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Von Villiers de l'Isle-Adam
An jenem Abend war die elegante Welt von Paris vollzählig in der Italienischen Oper versammelt. Man gab »Norma«. Es war die Abschiedsvorstellung von Maria Felicita Malibran. Nachdem die letzten Töne des Gebetes von Bellinis »Casta diva« verklungen waren, erhob sich das ganze Auditorium, um durch begeisterten Applaus die Sängerin wieder und immer wieder vor den Vorhang zurückzurufen. Man warf ihr Blumen, Schmuck, Lorbeerkränze zu. Der Schwanengesang der fast sterbenden Künstlerin hatte aller Herzen tief bewegt und ihr unsterblichen Ruhm gesichert.
Auf einem der in der Mitte befindlichen Orchestersessel saß ein noch sehr junger Mann, dessen ausdrucksvolle Gesichtszüge eine entschlossene und stolze Seele verrieten. Er schien ganz hingerissen von Bewunderung für die unvergleichliche Sängerin und applaudierte ihr so heftig, daß seine Handschuhe zerrissen.
Keiner in der Pariser Lebewelt kannte diesen jungen Herrn. Er sah nicht wie ein Provinzbewohner aus, schien vielmehr ein Fremder zu sein. Sein Anzug war vielleicht etwas zu neu, aber er war von feinstem Stoff und von tadellosem Schnitt und Geschmack. Seine ganze Erscheinung machte einen eleganten und anziehenden, aber zugleich einen etwas fremdartigen Eindruck. Man hatte das Gefühl, als passe er nicht ganz in diese Umgebung, als gehöre er an die frische Luft, an die Sonne, in die Einsamkeit; jedenfalls hatte er etwas Außergewöhnliches – aber – ist Paris nicht die Stadt des Außergewöhnlichen?
Wer war dieser junge Mann, und wie kam er hierhin?
Es war ein noch sehr junger Landedelmann, der seine Eltern früh verloren hatte, und der letzte eines edlen Geschlechtes. Er hatte vor drei Tagen seinen in Cornwallis gelegenen einsamen Herrensitz verlassen und war nach Paris gereist.
Er hieß Graf Felicien de la Vierge; er war Besitzer des Schlosses Blanchelande in der Niederbretagne. Es hatte ihn nicht mehr zu Hause gelitten. Er fühlte sich von einem brennenden Lebensdurste, einer fast fieberhaften Sehnsucht ergriffen, den Höllenpfuhl von Paris kennen zu lernen. Da hatte er sich auf den Weg gemacht und war jetzt am Ziel. Da er übrigens erst am Morgen in Paris angekommen war, sah er noch frisch und gesund aus, und seine großen Augen leuchteten in ungetrübtem Glanze.
Dies war der erste Abend seiner Jugend! Er war zwanzig Jahre alt. Es war sein Eintritt in das Leben der Welt, in den berauschenden Wirbel der Vergnügen und der Laster des großen Sündenbabels. Ein freundlicher Zufall hatte es gefügt, daß er gerade recht kam, um den Schwanengesang der Malibran, dieser Sängerin ohnegleichen, zu hören.
Wenig Augenblicke hatten ihm genügt, sich an die Pracht des Hauses, an den Glanz seiner Umgebung zu gewöhnen. Aber schon die ersten Töne der großen Sängerin hatten ihn tief ergriffen. Er vergaß seine Umgebung.
Der eigentümliche Charakter des Landes, in dem der Graf erzogen, die Einsamkeit seiner Wälder, der die Klippen umsausende rauhe Wind, das Rauschen der Bergströme und die ganze wilde Natur hatten aus diesem jungen Mann einen Poeten gemacht, und ihm war, als brächte der Klang der wunderbaren Stimme der Malibran ihm Grüße aus der Heimat und flüsterte ihm die Bitte zu, bald dahin zurückzukehren.
Während er hingerissen von seiner Begeisterung der Künstlerin applaudierte, blickte er zufällig in die Höhe und vergaß dann plötzlich, die Hände zusammenzuschlagen, er starrte unbeweglich aufwärts.
