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Als am andern Morgen der Ohm kam, erklärte Amrei, daß sie dableibe. – Es lag eine seltsame Mischung von Bitterkeit und Wohlwollen darin, als der Ohm sagte: »Freilich, du artest deiner Mutter nach, und die hat nie etwas von uns wissen wollen; aber ich kann den Dami allein nicht mitnehmen, wenn er auch ginge. Der kann noch lange nichts als Brot essen; hättest es auch verdienen können.«
Amrei entgegnete, daß sie das vorderhand hierzulande wolle, und daß sie mit ihrem Bruder später, wenn der Ohm noch so gut gesinnt bleibe, ja zu ihm kommen könne.
In der Art, wie nun der Ohm seine Teilnahme für die Kinder ausdrückte, wurde der Entschluß Amreis wieder etwas schwankend, aber in ihrer besonderen Weise wagte sie das nicht kundzugeben; sie sagte nur: »Grüßet mir auch Eure Kinder und saget ihnen, daß es mir recht hart ist, daß ich meine nächsten Anverwandten gar nie gesehen hab', und daß sie jetzt weit übers Meer ziehen und ich sie vielleicht mein Leben lang nicht mehr sehe.«
Der Ohm machte sich rasch auf und gab nur noch Amrei den Auftrag, den Dami von ihm zu grüßen, er habe keine Zeit mehr, ihm lebewohl zu sagen.
Er ging davon.
Als bald darauf Dami kam und die Abreise des Ohms erfuhr, wollte er ihm nachrennen, und selbst Amrei war entschlossen dazu; aber sie bezwang sich wieder, dem nicht nachzugeben. Sie redete und that, als ob jemand ihr jedes Wort und jede Regung befohlen hätte, und doch schweiften ihre Gedanken fort die Wege nach, die jetzt der Ohm ging. Sie ging mit ihrem Bruder Hand in Hand durch das Dorf und nickte allen Leuten zu, die ihr begegneten. Sie war jetzt erst wieder zu allen zurückgekehrt. Man hatte sie ja fortreißen wollen, und sie meinte, alle anderen müßten ebenso froh sein wie sie selber; aber sie merkte bald, daß man sie nicht nur gerne gehen ließ, sondern daß man ihr sogar zürnte, weil sie nicht gegangen war. Der Krappenzacher machte ihr die Augen auf, indem er sagte: »Ja, Kind, du hast einen Trotzkopf, und das ganze Dorf ist dir bös, weil du dein Glück mit Füßen von dir gestoßen hast. Wer weiß, ob's ein Glück gewesen wär', aber sie nennen's jetzt so, und wer dich ansieht, rechnet dir vor, was du alles aus der Gemeinde hast. Darum mach', daß du bald aus dem öffentlichen Almosen kommst.«
»Ja, was soll ich machen?«
»Die Rodelbäuerin möchte dich gern in Dienst nehmen, aber der Bauer will nicht.«
Amrei mochte fühlen, daß sie sich fortan doppelt tapfer halten müsse, damit sie kein Vorwurf treffe, weder von sich noch von andern, und sie fragte daher abermals: »Wisset Ihr denn gar nichts?«
»Freilich, du mußt dich nur vor nichts scheuen als vorm Betteln. Hast denn nicht gehört, daß der närrische Fridolin gestern der Kirchbäuerin zwei Gänse totgeschlagen hat? Der Ganshirtendienst ist nun leer, und ich rate dir, nimm du ihn.«
Das war nun bald geschehen, und am Mittag trieb Amrei die Gänse auf den Holderwasen, wie man den Weideplatz auf der kleinen Anhöhe beim Hungerbrunnen nannte. Dami half der Schwester getreulich dabei.
