Armand (Friedrich Strubberg)
Saat und Ernte
Armand (Friedrich Strubberg)

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Albert's Glück hatte jetzt schon einen Höhepunkt erreicht, zu welchem ihn seit seiner ersten Bekanntschaft mit Blancha seine kühnste Phantasie nicht hatte tragen wollen, denn er sollte sie sein eigen nennen, ohne ihrer Kindesliebe einen schmerzlichen, unangenehmen Augenblick zu bereiten.

Der Herbst, wo die Reise über Neuorleans keine Gefahr durch Krankheit mehr in sich schloß, war zu ihrer Vereinigung bestimmt, und Albert zählte jetzt schon die Wochen bis zu dem Augenblick, wo Dandon ihm seine Blancha in die Arme führen würde.

Mit gleicher unnennbarer Sehnsucht begrüßte Blancha Dandon jeden neuen Morgen, als um einen Tag ihrem vollendeten Glücke näher gerückt, und mit beseligender Geschäftigkeit machte sie alle Vorbereitungen zu ihrer Uebersiedlung nach dem schönen Texas, dem Paradiese, das die Erfüllung ihrer höchsten irdischen Wünsche in sich trug.

Auch Dandon arbeitete mit ganzer Seele an seinem Umzug nach Texas, wo er seinen Reichthum noch vermehren und sich und seiner Tochter so recht vergnügte Tage verschaffen wollte.

Er wand seine geschäftlichen Verbindungen in Natchez ab, verkaufte mit Ausnahme des Wohngebäudes all sein Grundeigenthum in der Stadt und in deren Umgebung und legte alles Geld in der Bank nieder, um mit einem bedeutenden Baarvorrath nach der neuen Heimat zu ziehen.

Der Sommer rückte vor, als Dandon von einem langjährigen Freunde, einem Pflanzer in Südcarolina, einen Brief erhielt, worin derselbe ihm anzeigte, daß sein Sohn in einigen Tagen nach Neuorleans reisen werde, um dort Sklaven für ihn zu kaufen. Er bat Dandon, diesem seinem Sohne einen Credit von zehntausend Dollars in Neuorleans zu eröffnen und den Brief in das St.-Charleshotel zu senden, in welchem sein Sohn absteigen werde.

Dandon hatte mit diesem alten reichen Freunde schon sehr oft ähnliche Geschäfte gemacht und immer dabei seinen Nutzen gehabt, darum war ihm auch diesmal der Auftrag willkommen und ohne Zeitverlust ließ er durch die Bank in Natchez dem Sohne seines Freundes die zehntausend Dollars in der Bank von Neuorleans zur Verfügung stellen und schrieb das Nähere darüber in das besagte Hotel.

Mit rückkehrender Post erhielt er denn auch die Anzeige von der Bank, daß der junge Mann das Geld empfangen habe, und nun schrieb er an dessen Vater und theilte ihm mit, daß er seinem Wunsche gemäß mit Freuden die verlangten zehntausend Dollars an seinen Sohn in Neuorleans habe auszahlen lassen.

Wer beschreibt aber Dandon's Entsetzen, als er als Antwort darauf von seinem Freunde einen Brief erhielt, worin dieser sein Bedauern aussprach, daß er sich habe von einem Schwindler anführen lassen; denn ihm selbst sei es nicht eingefallen, ihn um einen Credit für seinen Sohn anzugehen.

Er bat ihn, den gefälschten Brief mit seinen frühern Schreiben zu vergleichen, wobei er sicher finden werde, daß er betrogen worden sei.

Dandon war in Verzweiflung, er tobte, wüthete und schwur, daß er nie wieder einem Menschen oder gar einem Briefe trauen werde, doch das Geld war fort und es war keine Spur von dem Missethäter, der es genommen hatte, aufzufinden.

Der Betrug wurde vielseitig in den Zeitungen aller Staaten besprochen, zumal da er mit einem andern ungleich bedeutendern in Verbindung gebracht wurde, den man in ähnlicher Weise an dem großen Hause Gebrüder Brown & Comp. in Neuyork verübt hatte. Die Summe, welche diesen Herren durch gefälschte Empfehlungs- und Creditbriefe abgenommen war, belief sich auf hundertundzwanzigtausend Dollars, und dieselben hatten zwanzigtausend Dollars Belohnung ausgesetzt für den, welcher den Betrüger vor das Gericht bringe. Die ganze handelnde Welt Amerikas war durch diese Fälschungen in Schrecken gesetzt, denn welcher Namensunterschrift durfte man noch Glauben schenken, wenn Bankiers wie Gebrüder Brown & Comp. getäuscht werden konnten!

