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Vorwort zur ersten Auflage

Seltsame Geschichten? – Ist nicht im Grunde jede Geschichte seltsam? Wäre sie das nicht, wie könnte sie sonst eine »Geschichte« sein, aufzeichnenswert, anhörenswürdig, das Gewöhnliche verlassend? Das wohl. Aber im Grunde wird es immer zwei Arten erzählender Kunst geben. Die eine: die stofflich starke, die ihre Sujets aus dem Bereich der großen Vorgänge holt, die die starken und rücksichtslosen Menschen den mimosenhaft differenzierten Wesen vorzieht und die das Geheimnisvolle, das Leidenschaftliche und Maßlose über das Ruhige, im Gleichmaß sich Auslebende stellt. Und die andere: die milde, die, ein geruhiges Gleichmaß nie aufgebend, wohltemperiert die Schmerzen des Alltags, die Konflikte innerhalb einer geordneten Gutbürgerlichkeit in beschaulich ruhiger, verinnerlichter Darstellung festhält. Sie wird niemals über jene »Schönheitsgrenze« hinausgehen, hinter der das Groteske, das Bizarre oder gar Schreckliche, immer aber das »Seltsame« beginnt.

Tief im Menschen lebt ein Hang zu diesem Sonderbaren, hinter dem er einen geheimnisvollen Schlüssel vermutet zu den Mysterien des Lebens und des Todes. Von der gewöhnlichen stofflichen »Spannung« roher Kolportageromane bis zu der hohen künstlerischen Vollendung der Seelengemälde eines Dostojewskischen Raskolnikow umfaßt dies Seltsame eine große, ungemein vielfältig abgestimmte Skala; es umspannt die ganze Welt des Phantastischen und Bizarren, des Finstern und Gewaltigen, des Übersinnlichen, des Grotesken und Utopistischen. Im neunzehnten Jahrhundert, beginnend mit den Tagen der Romantik, blüht die novellistische Kunst des Schreckhaften, des Phantastisch-Grausigen auf; am Eingang steht der Deutsche E. T. A. Hoffmann. Er war im Besitz jener Magie, die das Leben zum Traum und den Fiebertraum lebendig macht, er hatte jene hellseherische Kraft, die ihren höchsten Ausdruck in dem Amerikaner Edgar Allan Poe fand, diesem unerreichten Meister des Imaginären, des Grotesk-Phantastischen und des Kriminellen.

Eine Auslese aus diesem weitgespannten Reich des Seltsamen soll dieses Buch geben. Es ist in drei Gruppen gegliedert. In den » Kriminalerzählungen und Detektivgeschichten« sind die Meister des verhältnismäßig jungen Genres mit charakteristischen Arbeiten vertreten; Edgar Allan Poe, der mit seinem Dupin, dem genialen Vorläufer des in diesem Buche gleichfalls auftretenden Sherlock Holmes, den literarischen Typ des scharfsinnigen Entwirrers komplizierter Verbrecherschliche geschaffen hat, steht mit seiner effektvollen Erzählung: »Der Mord in der Rue Morgue« an der Spitze. Die Auswahl ist im übrigen so getroffen worden, daß die verschiedensten Gebiete des Kriminellen, vom raffinierten, amüsant aufgeklärten Diebstahl bis zu einem interessanten Fall der gerichtlichen Psychiatrie, aufgerollt werden.

In der Gruppe » Spukgestalten und Phantasiegebilde« sind interessante Schöpfungen aus dem Gebiete des Okkulten, des Traumhaft-Visionären, des Spukhaft-Phantastischen vereint; den Dichtern der Imagination, die ihre Geistergeschichten innerlich erlebt haben und auch wohl einen starken Glauben an jene Welt in sich tragen, von der sich Schulweisheit nichts träumen läßt, sind die Skeptiker gegenübergestellt, die das Thema des Übersinnlichen ein wenig ironisch behandeln oder burlesk gestalten. Und dem phantastischen Spaß ist die Schlußgruppe des Buches gewidmet, die » Utopien und Grotesken«, die Jules Verne, den Begründer des modernen naturwissenschaftlich-utopistischen Romans, mit einer seiner drolligsten Erfindungen zeigen und seinem Schüler, dem Engländer H. G. Wells, der den Lehrer übertrifft, zu einer seiner kühnsten Geschichten das Wort geben.

Ein solches Buch zu illustrieren war wohl nicht sehr einfach; dem jungen Berliner Künstler Max Liebert, einer der besten zeichnerischen Begabungen unter den Jüngeren, ist es außerordentlich gut gelungen, sich in die Verschiedenartigkeit der Materien dieses Buches einzufühlen und das Spukhaft-Dämonische wie das Phantastisch-Groteske so zu gestalten, daß die Bilder vom Hauch des Seltsamen umwittert erscheinen.

Im Frühjahr 1914
Norbert Falk


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