Die schwarze Marann' war indes sehr unzufrieden mit dieser neuen Bedienstung und behauptete, wohl nicht mit Unrecht: »Es geht einem sein Leben lang nach, wenn man so einen Dienst gehabt hat; die Leute vergessen's einem nie und sehen einen immer drauf an, und es besinnt sich jedes, dich einmal in den Dienst zu nehmen, weil es heißen wird: das ist ja die Gänsehirtin; und wenn man dich auch aus Barmherzigkeit nimmt, kriegst du schlechten Lohn und schlechte Behandlung, da heißt es immer: das ist gut genug für die Gänsehirtin.«
»Das wird nicht so arg sein,« erwiderte Amrei, »und ihr habt mir ja viel hundert Geschichten erzählt, wie eine Gänsehirtin Königin geworden ist.«
»Das war in alten Zeiten. Aber wer weiß, du bist noch von der alten Welt; manchmal ist mir's gar nicht, als wärst du ein Kind, wer weiß, du alte Seele, vielleicht geschieht dir noch ein Wunder.«
Der Hinweis, daß sie noch nicht auf der untersten Stufe der Ehrenleiter gestanden, sondern daß es noch etwas gebe, wodurch sie herabsteige, machte Amrei plötzlich stutzig. Für sich selber eroberte sie nichts weiter daraus, aber sie duldete es fortan nicht mehr, daß Dami mit ihr die Gänse hütete. Es war ein Mann, er sollte einer werden, und ihm konnte es schaden, wenn man ihm einst nachsagte, daß er vormals die Gänse gehütet habe. Aber mit allem Eifer konnte sie ihm das nicht klar machen, und er trotzte mit ihr; denn so ist es immer: gerade an dem Punkte, wo das Verständnis aufhört, beginnt eine innere Verdrossenheit. Die innere Unmacht übersetzt sich in äußeres Unrecht und erfahrene Kränkung.
Amrei freute sich fast, daß Dami viele Tage so bös mit ihr sein konnte; er lernte doch jetzt an ihr sich gegen die Welt zu stemmen und auch seinen eigenen Willen zu behaupten.
Dami bekam indes auch bald ein Amt. Er wurde von seinem Pfleger, dem Rodelbauer, als Vogelscheuche benutzt; er durfte im Baumgarten des Rodelbauern den ganzen Tag die Dassel drehen, um die Sperlinge von den Frühkirschen und aus den Salatbeeten zu verscheuchen, aber er gab das Amt, das ihn anfangs als Spiel vergnügt hatte, bald wieder auf.
Es war ein fröhliches, aber auch ein mühsames Amt, das Amrei übernommen hatte, besonders war es ihr oft schwer, daß sie nichts zu machen wußte, wodurch sie die Tiere an sich fesselte. Ja, sie waren kaum voneinander zu unterscheiden. Und es war nicht uneben, was ihr einst die schwarze Marann', als sie aus dem Moosbrunnenwalde kam, darüber sagte: die Tiere, die in Herden leben, sind jedes für sich allein dumm.
»Und ich mein' auch,« setzte Amrei fort: »Die Gänse sind deswegen dumm, weil sie zu vielerlei können: sie können schwimmen und laufen und fliegen, sind aber nicht im Wasser, nicht auf dem Boden und nicht in der Luft recht daheim . . . das macht sie dumm.«
»Ich bleib' dabei,« entgegnete die schwarze Marann', »in dir steckt noch ein alter Einsiedel.«
In der That bildete sich auch ein einsiedlerisches Träumen in Amrei aus, seltsam durchzogen von allerlei heller Lebensberechnung. Wie sie bei allem Träumen und Betrachten emsig fortstrickte und keine Masche fallen ließ, und wie hier an der Ecke beim Holzbirnenbaum der betäubende Nachtschatten und die erfrischende Erdbeere so nahe bei einander wachsen, daß sie fast aus derselben Wurzel zu sprossen scheinen, so war klares Ausschauen und träumerisches Hindämmern in der Seele des Kindes nahe bei einander.
Der Holderwasen war kein einsam abgelegener Platz, den die stille Märchenwelt, draus es glimmt und glitzert, gerne heimsucht. Mitten durch den Holderwasen führte ein Feldweg nach Endringen und nicht weit davon standen die verschiedenfarbigen Grenzpfähle mit den Wappenschildern zweier Herren, deren Länder hier aneinander stießen. Mit Ackerfuhrwerk allerlei Art zogen hier die Bauern vorüber, und Männer, Frauen und Mädchen gingen hin und her mit Hacke, Sense und Sichel. Die Landjäger der beiden Länder kamen auch oft vorüber, und der Flintenlauf glitzerte von fernher und noch weit nach. Ja, Amrei wurde fast immer vom Endringer Landjäger begrüßt, wenn sie am Wege saß, und sie sollte manchmal Auskunft geben, ob nicht dieser oder jener hier vorbeigekommen sei; aber sie wußte nie Bescheid, vielleicht auch verhehlte sie ihn aus jener innern Abneigung des Volkes und besonders der Dorfkinder, die die Landjäger für allezeit gewaffnete Feinde der Menschheit halten, so da umgehen und suchen, wen sie verschlingen.
