch schlechter von ihm denken, dann aber – – Seb hielt sich mit beiden Händen fest und schaute hinaus in die weite, mit Blütenbäumen besäte Welt und in den blauen Himmel.
Lange schweifte sein Blick in der Landschaft umher, mit neugeborener Lust sie erschauend: dort drüben steht der Gemeindewald auf dem Berg, und hinter dem Berg türmen sich andre, und Felder und Dörfer breiten sich weitaus, und näher! Wie still stehen die Bäume im wogenden Korn und als grüne Bänder ziehen sich die Gartenhecken dorthin, und dort das kleine Geschöpf, das mit den kleinen Tieren im Brachfeld pflügt, und hier unten der Ameisenhaufen, den man ein Dorf nennt – ein Narr ist, der sich aus dieser schönen offenen Welt hinaustreiben läßt.
Seb suchte unter dem Häusergewirr sein eigen Haus, er fand es bald, er konnte es gar nicht begreifen, daß er sich da wieder in Not und Sorgen hineindrängen sollte.
»Ich will ein großer Teil an der Welt haben,« sagte er vor sich hin. –
Die Arbeit ging rasch von statten. Der Schlosser und sein Geselle kamen mit dem neu vergoldeten Kreuze, Seb ließ es sich heraus reichen und steckte es auf die Turmspitze. Die Schlosser nieteten das Kreuz im Innern fest, und als dies vollendet war, ließ sich Seb die neuen Strümpfe und Schuhe herausreichen, die nach altem Brauch die Gemeinde dem geben muß, der das Kreuz auf den Turm setzt. Seb schwang sich keck hinaus zu dem Kreuze, und abwechselnd es mit dem einen und dem andern Arme umklammernd, zog er hier hoch oben die neuen Schuhe und Strümpfe an. Er schaute nicht hinab, wo eine große Menschenmenge versammelt war, er hörte nur von dort Jauchzen und Wehklagen, es war ihm, als hörte er seinen Namen rufen, bald in Angst, bald in Freude.
Wie zum Spott warf er seine alten Schuhe hinab auf das Dorf, schlüpfte durch die Luke in die Glockenstube, füllte die Oeffnung aus und stand endlich wieder unten auf dem Boden unter der staunenden Menge.
Noch fühlte er sich wie taumelnd, aber mitten im Taumel triumphierte sein Herz, sie hatten alle bewundernd einsehen gelernt, welch ein mutvoller geschickter Mann er war; und sie sollten noch Weiteres, Unerwartetes kennen lernen. Zilge war nicht unter den Versammelten. In seinen krachneuen Schuhen mit dem siegreichen Handwerkszeuge in der Hand ging Seb wie ein Siegesheld durch das Dorf.
Aus allen Häusern glückwünschte man ihm, als käme er von einer großen Reise, er dankte freundlich. Es war ein zweideutiges Lob, als ihm sein Nachbar, der Küfer, sagte: »Es scheint, du kannst besser in den Himmel als in den Boden bauen.« Dennoch gab er ihm den Auftrag, andern Tages eine eingesunkene Gartenmauer hinter dem Hause herzurichten, da sonst aller Boden abrutsche. Seb sagte nicht zu und lehnte nicht ab.
Zu Hause traf er Zilge am Stickrahmen, sie beugte ihr Angesicht tief auf denselben und redete kein Wort. Er nahm die Taschenuhr vom Nagel und steckte sie wieder zu sich. Die ganze Welt hatte ihn triumphierend begrüßt, und nur Zilge sprach kein Wort.
Er wollte eben im Zorn darob die Stube verlassen, als er an der Thüre wieder umkehrte und fragte:
»Zilge, verdien' ich gar kein Wort?«
Sie antwortete nicht und stickte weiter.
»Red', verdien' ich gar kein Wort?« wiederholte er zornig.
»Mehr als eins,« erwiderte sie endlich, ohne aufzuschauen.
»Und was?«
»Was ich nicht sagen will.«
»Du mußt aber.«
Laut weinend klagte nun Zilge, wie sündhaft er mit seinem Leben gespielt habe, das doch ihr und den Kindern gehöre. Seb stand einen Augenblick erschüttert von diesen Worten, und halb im Scherz erklärte er, daß die Gemeinde sie und die Kinder hätte erhalten müssen, wenn er gestorben wäre.