In allen Zeitungen war eine genaue Beschreibung von der äußern Erscheinung des Betrügers veröffentlicht worden, nach welcher er ein höchst eleganter, schöner und fein gebildeter junger Mann mit ungewöhnlich reichem blondem Lockenhaar, prächtigem Bart und sehr gewählter Toilette gewesen war. Nirgends aber konnte man die leiseste Spur von ihm entdecken; der Herbst goß schon sein Gold und seinen Purpur über die Wälder Amerikas, und noch war die äußerst gewandte, rastlos thätige Polizei dem Ziele ihrer Forschungen nicht um einen Gedanken näher gekommen.

Der schlaue, gewandte Betrüger saß aber um diese Zeit vergnügt und sorglos in einem Privatlogirhaus in Philadelphia, welches in der Südfrontstraße dieser Stadt von einer geachteten Wittwe Namens Phillips gehalten wurde. Der Name, den der junge Mann augenblicklich führte, war Caldwell und zwar Colonel Caldwell, doch in der That war es Niemand anders als Harry Williams. Er hatte schon seit einiger Zeit in diesem Hause in stiller Zurückgezogenheit gelebt und sich, da er bei Tage nicht ausging, die Zeit angenehm damit verkürzt, der ältesten Tochter der Wittwe, der wunderschönen Molly Phillips, sich angenehm zu machen und ihr von Natur weiches Herz den Versicherungen seiner Liebe zu öffnen. Er las ihr interessante, spannende Liebesgeschichten vor, wiegte sie in ihrem Schaukelstuhle und wehte ihr mit einem großen Fächer Kühlung zu, lachte, scherzte und tändelte mit ihr und drückte, wenn er dabei ihre Lilienhand erhaschte, seine Lippen in feurigem Kusse darauf, und oftmals spielten sie Piquet und Kreuzmariage zusammen. Nach dem Abendessen erging er sich in der freien Luft und wanderte nach einem entfernten Theile der Stadt, wo er die treue Lucy eingemiethet hatte, bei welcher er oft bis zu später nächtlicher Stunde verweilte. Mochte es aber auch noch so spät sein, Niemand anders öffnete ihm bei der Rückkehr in seine Wohnung die Thür als die schöne Molly, welche er dann zum Schlusse des angenehm verlebten Tags nochmals seiner aufrichtigen Zuneigung versicherte.

Bei diesem leichten, fröhlichen Liebesspiele war Harry es aber nicht gewahr geworden, daß die schöne Molly ihre Zaubernetze immer fester um ihn zog und daß sein Herz von Tag zu Tag heißer und verlangender für sie erglühte, und erst als sie ihn in einem stürmischen Ausbruch seiner Leidenschaft mit liebevollem, sehnsüchtigem Lächeln von sich drängte und ihn bat, mit ihrer Mutter zu reden, da fühlte er, daß er die rosigen Ketten, die sie um ihn geschlungen hatte, nicht mehr brechen könne.

Hingerissen von lodernder Leidenschaft bat er Molly jetzt, für einen Augenblick mit ihm auf sein Zimmer zu gehen, wogegen sich diese nur wenig sträubte. Dort angelangt, öffnete er einen seiner Koffer, aus welchem er ein Paquet mit Banknoten hervornahm.

»Sieh, Molly!« sagte er zu dem schönen Mädchen und strich ihr die glühende Wange, »Du sollst wissen, daß ich im Stande bin, eine Frau zu ernähren; dies sind sämmtlich Banknoten von fünfhundert Dollars; die Paquete, welche Du hier in dem Koffer liegen siehst, enthalten gleiche Papiere und der Beutel hier ist mit Gold gefüllt. Ich besitze über hunderttausend Dollars und gebe Dir zwanzigtausend davon als Eigenthum, wenn Du mich morgen früh heirathest und abends mit mir nach Neuyork abreisest, um von dort eine Vergnügungstour nach Europa zu machen. Besinne Dich nur nicht lange, rede mit Deiner Mutter und theile mir nach Tische Deinen Entschluß mit.«

Darauf schlang Harry in großer Aufregung seinen Arm um Molly, diese schmiegte sich mit süßer Hingebung an seine Brust und ihre rosigen Lippen versprachen ihm in wonnigem Kusse die Erfüllung seiner höchsten Wünsche.