Der Theisles-Manz, der hier am Wege die Steine klopfte, redete fast kein Wort mit Amrei; er ging verdrossen von Steinhaufen zu Steinhaufen, und sein Klopfen war noch unaufhörlicher als das Picken des Spechtes im Moosbrunnenwalde und gehörte mit zu dem Schrillen und Zirpen der Heuschrecken in den nahen Wiesen und Kleefeldern.
Aber über alles menschliche Getriebe hinüber wurde Amrei doch oft ins Reich der Träume getragen. Wie die Lerchen in der Luft singen und jubeln und nichts davon wollen: wo ist die Grenze des Ackers von diesem und jenem? ja, wie sie sich hinwegschwingen über die Grenzpfähle ganzer Länder, so wußte die Seele des Kindes nichts mehr von den Schranken, die das beengte Leben der Wirklichkeit setzt. Das Gewohnte wird zum Wunder, das Wunder wird zum Alltäglichen. Horch, wie der Kuckuck ruft! Das ist das lebendige Echo des Waldes, das sich selbst ruft und antwortet; und jetzt sitzt der Vogel über dir im Holzbirnenbaum, darfst aber nicht aufschauen, sonst fliegt er fort. Wie er so laut ruft, so unermüdlich, wie weit das tönt, wie weit man das hört. Der kleine Vogel hat eine stärkere Stimme als ein Mensch. Setz dich auf den Baum, ahme ihn nach, man hört dich nicht so weit als den faustgroßen Vogel. Still, vielleicht ist es doch ein verzauberter Prinz, und plötzlich fängt er an zu reden. Ja, gib du mir nur Rätsel auf, laß mich nur besinnen, ich finde schon die Auflösung, und dann erlöse ich dich, und wir ziehen in dein goldenes Schloß und nehmen die schwarze Marann' und den Dami mit, und der Dami heiratet die Prinzessin, deine Schwester; und wir lassen den Johannes von der schwarzen Marann' in der ganzen Welt suchen, und wer ihn findet, kriegt ein Königreich. Ach, warum ist denn das alles nicht wahr? und warum hat man denn das alles ausgedacht, wenn es nicht wahr ist?
Während die Gedanken Amreis über alle Grenzen hinausgegangen waren, fühlten sich auch die Gänse unbeschränkt und thaten sich gütlich an benachbarten Klee- oder gar Gersten- und Haferäckern. Aus ihren Träumen erwachend, scheuchte dann Amrei mit schwerer Mühe die Gänse wieder zurück, und wenn diese Freibeuter bei ihrem Regimente angekommen waren. wußten sie gar viel zu erzählen von dem gelobten Lande, wo sie sich gütlich gethan; da war des Erzählens und Schnatterns kein Ende, und noch lange sprach da und dort eine Gans wie träumend ein bedeutsames Wort vor sich hin, und da und dort steckte eine den Schnabel unter die Flügel und träumte in sich hinein.
Und wieder trug es Amrei hinaus. Schau, dort fliegen die Vögel; kein Vogel in der Luft strauchelt, auch die Schwalbe nicht in ihrem Kreuzfluge; immer sicher, immer frei. O! wer nur auch fliegen könnte! Wie müßte die Welt aussehen von da oben, wo die Lerche ist. Juchhe! Immer höher, immer höher und weiter und weiter! Ich fliege in die weite Welt zu der Landfriedbäuerin und sehe, was sie macht, und frage, ob sie noch mein gedenkt.
»Gedenkst du mein in fernen Landen?« |
So sang Amrei plötzlich aus all dem Denken, Schwirren und Sinnen heraus. Und ihr Atem, der beim Gedanken des Fluges rascher gegangen war, als schwebte sie schon wirklich in höherer Luftschicht, wurde wieder ruhig und gemessen.