In einer der Balkonlogen war soeben eine junge Frau von hervorragender Schönheit erschienen. Sie blickte auf das Theater. Die feinen, edlen Züge ihres verlorenen Profils waren von der rötlichen Dämmerung der Loge umgeben. Sie sah aus wie eine Florentiner Camé in ihrem Medaillon. Sie war sehr bleich; ihr volles braunes Haar war mit einer Gardenie geschmückt; sie stützte die schöngebildete Hand auf die Balustrade des Balkons. Sie schien ganz allein zu sein. In dem Ausschnitt des Leibchens ihres reich mit kostbaren Spitzen verzierten schwarzen Moireegewandes steckte ein kranker Edelstein, ein bewunderungswürdiger großer Opal in goldener Fassung. Einsam und wie es schien gleichgültig auf den Saal herabblickend, schien sie die Welt vergessen zu haben und sich ganz dem Zauber hinzugeben, den die Musik auf sie ausgeübt hatte.
Der Zufall wollte, daß, während ihr Blick gleichgültig über die Menge glitt, ihr Blick plötzlich dem des jungen Mannes begegnete.
Hatten sie sich vorher gekannt? Nein – wenigstens nicht auf dieser Erde. Aber die, denen es gelungen, das Geheimnis unserer Vergangenheit zu enthüllen, mögen darüber entscheiden, ob diese beiden Wesen sich nicht dennoch in einem früheren Leben gekannt und einander besessen hatten, denn dieser eine Blick hatte sie beide davon überzeugt, daß sie zusammengehörten. Der Blitz erleuchtet plötzlich mit grellem Schein die Wogen des nächtlichen Meeres und zugleich die fern am Horizont sichtbaren silbernen Linien der Fluten. So war auch der Eindruck dieses einen Blickes in dem Herzen dieses jungen Mannes kein abgegrenzter, es war das zauberhafte, intime Aufleuchten einer anderen Welt, die sich ihm plötzlich enthüllte.
Er schloß die Augenlider, als wolle er den Blick dieser blauen Augen, die sich so tief in die seinen gesenkt, darin bewahren; dann versuchte er es, dem ihn überwältigenden Schwindel zu widerstehen. Er erhob das Auge zu der Unbekannten.
Ihr Blick ruhte immer noch auf ihm; es war, als ob diese schöne Frau sein Inneres durchschaue und als ob dies eine ganz natürliche Sache sei. Felicien fühlte, daß er erbleichte. Wie in einer Halluzination hatte er plötzlich die Empfindung, als ob zwei weiche Frauenarme ihn zärtlich umschlängen. Es war um ihn geschehen! Ihm war, als tauche durch das Wunder einer beinahe göttlichen Magie das Bild dieser schönen Frau in den Spiegel seiner Seele, als inkarniere es sich mit ihm. Er fühlte, daß sie zu ihm gehörte, daß sie seine erste, unvergängliche Liebe sei.
Die junge Frau entfaltete ihren Fächer, dessen schwarze Spitzen ihre Lippen berührten. Sie schien sich wieder ganz in das Anhören der Musik zu vertiefen. Im Begriffe, das Opernglas auf ihre Loge zu richten, ließ Felicien plötzlich die Hand sinken, ihm war, als ob dies eine Unschicklichkeit sein würde.
»Weil ich sie liebe,« sagte er sich.
Ungeduldig erwartete er das Ende des Aktes. Wie sollte er es anstellen, ihren Namen zu erfahren, mit ihr zu sprechen? Er kannte keinen Menschen. Ob er morgen an das Büro der Oper ging, um dort Erkundigungen einzuziehen? Aber wenn sie keine Abonnentin war und nur gelegentlich für diese Vorstellung einen Platz genommen hatte? Die Stunde eilte, die holde Vision würde verschwinden. Nun wohl, sein Wagen würde dem ihren zu folgen haben. Es schien ihm, als ob es kein anderes Mittel gäbe. Das weitere würde sich dann von selbst finden. In seiner großartigen Naivität tröstete er sich mit dem Gedanken: »Wenn sie auch mich bemerkt hat, wenn sie mich liebt – und sie tut es – dann wird sie mir ein Zeichen geben.«
Der Vorhang fiel. Felicien verließ den Saal sehr rasch und ging in das Peristyl, wo er vor den dort aufgestellten Statuen auf- und abging. Sein Kammerdiener näherte sich ihm, er flüsterte ihm einige Verhaltungsmaßregeln in das Ohr. Der Diener zog sich in eine Nische zurück, von wo aus er aufmerksam die das Theater verlassenden Damen beobachtete.