Madame Phillips war ebenso sehr erfreut wie überrascht, einen so reichen Schwiegersohn zu bekommen, und legte noch vor Tisch die Hand ihrer geliebten Molly in die des liebenswürdigen jungen Mannes.

In der Freude ihres Herzens besuchte sie am Nachmittag eine ihr sehr befreundete Nachbarfamilie, die des Polizeicommissars Child, und theilte der Frau unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, welches Glück ihr begegnet sei. Noch redeten die beiden Damen über die Begebenheit, als Child in das Zimmer trat und dessen Frau zu Madame Phillips sagte:

»Meinem Manne müssen wir es doch erzählen, er nimmt ja den innigsten Antheil an Ihrem Wohlergehen«, worauf Madame Phillips den Commissar auch in das Geheimniß zog.

Derselbe hörte mit sichtlicher Ueberraschung und wachsender Spannung der Erzählung der Frau zu, sprach dann seine Freude über ihr und ihrer Tochter Glück aus und ließ sich schließlich ein Bild von ihrem zukünftigen Schwiegersohne entwerfen.

»Also morgen Abend schon will er mit der jungen Frau abreisen?« hob der Kommissar an.

»Jawohl, um mit dem ersten Paquetschiff nach England zu fahren.«

»Das wird eine sehr angenehme Reise für Fräulein Molly werden«, versetzte Child, augenscheinlich an etwas Anderes denkend, erhob sich von seinem Stuhle, wünschte der Frau nochmals alles Glück und verließ das Zimmer.

Harry und Molly verbrachten die Nachmittagsstunden im Wonnerausche der jungen beflügelten Liebe, und abends mußte die schwarze Dienerin sie zweimal zum Abendessen rufen, ehe sie sich von der trauten Dämmerstunde trennen konnten, welche sie in dem Parlour gehalten hatten.

An diesem Abend nahm Molly oben am Tische an der Seite ihres Verlobten, ihres Heißgeliebten Platz und dieser ließ Champagner bringen, um in dem kleinen Familienkreise die Verlobung beim schäumenden Weine zu feiern.

Da wurde die Schelle an der Hausthür gezogen und gleich darauf trat der Polizeicommissar Child in das Speisezimmer.

»Wie freue ich mich, Herr Commissar, Sie bei uns zu sehen!« rief ihm Madame Phillips zu und eilte ihm entgegen. Nun müssen Sie auch zum Abendessen bleiben.«

»Ich konnte es doch nicht unterlassen, Fräulein Molly noch einmal vor ihrer Abreise zu sehen und ihr selbst meinen Glückwunsch zu bringen«, entgegnete Child, nach dem Tische schreitend, und warf einige spähende Blicke auf Harry, der sich gleichfalls mit Molly erhoben hatte.

»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen zukünftigen Schwiegersohn, Colonel Caldwell, vorzustellen«, sagte Madame Phillips nun zu Child und wandte sich dann mit den Worten zu Harry: »Der Polizeicommissar Herr Child«, wobei sie auf diesen zeigte.

Beide verneigten sich gegenseitig und hefteten ihre Blicke aufeinander.

In Harry's äußerer Erscheinung war nicht die mindeste Veränderung zu bemerken; bei seiner Verbeugung sagte er in höflichem, ruhigem Tone:

»Es ist mir sehr angenehm, Herr Commissar, Ihre Bekanntschaft zu machen. Setzen Sie sich zu uns und erlauben Sie mir, daß ich Ihnen ein Glas reiche.«

Hiermit deutete er auf den Stuhl an seiner Seite und beide ließen sich nieder.

Wer aber in das Innere Harry's hätte blicken, wer das eisige Gefühl hätte empfinden können, das bei dem Worte Polizeicommissar ihm durch die Nerven fuhr, der würde nicht an die Möglichkeit geglaubt haben, daß ein Mensch bei solchem innern Entsetzen ein so heiteres, unbefangenes Aeußeres bewahren könne.