Aber nicht immer glühen die Wangen in wachen Träumen, nicht immer leuchtet die Sonne hell in die offenen Blüten und in die wogende Saat. Noch im Frühling kamen jene naßkalten Tage, in denen die Blütenbäume wie frierende Fremdlinge stehen; tagelang läßt sich die Sonne kaum blicken, und ein starres Frösteln geht durch die Natur, nur bisweilen unterbrochen vom Aufzucken eines Windstoßes, der Blüten von den Bäumen reißt und fortträgt. Die Lerche allein jubiliert noch in den Lüften, wohl über den Wolken, und der Fink stößt seinen klagenden Ton aus vom Holzbirnenbaum, an dessen Stamm gelehnt Amrei steht. Der Theisles-Manz hat sich weiter unten beim rotangestrichenen hölzernen Kreuz unter die Linde gestellt, in streifenweisen Schüttern prasselt der Hagel hernieder, und die Gänse strecken die Schnäbel empor, wie man sagt, damit es ihnen das weiche Hirn nicht einschlage; aber da drüben hinter Endringen ist's schon hell, und die Sonne bricht bald hervor, und die Berge, der Wald, die Felder, alles sieht aus wie ein Menschenantlitz, das sich in Furcht ausgeweint hat und nun hellglänzend in Freude strahlt. Die Vögel in der Luft und von den Bäumen jubeln, und die Gänse, die sich im Wetterschauer zusammengedrängt und die Schnäbel verwundert ausgestreckt hatten, wagen sich wieder auseinander, und grasen und schnattern und besprechen das vorübergegangene Ereignis mit der jungen flaumweichen Brut, die dergleichen noch nicht erlebt hat. –
Gleich nachdem Amrei vom ersten Unwetter überfallen worden war, hatte sie für künftige Fälle Vorsorge getroffen. Sie trug immer einen leeren Kornsack, den sie noch vom Vater ererbt hatte, mit hinaus auf den Ganstrieb. Zwei gekreuzte Aexte mit dem Namen des Vaters waren noch deutlich auf dem Sacke abgemalt, und bei Gewittern deckte sie sich mit dem Sacke zu und wickelte sich fest hinein; da saß sie dann wie unter einem schützenden Dache und schaute hinein in den unfaßbaren wilden Kampf am Himmel. Ein kalter Schauer, der in Wehmut überging, wollte sich gar oft Amreis bemächtigen, sie wollte weinen über ihr Schicksal, das sie so allein, verlassen von Vater und Mutter, hinausstellte; aber sie gewann schon früh eine Kunst und eine Kraft, die sich schwer lernt und übt: die Thränen hinabwürgen. Das macht die Augen frisch und doppelt hell mitten in allem Trübsal und aus ihm heraus.
Amrei bezwang ihre Wehmut besonders in Erinnerung an einen Spruch der schwarzen Marann': »Wer nicht will, daß ihn die Hände frieren, muß eine Faust machen.« Amrei that so, geistig und körperlich, sah trotzig in die Welt hinein, und bald kam Heiterkeit über ihr Antlitz; sie freute sich der prächtigen Blitze und ahmte leise vor sich den Donner nach. Die Gänse, die sich wieder zusammengeduckt hatten, schauten seltsam drein, sie hatten's aber doch gut: alle Kleider, die sie brauchen, sind ihnen auf den Leib gewachsen, und für das, was man ihnen im Frühling ausgerupft hat, ist schon wieder andres da, und jetzt, da das Wetter vorüber ist, jubelt wieder alles in der Luft und auf den Bäumen, und die Gänse freuen sich des seltenen Schmauses; in drängenden Haufen zerren sie an Schnecken und Fröschen, die sich herausgewagt haben.
Von dem tausendfältigen Sinnen, das in Amrei lebte, erhielt nur die schwarze Marann' bisweilen Kunde, wenn sie, vom Walde kommend, ihre Holzlast und ihre in einem Sacke gefangenen Maikäfer und Würmer bei der Hirtin abstellte. Da sagte Amrei eines Tages: »Bas', wisset Ihr auch, warum der Wind weht?«
»Nein, weißt denn du's?«
»Ja, ich hab's gemerkt. Gucket, alles, was wächst, muß sich umthun. Der Vogel da fliegt, der Käfer da kriecht, der Has', der Hirsch, das Pferd und alle Tiere die laufen, und der Fisch schwimmt und der Frosch auch, und da steht der Baum und das Korn und das Gras, und das kann nicht fort und soll doch wachsen und sich umthun, und da kommt der Wind und sagt: bleib du nur stehen, ich will dich schon umthun, so. Siehst du, wie ich dich drehe und wende und biege und schüttle? Sei froh, daß ich komm', du müßtest sonst verhocken, und es würde nichts aus dir; es thut dir gut, wenn ich dich müd' mache, du wirst es schon spüren.«
Die schwarze Marann' sagte in der Regel auf solche Kundgebungen nichts weiter als ihren gewohnten Spruch: »Ich bleibe dabei, in dir steckt die Seele von einem alten Einsiedel.«
Nur einmal half die Marann' den stillen Betrachtungen Amreis auf eine andre Spur.