Der aus dem Theater dringende Lärm des Applauses und der der Sängerin dargebrachten Ovation verstummte bald, wie aller Beifall dieser Welt. – Man stieg die große Treppe hinab. Felicien blickte aufmerksam in die Höhe, wo, an den dort aufgestellten kolossalen zwei Marmorvasen vorbei, der Strom der Menge herabfloß. Er wartete.
Er würdigte weder die strahlenden Gesichter der in reichem Schmuck und mit Blumen im Haar an ihm vorübergleitenden Mädchengestalten, noch die von langen, rauschenden Seidengewändern und köstlichen Hermelinmänteln umhüllten schönen Damen eines Blicks.
Aber allmählich verlor sich diese ganze elegante Gesellschaft, ohne daß die junge Frau erschienen wäre.
Sollte sie an ihm vorübergegangen sein, ohne daß er sie erkannt hätte? Nein, das war unmöglich. Ein alter, gepuderter Diener in einem großen Pelze stand immer noch wartend im Vestibül. Auf den Knöpfen seiner schwarzen Livree leuchteten die Eppichblätter einer Herzogskrone.
Plötzlich erschien sie auf der obersten Stufe der schon einsam gewordenen Treppe. Sie war allein. Schlank und hoch, in einem Mantel von schwarzem Samt und das Haar von einer Spitzenmantille umhüllt, schritt sie, die schmale, behandschuhte Hand leicht auf das Geländer stützend, langsam die Marmortreppe hinab. Sie bemerkte Felicien, der, kein Auge von ihr lassend, neben einer Statue stand, aber sie nahm keine Notiz von ihm.
Unten angekommen, trat der alte Diener an sie heran und sie wechselte ein paar leise Worte mit ihm. Der Lakai verneigte sich ehrfurchtsvoll und zog sich dann rasch zurück. Einen Augenblick später hörte man das Geräusch eines rasch davoneilenden Wagens. Sie verließ das Vestibül und stieg nun, immer noch allein, die äußere Treppe des Theaters herab. Felicien nahm sich kaum Zeit, seinen Kammerdiener heranzuwinken.
»Kehren Sie allein in das Hotel zurück.«
Einen Augenblick später befand er sich auf dem Platze vor der Italienischen Oper und nur wenige Schritte von der Dame entfernt. Das Publikum hatte sich schon in den angrenzenden Straßen verlaufen, das Geräusch der sich entfernenden Wagen wurde immer schwächer.
Es war im Oktober. Die Nacht war klar, der Himmel von Sternen übersät.
Die Unbekannte schritt langsam und so, als ob sie des Gehens wenig gewohnt sei, des Weges dahin. Sollte er ihr folgen? Es mußte sein, er entschloß sich rasch dazu. Der Herbstwind führte ihm einen matten, von der Dame ausgehenden Ambraduft entgegen, und er vernahm deutlich das Rauschen ihres Moireekleides auf dem Asphalt der Straße.
Vor der Rue Mortigny blieb sie einen Augenblick stehen, als ob sie sich orientieren müsse, und bog dann in die ziemlich verödete und schlecht erleuchtete Rue Grammont ein.