Harry füllte jedoch mit fester Hand das Glas des Commissars und sagte zu ihm, das seinige erhebend und mit wonnigem Lächeln nach Molly hinschauend:

»Lassen Sie uns auf das Wohl meiner schönen Braut trinken, Herr Commissar!«

»Mit großer Freude«, antwortete dieser, augenscheinlich überrascht durch die Festigkeit und Heiterkeit, mit welcher Harry die Worte sagte. Er leerte sein Glas mit einer Verneigung gegen Molly und fuhr dann in entschuldigendem Tone fort:

»Ich bedaure sehr, Fräulein, daß meine Zeit es mir nicht länger erlaubt, das Glück Ihrer Gesellschaft zu genießen, es ist aber beinahe acht Uhr und ich habe es mehreren Freunden versprochen, sie um diese Stunde in einem fernen Theile der Stadt zu treffen.«

Dabei erhob er sich, verneigte sich höflich und verließ, ohne nochmalige Glückwünsche auszusprechen, das Zimmer.

Dieser schnelle kurze Abschied des Polizeibeamten bestätigte in Harry's scharfem, beobachtendem Geiste den Verdacht, daß derselbe seinetwegen hierhergekommen und daß er nur gegangen sei, um Schritte gegen ihn zu thun, und der Entschluß war schon in ihm gefaßt, sobald der Commissar das Haus verlassen haben würde, seine Schätze aus dem Koffer zu nehmen, durch den Hof über dessen Mauer in das Nachbarhaus zu eilen und so in eine dahintergelegene Straße zu gelangen, um Philadelphia sofort Lebewohl zu sagen.

Er saß zum Aufspringen bereit und lauschte nach der Hausthür hin, da hörte er, wie dieselbe sich öffnete, zugleich aber auch ein Geräusch wie das leise hereinschleichender Fußtritte. Es wurde ihm bald heiß, bald kalt ums Herz, denn das Geräusch nahte sich der Zimmerthür, und herein trat abermals der Polizeicommissar, jetzt aber mit einem ganz andern Ausdruck auf seinen Zügen.

Erschrocken sprang die Tischgesellschaft auf, denn in der offenen Thür erschienen viele Männer, die sämmtlich ihre hellleuchtenden Blicke auf Harry richteten, während der Commissar auf diesen zuschritt und in ernstem, gebietendem Tone zu ihm sagte:

»Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie, Harry Williams«, wobei er seine Hand auf dessen Schulter legte.

Ein Schrei des Entsetzens entstieg den erbleichenden Lippen der schönen Molly und ohnmächtig sank sie in die Arme ihrer angsterfüllten Mutter, Harry aber hatte seine äußere Ruhe wiedererlangt und sagte zu dem Commissar:

»Ich verstehe Sie nicht, Herr! Ich kenne keinen Herrn Williams und weiß nicht, auf welchen Grund Sie mich verhaften dürfen.«

»Darüber habe ich Ihnen keine Auskunft zu geben. Folgen Sie mir jetzt auf Ihr Zimmer, damit ich Ihren Koffer in Empfang nehme.«

»Ich protestire feierlichst gegen die Gewalt, die Sie mir anthun, und mache Sie verantwortlich für Ihre Handlung«, versetzte Harry und schritt mit Child aus dem Zimmer, wo ihn mehrere Polizeibeamte in ihre Mitte nahmen. Dann wurden die Koffer Harry's von seinem Zimmer geholt, es fuhr ein Wagen vor das Haus, Child stieg mit dem Gefangenen und mit zwei seiner Unterbeamten in denselben ein, und fort ging es in gestrecktem Trabe nach dem Gefangenhause.

Schon am folgenden Morgen trat Child mit Harry die Reise nach Neuyork an und am zweitfolgenden Tage führte er ihn auf einem Dampfschiff den Hudsonfluß hinauf nach Albany, dem Sitz der Regierung des Staates Neuyork.

Der Proceß gegen den schlauen Fälscher machte großes Aufsehen in den ganzen Vereinigten Staaten. Harry wurde überführt, den Raub an Gebrüder Brown & Comp, sowie auch den von zehntausend Dollars an Apollo Dandon begangen zu haben, und das Gericht verdammte ihn zu zehnjähriger Haft in dem großen Staatsgefängniß Singsing am Hudsonflusse.

Es war ein entsetzlicher Augenblick für Harry, als man dort Hand an seinen Stolz, an sein schönes Lockenhaar und seinen Bart legte, ihn dann in die gescheckte grobe Gefangenenkleidung steckte und ihn schließlich als Lehrling in die Abtheilung der Schuhmacher einreihte.

Nur wenige Wochen aber beugte sich sein Geist in Ergebung unter das Schicksal, das ihn ereilt, dann begann er sich wieder aufzurichten, und mit scharfem Blicke beobachtete er seine Umgebung, um Mittel und Wege für seine Befreiung zu entdecken.