Die Wachtel schlug bereits im hohen Roggenfelde, und neben Amrei sang fast einen ganzen Tag unaufhörlich eine Feldlerche am Boden, sie wanderte hin und her und sang immer so innig, so ins tiefste Herz hinein, es war wie ein Saugen der Lebenslust. Das klang noch viel schöner als die Töne der Himmelslerche, die sich aufschwingt in die Luft, und oftmals kam der Vogel ganz nahe, und Amrei sagte fast laut vor sich hin: »Warum kann ich dir's nicht sagen, daß ich dir nichts thun will? Bleib nur da!« Aber der Vogel war scheu und versteckte sich immer wieder. Und Amrei sagte schnell überlegt vor sich hin: »Es ist doch wieder gut, daß die Vögel scheu sind, man könnte ja sonst die diebischen Sperlinge nicht vertreiben.« Als am Mittag die Marann' kam, sagte Amrei: »Ich möcht' nur wissen, was so ein Vogel den lieben langen Tag zu sagen hat, und er schwätzt sich gar nicht aus.«
Darauf erwiderte die Marann': »Schau, so ein Tierlein kann nichts bei sich behalten und in sich hinein reden; im Menschen aber spricht sich immer etwas in ihm fort, das hört auch nie auf, aber es wird nicht laut; da sind Gedanken, die singen, weinen und reden, aber ganz still, man hört's selber kaum; so ein Vogel aber, wenn er zu singen aufgehört hat, ist fertig und frißt oder schläft.«
Als die schwarze Marann' mit ihrer Holztraget fortging, schaute ihr Amrei lächelnd nach: »Die ist jetzt ein stillsingender Vogel,« dachte sie, und niemand als die Sonne sah, wie das Kind noch lange vor sich hinlächelte.
Tag auf Tag lebte Amrei so dahin; stundenlang konnte sie träumerisch zusehen, wie der Schatten vom Gezweige des Holzbirnenbaums sich von dem Winde auf der Erde bewegte, daß die dunklen Punkte wie Ameisen durcheinanderkrochen, dann starrte sie wieder auf eine feststehende Wolkenbank, die am Himmel glänzte, oder auf jagende flüchtige Wolken, die einander fortschoben. Und wie draußen im weiten Raume, so standen und jagten, stiegen und zerflossen auch in der Seele des Kindes allerlei Wolkenbilder, unfaßlich und nur vom Augenblick Dasein und Gestalt empfangend. Wer aber weiß, wie die Wolkenbildungen draußen in der Weite und im engen Herzensraum zerfließen und sich wandeln?
Wenn der Frühling anbricht über der Erde, du kannst nicht fassen all das tausendfältige Keimen und Sprossen aus dem Grunde, all das Singen und Jubeln auf den Zweigen und in den Lüften. Eine einzige Lerche fasse fest mit Auge und Ohr, sie schwingt sich auf, eine Weile siehst du sie noch, wie sie die Flügel schlägt, eine Weile unterscheidest du sie noch als dunklen Punkt, dann aber ist sie verschwunden; du hörst nur noch ein Singen und weißt nicht, von wannen es kommt. Und könntest du nur einer einzigen Lerche im freien Raume einen ganzen Tag lauschen, du würdest hören, daß sie am Morgen, am Mittag und am Abend ganz anders singt; und könntest du ihr nachspüren vom ersten zaghaften Frühlingsjauchzen an, du würdest hören, wie ganz andre Töne sie im Frühling, im Sommer und im Herbste in ihren Gesang mischt. Und schon über den ersten Stoppelfeldern singt eine neue Lerchenbrut.