Plötzlich hielt der junge Mann inne. Ein Gedanke durchzuckte sein Gehirn. Vielleicht war sie des Weges unkundig und eine Fremde? Vielleicht würde sie einen der nächsten Wagen heranwinken, der sie dann auf immer von ihm trennen würde? Er würde dann morgen und alle darauffolgenden Tage trostlos suchend durch die Straßen der Stadt irren, ohne sie wiederzufinden. Welch eine Aussicht! Dieser Gedanke erregte ihn so sehr, daß er darüber alle Gebote der Schicklichkeit vergaß. Er überholte die junge Frau an der Ecke der dunklen Straße, dann wandte er sich rasch um; alles Blut wich aus seinen Wangen – und er stützte sich an dem gußeisernen Pfeiler der Straßenlaterne, als er sie ehrfurchtsvoll grüßte und in sympathischer, beinahe kindlich naiver Weise sie anzureden wagte:
»Gnädige Frau,« sagte er, »Sie wissen es, ich habe Sie heute abend zum ersten Male gesehen. Da ich fürchten muß, Ihre Spur zu verlieren und Sie dann vielleicht niemals wiederzusehen, bin ich gezwungen, zu Ihnen zu sprechen – ich muß es –,« seine Stimme zitterte vor Erregung. »Ich liebe Sie,« fuhr er leise fort, »und wenn Sie gleichgültig an mir vorübergehen, werde ich sterben, ohne je wieder einer Frau ein solches Geständnis zu machen.«
Sie blieb stehen, schlug den Schleier zurück und sah Felicien forschend an. Nach einem Augenblick des Schweigens sagte sie dann mit einer Stimme, deren Wohlklang einen berückenden Reiz hatte: »Mein Herr, das Gefühl, das Sie bleich und zitternd vor mir erscheinen läßt, muß in der Tat ein tiefes sein, da Sie sich dadurch berechtigt glauben, den Schritt zu tun, den Sie eben gewagt. Ich fühle mich jedoch keineswegs beleidigt davon. Fassen Sie sich und sprechen Sie offen zu mir wie zu einer Freundin.«
Felicien war über diese Antwort nicht erstaunt, es erschien ihm ganz natürlich, daß ein so ideales Wesen ihm in idealer Weise antworte.
Die Umstände ihrer Begegnung waren in der Tat so eigentümlicher Art, daß sich alle beide daran zu erinnern hatten, daß sie von der Art seien, die die Gesetze der Schicklichkeit macht, und nicht von der, die sich ihnen sklavisch unterwirft. Das, was die Alltagsmenschen Schicklichkeit nennen, ist nur eine servile, beinahe affenhafte Nachahmung dessen, was von höher organisierten Naturen unter gewissen Umständen für richtig erachtet worden ist.
Er ergriff die ihm freundlich dargebotene Hand, neigte sich über sie und küßte sie mit einem Ausbruch naiver Zärtlichkeit.
»Wollen Sie mir die Blume schenken, die Sie heute abend im Haare getragen haben?«
Die Unbekannte nahm schweigend die bleiche Blume unter dem ihr Haar verhüllenden Spitzenschleier weg und reichte sie Felicien.
»Und nun Adieu! Adieu für immer,« sagte sie.
»Adieu,« stotterte er, »Sie lieben mich also nicht? Ach, Sie sind verheiratet?« rief er plötzlich.
»Nein.«
»Frei? O, Gott sei Dank!«
»Dennoch müssen Sie mich vergessen. Es muß sein, mein Herr.«
»Aber Sie sind mir teurer als das Leben! Ich kann nicht mehr ohne Sie sein, kann nur in der Luft leben, in der Sie atmen. Ich verstehe nicht, was Sie mir da sagen. Ich soll Sie vergessen? Und warum?«
»Weil ich das Opfer eines schweren Mißgeschickes bin. Es würde Sie in den Tod betrüben, wenn ich es Ihnen gestehen wollte, das ist unnötig.«
»Welches Unglück vermöchte zwei Menschen, die sich lieben, voneinander zu trennen?«
» Mein Unglück.«
Als sie diese Worte aussprach, schloß sie die Augen.
Die Straße war absolut einsam und verlassen. Sie waren vor einem Tore angekommen, das zu einem eingeschlossenen Platz, einer Art traurigen Gartens, führte; es war weit geöffnet und schien ihnen seine Zuflucht anzubieten.
Felicien umfaßte sanft ihre Taille, was sie geschehen ließ, und wie ein verwöhntes, geliebtes Kind, das seinen Willen haben muß, führte er sie in das Dunkel dieses verschwiegenen Ortes.
Das berauschende Gefühl des Knisterns der starren Seide, die er unter seiner Hand fühlte, erregte ihn so sehr, daß er kaum dem leidenschaftlichen Wunsche widerstehen konnte, sie an sich zu ziehen und einen Kuß auf ihre Lippen zu drücken. Er wurde Herr dieser Versuchung, aber er fühlte sich von einem Schwindel erfaßt, der ihm die Sprache raubte.
»Mein Gott, wie ich Sie liebe,« war alles, was er mit zitternder Stimme stammelte.