Er bot seine ganze Liebenswürdigkeit auf, sich seinen Wächtern gefällig zu erzeigen, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich hin, begann ihnen sein Schicksal und das Unrecht zu klagen, welches man ihm gethan hatte, und deutete die großen Reichthümer an, die er in Texas in Grundeigenthum besäße. Kaum aber hatten die Wächter ihm ihr Ohr geließen, als er das Gift der Verführung zum Unrecht in ihre Herzen tropfte und ihnen Schätze verhieß, wenn sie ihm zu seiner Freiheit verhelfen würden, sodaß er in Texas über seinen Grundbesitz verfügen könne.

Mit größter Vorsicht zog er in dieser Weise zwei der Gefangenwärter in sein Interesse, und bald waren dieselben bereit, ihm zu helfen, wenn sie selbst sich keiner Gefahr dabei aussetzen würden.

Den ersten Schritt, den er zu einer Aenderung in seiner Lage that, war, daß er sich krank stellte und vorgab, an Bluthusten zu leiden. Das Blut, womit er aber seine Lippen, seine Kleidung und sein Bett besteckte, zapfte er aus Wunden, die er sich selbst an seinem Körper zu diesem Zwecke beibrachte. Er täuschte den Arzt auf das vollkommenste, sodaß ihm auf dessen Verordnung die Arbeit erleichtert und erlaubt wurde, täglich gegen Abend auf der prächtigen Terrasse, welche sich vor dem Gefängniß, hoch aus den dahin schäumenden Wogen des Riesenstroms erhebt, sich in der frischen Luft zu ergehen. Nur wenige Male hatte er dies gethan, als sein Falkenauge an dem Ufer eine menschliche Gestalt erspähte, in der er seinen rettenden Engel, seine treue Lucy erkannte. Er gab ihr ein Zeichen, daß er sie bemerkt, und empfing von ihr ein gleiches.

Nun verschaffte er sich durch jene zwei Wärter Schreibmaterial und begann durch die Vermittlung derselben eine Correspondenz mit der Mulattin, welche in Knabenkleidung vom frühen Morgen bis in die späte Nacht die Ausgänge des Gefängnisses bewachte.

Eines Abends, als Harry nach Sonnenuntergang, seinen rastlosen Gedanken folgend, auf der Terrasse umherging, sah er, daß man einen am Tage vorher gestorbenen Gefangenen über die Zugbrücke aus dem Gefängniß nach dem in einiger Entfernung von demselben gelegenen Friedhof trug, um ihn dort zu begraben.

»Wenn du statt des Todten in dem Sarge lägest«, dachte Harry, »so könnte Lucy dich mit Leichtigkeit bei einbrechender Nacht aus dem Grabe erlösen«, und mit diesem Gedanken folgte sein Blick dem Leichenzug, der aus zwei Trägern und einem dritten Manne bestand, welcher Schaufeln und Hacken trug.

Der Plan, sich als Todter aus dem Gefängnisse tragen zu lassen, reifte schnell in Harry's thätigem Geiste, und er theilte ihn seinen beiden vertrauten Wärtern mit. Er überzeugte sie von der Ausführbarkeit des Unternehmens und beseitigte ihre Furcht vor Entdeckung dadurch, daß einer derselben, während sich Harry im Sarge befinden würde, verkünden solle, daß er sich von der Terrasse in den Fluß gestürzt habe.

Es lagen mehrere Kranke in dem Gefängnisse, deren

Tod man stündlich erwartete, und mit Sehnsucht verlangte Harry nach deren Scheiden aus dieser Welt.

Schon nach wenigen Tagen sollte sein Hoffen in Erfüllung gehen, denn frühmorgens überbrachte ihm einer seiner Vertrauten die Nachricht, daß einer der Kranken gestorben sei und daß derselbe am folgenden Tage nach Sonnenuntergang begraben werden würde.

Harry empfing mit hochaufjauchzender Seele diese Kunde, denn morgen schon konnte er diesen furchtbaren Mauern Lebewohl sagen, und noch einmal wollte er frank und frei auf den Flügeln seines Talents die Welt durchstreifen und auf Kosten seiner Mitmenschen sich einen irdischen Himmel schaffen.

Er schrieb sogleich an Lucy, theilte ihr sein Vorhaben mit und beschwor sie bei seiner ewigen, treuen Liebe, ihm morgen Abend auf dem Friedhof zu Hülfe zu kommen.


 << zurück weiter >>