Und wenn der Frühling anbricht in einem Menschengemüte, wenn die ganze Welt sich aufthut, vor ihm, in ihm, du kannst die tausend Stimmen, die es umfließen, das tausendfältige Knospen auf dem Grunde und wie es immer weiter gedeiht, nicht fassen und festhalten. Du weißt nur noch, daß es singt, daß es sproßt.
Und wie still lebt sich's dann wieder, wie eine festgewurzelte Pflanze. Da ist der Wiesenzaun beim Holzbirnenbaum, die Schlehen blühen früh auf und werden nur selten zeitig. Und welch' eine schöne Blüte hatte die Mehlbeere, wie kräftig duftete das, und jetzt sind schon kleine Birnen daraus geworden und schon färben sie sich rot, und auch die giftige Einbeere beginnt schon schwarz zu werden. Es kommen jene hellen, schnittreifen Erntetage, wo der Himmel so wolkenlos blau, daß man den ganzen Tag den Halbmond, und wie er sich dann füllt und wieder abnimmt, wie ein feingezirkeltes Wölkchen am Himmel sieht. Draußen in der Natur und im Menschengemüte ist es wie ein leises Atemanhalten vor einem Ziele.
Das war bald ein Leben auf dem Wege, der durch den Holderwasen führt! Schnellrasselnd fuhren die leeren Leiterwagen dahin, und darauf saßen Frauen und Kinder und lachten, auf und niedergehoben vom Schüttern des Wagens wie vom Lachen, und dann fuhren die garbenbeladenen Wagen leise und nur manchmal krächzend heimwärts, und Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher.
Amrei hatte von der reichen Ernte fast nicht mehr als ihre Gänse, die sich manchmal in kecker Zudringlichkeit an die beladenen Wagen herandrängten und eine herunterhängende Aehre abrauften.
Wenn das erste Stoppelfeld draußen im Feldgebreite sich aufthut, kommt bei aller Freude über den eingeheimsten Erntesegen doch auch ein gewisses Bangen in das Menschengemüt: die Erwartung ist Erfüllung geworden, und wo alles so wogend stand, wird es nun kahl. Die Zeit wandelt sich. Der Sommer wendet sich zur Neige.
Der Brunnen auf dem Holderwasen, in dessen Abfluß sich die Gänse behaglich tummelten, hatte das beste Wasser in der Gegend, und die Vorüberziehenden versäumten selten, an der breiten Röhre zu trinken, während ihr Zugvieh indes vorauslief; sich den Mund abwischend und den Davongeeilten nachschreiend, lief man ihm dann nach. Andre tränkten vom Feld heimkehrend hier ihr Zugvieh.
Amrei erwarb sich die Gunst vieler Menschen durch einen kleinen irdenen Topf den sie sich von der schwarzen Marann' erbettelt hatte, und so oft nun ein Vorüberziehender sich nach dem Brunnen begab, kam Amrei herbei und sagte: »Da könnet Ihr besser trinken.« Bei der Rückgabe des Topfes ruhte mancher freundliche Blick bald länger bald kürzer auf ihr, und das that ihr so wohl, daß sie fast böse wurde, wenn Leute vorübergingen, ohne zu trinken. Sie stand dann mit ihrem Topfe beim Brunnen, ließ volllaufen und goß aus, und wenn all dieses Zeichengeben nichts half, überraschte sie die Gänse mit einem unverhofften Bade und üherschüttete sie.
Eines Tages kam ein Bernerwägelein mit zwei stattlichen Schimmeln dahergefahren, ein breiter oberländischer Bauer nahm den Doppelsitz fast vollends ein. Er hielt am Wege und fragte:
»Mädle! hast du nichts, daß man da trinken kann?«
»Freilich, ich hol' schon.«
Behend brachte Amrei ihr Gefäß voll Wasser herbei.
»Ah!« sagte der Oberländer, nachdem er einen guten Zug gethan und absetzte, und mit triefendem Munde fuhr er dann, halb in den Krug hinein sprechend, fort: »Es gibt doch in der ganzen Welt kein solches Wasser mehr.«
Er setzte wiederum an und winkte dabei Amrei, daß sie still sein solle, denn er hatte eben wieder mächtig zu trinken begonnen, und es gehört zu den besondern Unannehmlichkeiten, während des Trinkens angesprochen zu werden; man trinkt in Hast und spürt ein Drücken davon.