Da neigte das junge Weib ihr Haupt auf die Brust dessen, her sie liebte, und sagte in bitterem, verzweiflungsvollem Tone: »Ich verstehe Sie nicht. Ich sterbe vor Scham. Ich höre Ihre Worte nicht! Ich würde Ihren Namen nicht verstehen, Ihren letzten Seufzer nicht vernehmen! Ich höre das Pochen Ihres Herzens nicht, das meine Stirn, meine Augenlider bewegt. Sehen Sie nicht die furchtbaren Qualen, die ich erdulde? Ich bin ... ach! Ich bin taub!«
»Taub!« rief Felicien, von einem furchtbaren Schrecken ergriffen und von Kopf bis zu den Füßen zitternd.
»Ja. Seit Jahren. O, die menschliche Wissenschaft ist ohnmächtig gegen dieses Leiden und vermag es nicht, mich von der Qual der tiefen Stille zu erlösen, die mich umhüllt. Ich bin taub wie der Himmel, taub wie das Grab, mein Herr. Ich möchte den Tag verfluchen, an dem mir dieses Leid widerfahren. Aber es ist nichts daran zu ändern. Also, lassen Sie mich.«
»Taub,« wiederholte Felicien, der von dieser ihm unglaublich erscheinenden Offenbarung ganz vernichtet schien und außerstande war, über das nachzudenken, was er sagte. »Taub?«
Dann rief er lebhaft: »Aber Sie waren doch heute abend in der Italienischen Oper – Sie haben der Malibran Beifall zugeklatscht?«
Er hielt inne, da er dachte, daß sie ihn nicht verstehen könne. Ihr Geständnis erschien ihm so furchtbar, daß es ihm beinahe lächerlich vorkam.
»In der Italienischen Oper?« antwortete sie, selbst lachend. »Sie vergessen, daß ich Muße gehabt, den Ausdruck der Gefühle auf den Gesichtern zu studieren. Wäre ich die einzige, die dieses Studium gemacht? Wir armen Menschen müssen uns in das fügen, was das Schicksal über uns verhängt, es ist unsere Pflicht, das Beste daraus zu machen. Diese edle Künstlerin verdiente es wahrlich, daß ich ihr ein Zeichen der Sympathie gab. Meinen Sie nicht? Und dann: mein Beifall bedeutete ihr mehr als der der enthusiastischsten Dilettanten. Ich bin selbst früher Musikerin gewesen.«
Bei diesen Worten sah Felicien sie ganz verwirrt an und, sich zu einem Lächeln zwingend, sagte er: »O, wollen Sie mit einem Herzen spielen, das Sie bis zur Verzweiflung liebt? Sie behaupten, daß Sie meine Worte nicht verstehen, und dennoch antworten Sie mir?«
»Ach,« sagte sie, »Sie wundern sich darüber, weil Sie das, was Sie mir sagen, für rein persönlich halten, mein Freund, und Sie sind ganz aufrichtig. Dennoch sind Ihre Worte mir nicht neu. Sehen Sie, mir ist, als sprächen Sie in einem Dialoge mit mir, von dem ich im voraus alle Antworten weiß. Das ist mir seit Jahren so gegangen, es ist immer dasselbe. Es ist eine Rolle, die ich spiele, deren Phrasen mir mit wahrhaft schrecklicher Notwendigkeit vorgeschrieben sind. Ich bin dieser meiner Rolle so sicher, daß, wenn ich Sie erhörte – und das würde ein Verbrechen sein –, wenn ich mein trauriges Los nur wenige Tage mit Ihrem Geschicke vereinigen wollte, dann würden Sie jeden Augenblick die schreckliche Mitteilung vergessen, die ich Ihnen gemacht. Ich würde in Ihnen die Illusion erwecken, genau so viel zu geben wie jede andere Frau, das versichere ich Ihnen. Bedenken Sie, daß die gleichen Umstände dieselben Worte diktieren und daß der Ausdruck der Gesichter meist mit diesen übereinstimmt. Sie würden mir kaum glauben, daß ich Ihre Worte nicht verstanden, so sehr würde ich es verstehen, sie zu erraten und von Ihren Lippen zu lesen. Denken wir also nicht mehr daran. Ich bitte Sie darum.«
Diesmal fühlte er sich tief erschreckt. »Ach,« sagte er, »woher nehmen Sie das Recht, mir so grausame Dinge zu sagen? Wenn es wirklich so ist, wie Sie behaupten, so bin ich dennoch bereit, mein Los mit Ihnen zu teilen, und wenn es das ewige Schweigen bedeuten sollte. Warum mich von Ihrem Unglück ausschließen, da Sie Ihr Glück mit mir geteilt haben würden? Meine Liebe wird Ihnen Ersatz bieten für alles, was Sie entbehren müssen.«
Die junge Frau zitterte, sie sah Felicien mit strahlenden Augen an.
