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Groteske von Lothar Schmidt
Man hatte den Fleischermeister August Lorenz draußen auf dem Zentralfriedhof in Weißensee bei Berlin beerdigt. Außer der Witwe des Verstorbenen und den nächsten Angehörigen hatten dem Begräbnis feierlich beigewohnt eine Deputation der Berliner Fleischerinnung mit der Fahne, die auf blauseidenem Untergrunde in rotseidener Stickerei, umrahmt von goldener Inschrift, das Bild eines stattlichen Mastochsen zeigte; eine Deputation des Vereins der Fleischermeister Berlins, eine Deputation der Fleischergesellen Berlins, eine Deputation des Vereins Berliner Gastwirte und Umgegend und in corpore der Gesangverein »Freimut«, dessen Mitglied und Mitbegründer der Heimgegangene gewesen war.
Die Witwe hatte sehr viel geweint, als der Sarg in die Gruft gesenkt wurde, namentlich als die »Freimuter«, wie sie sich nannten, a cappella das schöne Mendelssohnsche Lied »Es ist bestimmt in Gottes Rat« sangen. Es flossen der armen Frau Tränen so viele, als die drei Haufen Sand, die sie ins Grab warf, Körner enthielten. Kinderlos zwar, aber glücklich hatte sie mit ihrem Lorenz gelebt, wenn man davon absah, daß der etwas rohe und jähzornige, doch sonst sehr gutmütige Mann sie des öfteren geprügelt hatte im Leben. Der Geistliche erwähnte in der Leichenrede natürlich nichts von derlei Zwistigkeiten, schon deshalb, weil er bei dem vielen Rühmlichen, das er über den Heimgegangenen zu sagen hatte, gar nicht dazu kam, seiner kleinen Schwächen zu gedenken.
Nach den Beisetzungsfeierlichkeiten fand sich ein kleiner Teil der Leidtragenden im Trauerhause wieder zusammen, wo es warmen Kaffee gab und Pfannkuchen und eine halbe Stunde darauf dampfendes Wellfleisch von dem posthum geschlachteten Schweine, dessen Schicksal durch den Tod des Meisters nicht aufgehalten worden war. Nach dem Wellfleisch gab es einen Kümmel aus Gründen der Verdauung. Als dann später von einem Herrn aus Gründen des Durstes ein Glas Wasser erbeten wurde, konnte selbstredend aus Gründen des Anstandes die Witwe nicht anders als Bier holen zu lassen. Und damit das Gelaufe nicht immer wäre, sorgte sie gleich dafür, daß ein halbes Hektoliter aufgelegt wurde, und zwar Kulmbacher, aus Gründen der Pietät, weil Kulmbacher das Lieblingsgetränk des Verblichenen gewesen war.
Wie sich das so gehörte, bildete bei diesem Zusammensein der Tote den Mittelpunkt des Gespräches, und es war viel die Rede davon, wer das umfangreiche Geschäft, das gar sehr einer handfesten, männlichen Leitung bedurfte, jetzt weiterführen sollte.
»Sie werden halt zum zweiten Male müssen heiraten, Frau Lorenz,« sagte der Fleischermeister Müller.
Sie seufzte und nickte traurig mit dem Kopfe.
»Oder das schöne Geschäft verkaufen,« meinte ein anderer.
»Nee, das tu ich nicht ... das ... na, wenn ich das täte, da würde mein Seliger sich im Grabe um und um drehen!«
Hier gab der Fleischermeister Müller seinem Schwager, dem unverheirateten Fleischergesellen Arnold, einen Wink.
»Sehr richtig, Frau Lorenz, im Grabe würde er sich umdrehen,« rief dieser, setzte sich neben die Witwe und unterhielt sich mit ihr sehr eingehend darüber, wie die Firma im Sinne des Meisters weiterzuführen wäre.
Dabei konnte es nicht fehlen, daß hin und wieder in schmerzlichem Gedenken der armen Frau einige Tränen über die Wangen liefen. Geselle Arnold, um sie zu trösten, legte beruhigend die riesige Rechte auf die Hand der Witwe.