Das Kind schien das zu verstehen, und erst nachdem der Bauer den Krug zurückgegeben, sagte es:
»Ja, das Wasser ist gut und gesund, und wenn Ihr Eure Pferde tränken wollt, für die ist es besonders gut; sie kriegen keinen Strängel.«
»Meine Gäul' sind heiß und dürfen jetzt nicht saufen. Bist du von Haldenbrunn, Mädle?«
»Freilich!«
»Und wie heißt du?«
»Amrei.«
»Und wem gehörst du?«
»Niemand mehr. Mein Vater ist der Josenhans gewesen.«
»Der Josenhans, der beim Rodelbauer gedient hat?«
»Ja!«
»Hab' ihn gut gekannt. Ist hart, daß er so früh hat sterben müssen. Wart', Kind, ich geb' dir was.« Er holte einen großen Lederbeutel aus der Tasche, suchte lange darin und sagte endlich: »Säh! da nimm!«
»Ich will nichts geschenkt, ich danke, ich nehm' nichts.«
»Nimm nur, von mir kannst schon nehmen. Ist der Rodelbauer dein Pfleger?«
»Jawohl.«
»Hätt' auch was Gescheiteres thun können, als dich zur Ganshirtin zu machen. Behüt dich Gott!«
Fort rollte der Wagen, und Amrei hielt eine Münze in der Hand.
»Von mir kannst schon nehmen . . . Wer ist denn der Mann, daß er das sagt, und warum gibt er sich nicht zu erkennen? Ei, das ist ein Groschen, da ist ein Vogel drauf. Nun, er wird nicht arm davon und ich nicht reich.«
Den ganzen Tag bot Amrei keinem Vorüberziehenden mehr ihren Topf an. Sie hatte eine geheime Scheu, daß sie wieder beschenkt werden könnte.
Als sie am Abend heim kam, sagte ihr die schwarze Marann', daß der Rodelbauer nach ihr geschickt habe, sie solle gleich zu ihm kommen.
Amrei eilte zu ihm, und der Rodelbauer sagte zu ihr beim Eintritte:
»Was hast du dem Landfriedbauer gesagt?«
»Ich kenne keinen Landfriedbauer.«
»Er ist ja heut bei dir gewesen auf dem Holderwasen und hat dir was geschenkt.«
»Ich hab' nicht gewußt, wer es ist, und da ist sein Geld noch.«
»Das geht mich nichts an. Sag' offen und ehrlich, du Teufelsmädle; habe ich dir zugeredet, daß du Ganshirtin werden sollst? Und wenn du es nicht noch heut am Tage aufgibst, bin ich dein Pfleger nicht mehr. Ich lasse mir so was nicht nachsagen.«
»Ich werde allen Menschen berichten, daß Ihr nicht dran schuld seid; aber den Dienst aufgeben, das kann ich nicht, den Sommer über wenigstens bleib' ich dabei. Ich muß ausführen, was ich angefangen hab'.«
»Du bist ein hagebüchenes Gewächs,« schloß der Bauer und verließ die Stube; die Bäuerin aber, die krank im Bette lag, rief: »Du hast recht, bleib nur so; ich prophezeie dir's, daß dir's noch gut geht. Man wird noch in hundert Jahren von einem, das Glück hat, im Dorfe sagen: dem geht's wie des Brosis Severin und wie des Josenhansen Amrei. Dir fällt dein trocken Brot noch in den Honigtopf.«
Die kranke Rodelbäuerin galt für überhirnt, und von einer wahren Gespensterfurcht gepackt, ohne ihr eine Antwort zu geben, eilte Amrei davon.
Der schwarzen Marann' erzählte Amrei, daß ihr ein Wunder geschehen sei: der Landfriedbauer, an dessen Frau sie so oft denke, habe mit ihr geredet, sich ihrer beim Rodelbauer angenommen und ihr etwas geschenkt. Sie zeigte nun das Geldstück. Da rief die Marann' lachend:
»Ja, das hätt' ich von selbst erraten, daß das der Landfriedbauer gewesen ist. Das ist der echte! Schenkt der dem armen Kind einen falschen Groschen.«
»Warum ist er denn falsch?« fragte Amrei, und Thränen schossen ihr in die Augen.