»Wollen Sie mir Ihren Arm reichen und ein wenig mit mir diese dunkle Straße heraufgehen? Wir wollen uns einbilden, daß es Frühling sei und daß wir in hellem Sonnenschein durch eine Allee von schattigen Bäumen wandelten. – Auch ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, was nach Ihnen niemals wieder das Ohr eines Mannes von mir vernehmen wird.«
Die beiden Liebenden, deren Herz unter der Last einer unerträglichen Traurigkeit seufzte, gingen nun Hand in Hand, wie zwei Kinder.
»Hören Sie denn,« sagte sie, »Sie, der Sie den Klang meiner Worte vernehmen können. Wie konnte es geschehen, daß ich, als Sie mich anredeten, sofort fühlte, daß es in keiner unlauteren Absicht geschah, warum habe ich Ihnen geantwortet, wissen Sie es? Nur deshalb, weil ich die Wissenschaft errungen, in den Gesichtszügen und den Bewegungen anderer die Gefühle zu erkennen, die die Handlungen der Menschen bestimmen; es ist das ganz natürlich, aber etwas ganz Besonderes ist es, daß ich die Fähigkeit besitze, die Tiefe und den Wert der Gefühle dessen, der zu mir spricht, mit unendlicher Genauigkeit und Sicherheit bestimmen zu können. Als Sie sich entschlossen, zu tun, was Sie selbst eine Taktlosigkeit nennen würden, als Sie mich ohne weiteres anredeten, da war ich vielleicht die einzige Frau, die im selben Augenblicke die wirkliche Bedeutung Ihrer Worte erfassen und würdigen konnte.
Ich habe Ihnen vorurteilslos geantwortet, weil es mir schien, als leuchte von Ihrer Stirn das unbekannte heilige Zeichen, das jene Auserlesenen verkündet, deren Geist sich nicht von den Leidenschaften verdunkeln und beherrschen läßt, sondern dem vielleicht alle Emotionen des Lebens zur Vervollkommnung dienen, und die sich ihr Ideal nicht rauben lassen. Nun aber, mein Freund, will ich Ihnen mein Geheimnis enthüllen. Das traurige Verhängnis, das mein irdisches Glück zerstörte und mich so schwer getroffen hat, hat dennoch dazu gedient, mich innerlich freizumachen. Es hat mich befreit von jener geistigen Taubheit, der die Mehrzahl der Frauen zum Raube geworden ist. Es hat meine Seele für die Offenbarungen jener ewigen Dinge empfänglich gemacht, die den meisten meines Geschlechtes verschlossen sind. Sie verdanken der Schärfe ihres Gehörs nur die Fähigkeit, das Äußerliche des zartesten und reinsten Glücks zu verstehen, aber der innerlichste, intensivste Genuß bleibt ihnen verschlossen. Sie gleichen den Hesperiden, jenen Hüterinnen der herrlichsten Früchte, deren Zauberkraft sie selbst niemals kennen lernen. Ach, ich bin taub ... aber sie! Was hören sie denn? ... Was hören sie aus den an sich gerichteten Liebesworten anders heraus als ein verwirrtes Geräusch, das in Einklang ist mit dem Gesichtsausdruck dessen, der zu ihnen spricht? So geschieht es, daß sie nur den äußern Klang der Worte vernehmen, während der tiefe, innere, geheime Sinn ihnen verloren geht und sie sich damit begnügen, die Absicht zu erkennen, ihnen schmeicheln zu wollen, was ihnen völlig genug ist. Versuchen Sie es, einer von ihnen die unendliche Tiefe der Liebe und Leidenschaft, deren Naturen wie die unsere fähig ist, klarzumachen. Wenn Ihre Worte bis zu ihrem Gehirn gelangen sollten, werden sie dort einen anderen Sinn annehmen, wie eine reine Quelle getrübt wird, wenn sie durch einen Sumpf fließt. So daß in Wirklichkeit sie die Frauen sind, die nicht verstanden haben. Sie sagen, das Leben vermöge es nicht, zu ideale Träume zu erfüllen, man verlangt zu viel davon. Ach, als ob das Leben nicht von den Lebenden gemacht würde.«
»Mein Gott,« murmelte Felicien.