Mit einem eigentümlichen Trotz entgegnete hierauf Zilge, daß sie allein sich und die Kinder erhalten könne und sich nie von der Gemeinde erhalten ließe.
Es durchzuckte Seb sichtbar, als er das hörte, aber er sprach lange nicht. Endlich erzählte er Zilge lachend, was das für eine Lustbarkeit, ein Knixen und Klappern und Schwingen gewesen sei, als heute der Storch mit seinem Weibchen ankam.
»Die fangen jetzt von neuem zu hausen an,« schloß er, »und das Weible ist ganz glückselig, weil sie eine Zeitlang von ihrem Manne fortgewesen ist und er das Haus neu hergerichtet hat.«
»Was geht mich das dumme Zeug an?« schalt Zilge schon im schwindenden Unmut, und Seb war froh, daß sie nicht mehr merkte und nicht mehr sagte.
Drei Tage arbeitete er nun an der Gartenmauer hinter des Küfers Hans, und oft, wenn er aufschaute nach dem in der Sonne blinkenden Turmkreuz, dachte er mit Schauder daran, wie er da oben geschwebt, und welche Gedanken ihm durch die Seele gezogen, und doch waren es in Lust und Leid übermütige gewesen; jetzt aber stand er wieder auf ebenem Boden in einem Gartenwinkel und führte eine ärmliche Mauer auf. Wie er die Steine wälzte und meißelte, hob und legte, so hob und legte er manchen Gedanken hin und her, aber wie er's auch richtete, es blieb bei dem alten Vorsatz, wie bei einem unabänderlichen Bauriß. Am dritten Abend war die Mauer fertig, und Seb raffte mit einem schweren Seufzer sein Handwerkszeug zusammen. Er wußte es, das war seine letzte Arbeit im Dorfe. Er war jetzt los und ledig.
Am Morgen früh zog er seine Gemeindeschuhe an und sagte Zilge, daß er sich in der Fremde Arbeit suchen wolle; hier zu Land, wo er Meister sei und Gesellen gehalten habe, könne er nicht mehr als Geselle arbeiten. Zilge, die ehedem seinen Stolz gereizt hatte, daß er Meister werden und selbst Bauten aufführen solle, wollte jetzt diesen Stolz beschwichtigen, aber es gelang ihr nicht mehr, und mit bangem Herzen ließ sie endlich Seb scheiden.
Er sagte ihr noch, wie viel sie von der Gemeinde für den Kirchenbau zu bekommen habe, und hing seine Uhr, die er schon in der Tasche hatte, wieder an den Nagel. Zilge wollte, daß er sie mitnehme, er aber willfahrte ihr nicht und sagte, sie könne sie verpfänden, wenn sie kein Geld mehr habe. Wiederum stolz schwur sie, daß das nie geschehen würde, und endlich ging Seb von dannen.
Die Kinder schliefen noch, das kleine Töchterchen mit seinen rotgeschlafenen Backen zuckte zusammen, als er es küßte, und der Knabe Johannes, der unbewegt fortschlief, schrie noch, als Seb die Hausthüre zumachte, plötzlich:
»Vater, bleib da!«
Seb reichte noch Zilge die Hand, preßte die Lippen zusammen, und fort rannte er, als jagte jemand hinter ihm drein.
Ein Bauer, der am frühen Morgen seine Wiesen im Thal wässerte, sah den Seb, wie er lange dem Storchenpaare zuschaute, das gemächlich steif und stillernst durch die Wiesen stelzte, die Füße hoch hob und mit Kopf und Hals stets rechts und links nickte. Als der Bauer den Seb anrief, sagte dieser: »Ich geh' auch in die Fremd', und komm' vielleicht vor dem Winter oder Frühjahr nicht wieder.« Der Nachbar Küfer traf den Seb in der Stadt, und ihm gab er den ausdrücklichen Auftrag, seiner Frau die Botschaft zu bringen, sie möge keine Sorgen haben, wenn sie vielleicht lange nichts von ihm höre.
Das waren die letzten Nachrichten, an denen Zilge lange ihr Hoffen und Harren befriedigen mußte.