»Das ist ein abschätziger Vögelesgroschen, der ist nur anderthalb Kreuzer wert.«
»Er hat mir eben nur anderthalb Kreuzer schenken wollen,« sagte Amrei streng. Und hier zum erstenmal zeigte sich ein innerer Widerspruch Amreis mit der schwarzen Marann'. Diese freute sich fast über jede Boshaftigkeit, die sie von den Menschen hörte, Amrei dagegen legte gern alles zum Guten aus, sie war immer glücklich, und so sehr sie sich auch in der Einsamkeit in Träume verlor, sie erwartete doch in der That nichts; sie war überrascht von allem, was sie bekam, und war stets dankbar dafür.
»Er hat mir nur anderthalb Kreuzer schenken wollen, nicht mehr, und das ist genug, und ich bin zufrieden.« Das sagte sie noch oft trotzig vor sich hin, während sie einsam ihre Suppe aß, als spräche sie noch mit der Marann', die gar nicht in der Stube war und unterdes ihre Ziege molk.
Noch in der Nacht nähte sich Amrei zwei Flicken zusammen und den Groschen dazwischen, hing das wie ein Amulett um den Hals und verbarg es an der Brust. Es war, als ob der geprägte Vogel auf der Münze allerlei auf der Brust, darauf er ruhte, wecke; denn voll innerer Lust sang und summte Amrei allerlei Lieder, tagelang vom Morgen bis zum Abend, und dabei dachte sie immer wieder hinaus zu dem Landfriedbauer; sie kannte jetzt den Bauer und die Bäuerin und hatte von beiden ein Andenken, und es war ihr immer, als ließe man sie nur noch eine Weile da, dann kommt wieder das Bernerwägelein mit den zwei Schimmeln, drin sitzen die Bauersleute und holen sie ab und sagen: du bist unser Kind; denn gewiß erzählt jetzt der Bauer daheim von dem Begegnis mit ihr.
Mit seltsamen Blicken starrte sie oft in den Herbsthimmel, er war so hell, so wolkenrein; und auf der Erde, da sind die Wiesen noch so grün, und der Hanf liegt zum Dörren darauf gebreitet wie ein feines Netz: die Zeitlosen schauen dazwischen auf, und die Raben fliegen darüber hin, und ihr schwarzes Gefieder glitzert hell im Sonnenglanz; kein Luftzug weht, die Kühe weiden auf den Stoppeläckern, Peitschenknallen und Singen tönt von allen Aeckern, und der Holzbirnenbaum schauert still in sich zusammen und schüttelt die Blätter ab. Der Herbst ist da.
So oft Amrei jetzt abends heimkehrte, schaute sie die schwarze Marann' fragend an, sie meinte, diese müsse ihr sagen, daß der Landfriedbauer geschickt habe, um sie abzuholen, und mit schwerem Herzen trieb sie die Gänse auf die Stoppelfelder, die so entfernt waren vom Wege, und immer wieder lenkte sie nach dem Holderwasen. Aber schon standen die Hecken blätterlos, die Lerchen zwitscherten kaum mehr in schwerem niederem Fluge, und noch immer kam keine Nachricht, und Amrei hatte ein tiefes Bangen vor dem Winter, als wie vor einem Kerker. Sie tröstete sich nur mit dem Lohne, den sie jetzt erhielt, und der war allerdings reichlich. Keine ihrer Untergebenen war gefallen, ja nicht einmal eine flügellahm geworden. Die schwarze Marann' verkaufte nicht nur die Federn, die Amrei gesammelt hatte, zu gutem Preise, sondern wies auch Amrei an, daß sie sich nicht nach altem Brauche neben dem allgemeinen Geldlohn ein Stück Kirchweihkuchen geben lasse für jede einzelne Gans, die sie gehütet hatte; sie ließ sich vielmehr den Kuchen in Brot verwandeln, und so hatten sie fast den ganzen Winter vollauf Brot, freilich oft sehr altbackenes, aber Amrei hatte, wie die schwarze Marann' sagte, lauter gesunde Mauszähne, mit denen sie alles knuppern konnte.
Als man im Dorfe nichts als dreschen hörte, sagte Amrei einmal: »Den ganzen Sommer lang hört das Korn in der Aehre nichts als Lerchengesang, und jetzt schlagen ihm die Menschen mit dem Dreschflegel auf den Kopf; das klingt ganz anders.«
»In dir steckt eben ein alter Einsiedel,« lautete wiederum der Endreim der schwarzen Marann'.