»Ja,« fuhr die Unbekannte fort, »die Frauen entschlüpfen dieser Beschaffenheit ihrer Natur, ich meine der geistigen Taubheit, kaum, es sei denn, daß es um den Preis eines so ungeheuren Lösegeldes geschähe, wie ich es zahlen mußte. Ihr Männer glaubt die Frauen von einem Geheimnis umgeben, weil sie sich nur in Handlungen auszudrücken verstehen. Sie erscheinen euch rätselhaft, und gerade das schmeichelt den Frauen, und sie sind stolz darauf und legen es euch nahe, das Rätsel ihres Wesens zu erraten. Der Mann fühlt sich geschmeichelt, der erwartete Errater ihres Geheimnisses zu sein, er zerstört sein Leben, um eine Sphinx von Stein zu heiraten. Keinem fällt es ein, daran zu denken, daß ein Geheimnis, so schrecklich es sein möge, dem Nichts identisch ist, solange es nicht offenbart wird.«
Die Unbekannte hielt inne.
»Ich bin heute abend bitter,« fuhr sie dann fort, »und ich will Ihnen gestehen, aus welchem Grunde ich es bin. Ich beneide meine Mitschwestern nicht mehr um das, was sie besitzen, nachdem ich mich davon überzeugt habe, welchen Gebrauch sie davon machen. Ach, ich selbst hätte es vielleicht nicht besser gemacht. Aber nun sind Sie gekommen, Sie, den ich geliebt haben würde. Ich sehe, ich erkenne Sie, ich lese Ihre Seele aus Ihren Augen. Sie bieten mir Ihr Herz und Ihre Hand an, und ich kann dieses köstliche Geschenk nicht annehmen.«
Die junge Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Oh,« antwortete ganz leise und mit Tränen in den Augen Felicien, »aber ich würde doch den Hauch deiner Lippen küssen dürfen, verstehe mich doch! Das Schweigen unserer Liebe wird sie noch reiner und göttlicher machen. Meine Leidenschaft wird durch dein Leiden, durch das gemeinschaftlich getragene Unglück nur wachsen. Geliebtes Weib, gib dich mir zu eigen, lebe für mich!«
Sie blickte ihn mit von Tränen überfluteten Augen an und legte dann leise die Hand auf seinen Arm.
»Sie werden selbst zugeben müssen, daß es unmöglich ist,« sagte sie freundlich und bestimmt. »Hören Sie mich bis zum Schlüsse. Ich will Ihnen alles sagen, Ihnen mein ganzes Inneres offenbaren ... danach werde ich nie mehr zu Ihnen sprechen. Sie werden mich niemals wiedersehen, aber ich möchte nicht von Ihnen vergessen werden.«
Sie sprach leise und mit bewegter Stimme und ging, das Haupt auf die Schulter des jungen Mannes gestützt, langsam neben ihm her:
»Zusammen leben, sagen Sie! Sie vergessen, daß, wenn die Erregung der Flitterwochen vorüber ist, das Leben einen schlichten, intimen Charakter annimmt, in dem das Bedürfnis, sich einander schrankenlos mitzuteilen, ein unüberwindliches ist. Für viele, die sich geheiratet haben, kommt dann der grausame Augenblick, wo sie erkennen, daß sie sich ineinander getäuscht, und sie müssen nun die Strafe dafür ertragen, daß sie einander nicht besser zu kennen getrachtet und sich durch trügerische Qualitäten täuschen ließen, die im wirklichen Leben nicht stichhalten. »Keine Illusionen mehr,« sagten sie und verbergen hinter einem trivialen Lächeln die schmerzliche Verachtung und die Verzweiflung, die sie über eine so herbe Enttäuschung empfinden.