Das sah ein anderer unverheirateter Geselle, der sich auch gern selbständig gemacht hätte, und er spottete: »Na, Arnold, da können wir ja gleich gemütlich beieinander bleiben, bis die Hochzeitsmusik aufspielt!«
Sofort entzog Frau Lorenz dem Unvorsichtigen ihre Hand, duldete aber, daß unter dem Tische sein imposanter Fuß heimlich mit dem ihrigen die Zwiesprache fortsetzte.
Da plötzlich klopfte einer vom Gesangverein »Freimut« mit dem Wellfleischteller an sein Bierglas, erhob sich und sprach: »Der Gesangverein ›Freimut‹, wo doch der Verstorbene eine Hauptperson und allezeit auch ein treuer Bundesbruder ist gewesen und nicht nur im gemischten Chor, sondern auch als Solist Hervorragendes hat geleistet, infolgedessen wir einstimmig beschlossen haben, der trauernden Witwe aus unserm Vereinsphonographen die beiden Walzen zum Geschenk zu machen, welche die beiden Nummern enthalten, die unser uns durch den Tod entrissenes Mitglied zu unserer Freude so oft gesungen hat, nämlich » Andreas Hofer« und » Im tiefen Keller sitz ich hier ...«
Auf eine Handbewegung des Redners überreichte ein anderes Mitglied die beiden Walzen, und der Sprecher fuhr fort:
»Gern, liebe Frau Lorenz, hätte ich Ihnen im Namen des Vereins auch den dazu gehörigen Phonographen übergeben, doch leider – zu unserer Schande muß ich es gestehen, daß in diesem Punkte keine Einigkeit nicht konnte erzielt werden, indem die Majorität dagegen war. Ich habe mir aber erlaubt, unseren Phonographen heute leihweise hierherzubringen, um die schöne Feier hier durch einen Solovortrag aus des verstorbenen Meisters eigenem Munde würdig zu beschließen.«
Der Redner setzte sich. Ein Gegenstand, der vordem in schwarzes Tuch eingewickelt auf das Vertiko gestellt worden war, wurde jetzt von geschäftigen Händen enthüllt, um sich als die blitzblanke Trompetenmuschel eines Phonographen zu entpuppen.
Anfangs ließ das wunderliche Instrument ein häßliches, metallisches Schnarchen, ein heiseres, blechernes Gurgeln und Grunzen vernehmen, das die Heiterkeit der meisten Anwesenden erregte. Sobald aber aus dem Chaos unentwirrbarer Geräusche eine tiefe Baßstimme sich loslöste und das allbeliebte » Zu Mantua in Banden« intonierte, ward feierliche Stille ringsumher. Alles lauschte atemlos mit frohem Ernste der wohlbekannten Stimme aus dem Jenseits.
Und seltsam: Mit der Stimme des verstorbenen Meisters, die Menschenkunst dem Tode entrissen hatte, schien August Lorenz wieder zu erstehen, wie er leibte und lebte. Man sah ihn vor sich im Frack auf dem Podium, den Mund weit geöffnet, die Augen zur Decke emporgeschlagen, mit beiden Händen sein in einen roten Kalikoeinband gefaßtes Liederbuch krampfhaft über dem rhythmisch sich hebenden und senkenden Bauch haltend.
Da blieb kein Auge trocken, so überwältigend war der Eindruck. Und als nun gar die Stelle kam, wo Andreas Hofer knien sollte, um, von Gewehrkugeln durchbohrt, niederzusinken, und der Held sich dessen weigert mit den mannhaften Worten:
»... Das tu ich nit!
Will schterben wie ich schte – he – he,
Will schterben wie ich schtritt,
Hier, wie ich schteh auf dieser Schanz!
Es leb mein guter Kaiser Franz,
Mit ihm sein Land Tiro – ol,
Mit ihm sein Land Tirol!«
Da vollends schluchzten mit der Witwe sämtliche Deputierten und auch sämtliche Mitglieder des Gesangvereins »Freimut« laut auf.
Erst als das Lied zu Ende war:
»Ade, mein Land Tiro – ol,
Ade, mein Land Tirol!«
und wieder das metallische Schnaufen, das heisere Lärmen, das blecherne Gurgeln begann, verschwand die ergreifende Vision. August Lorenz sank zu den Toten zurück, und die Lebenden besannen sich wieder aufs Essen und Trinken. Noch lange saßen sie dann im Namen des Verstorbenen beisammen und trennten sich erst, als das halbe Hektoliter Kulmbacher bis auf den letzten Rest geleert war.