Sie können es nicht begreifen, daß sie erhielten, was sie begehrt hatten. Sie wollen es nicht glauben, daß – außer dem Gedanken, der alles verwandelt – auf dieser Welt alles nur Illusion ist. Daß jede Leidenschaft, die nur auf gegenseitigem sinnlichem Wohlgefallen beruht, bald jedem, der sich ihr ergibt, bitter wie der Tod wird. Studieren Sie aufmerksam Ihre Mitmenschen, und Sie werden sehen, daß ich recht habe.
Was aber sollte aus uns werden, wenn jener verhängnisvolle Augenblick käme? ... Ich würde den Blick Ihrer Augen haben – aber den Klang Ihrer Stimme nicht kennen. Sie würden mir Ihr Lächeln schenken, aber ich würde Ihre Worte nicht vernehmen, ach, und ich fühle es, daß Sie nicht reden würden wie die andern.
Ihre einfache Seele wird sich gewiß mit größter Lebhaftigkeit ausdrücken, nicht wahr? Die Musik Ihrer Worte wird alle Nuancen Ihres Gefühls verraten. Die unaussprechliche Musik, die in der Stimme des Geliebten verborgen ruht, diese Musik, die uns betört und erbleichen läßt – ich würde dazu verdammt sein, sie niemals zu vernehmen. Ach! Jener große Beethoven, der auf die erste Seite seiner göttlichen Sinfonie die Worte schrieb: »So schlägt das Schicksal an die Pforte!« er hat den Ton jedes einzelnen Instrumentes gekannt, ehe ihn dasselbe Schicksal erreichte, dessen Opfer ich geworden!
Während er komponierte, vernahm sein Geist die Töne seiner Musik. Aber ich Unglückselige! Wie könnte ich mich je des Klanges Ihrer Stimme erinnern, mit dem Sie mir zum ersten Male gestehen würden: Ich liebe dich?«
Als er diese Worte gehört, war Felicien sehr still geworden, sie hatten ihn mit Grauen erfüllt.
»Oh,« rief er dann, »bedenke, was du tust, Geliebte, indem du mich in solches Elend stürzest. Ich habe schon mit einem Fuße die Schwelle des Paradieses überschritten, und nun willst du die zur Glückseligkeit führende Pforte vor mir verschließen. Bist du denn die gefährlichste Versucherin? ... Mir scheint beinahe, als leuchte in deinen Augen ein freudiger Stolz, mich in das Elend gestürzt zu haben.«
»O du,« sagte sie, »glaube es mir, ich werde dich niemals vergessen. Wie wäre es möglich, vorher geahnte Worte zu vergessen, selbst wenn man ihren Klang nicht gehört?«
»Geliebte, du zerstörst mein schönstes Hoffen, denn du allein bist mein Glück. Wenn wir vereint leben könnten, so würden wir alles Leid gemeinsam tragen. Würde unsere Liebe uns nicht den Mut geben, dem Schicksal Trotz zu bieten? O, laß dich erbitten! Sei mein.«
Mit einer unerwarteten, aber fein weiblichen, unnachahmlichen Bewegung bot sie ihm den Mund zum Kusse, und ein paar Sekunden lang ruhten ihre Lippen aufeinander.
»Freund! Ich sage Ihnen, daß es unmöglich ist. Es würden Stunden der Melancholie kommen, wo mein Gebrechen Sie reizen würde und wo Sie Gelegenheit suchen würden, es noch lebhafter zu empfinden! Sie würden es nicht vergessen können, daß ich taub bin, würden es mir nicht vergeben, das versichere ich Ihnen. Sie würden ganz von selbst dazu kommen, nicht mehr mit mir zu sprechen, in meiner Nähe stumm zu sein, nur durch eine Bewegung der Lippen mir zu sagen, daß Sie mich lieben, aber der Klang Ihrer Stimme würde das tiefe Schweigen um uns nicht unterbrechen. Sie würden vielleicht dazu kommen, sich schriftlich mit mir zu verständigen, und das würde sehr quälend für mich sein. Nein, nein, es ist unmöglich. Ich darf mein Leben nicht in solcher Weise entwerten. Ich darf meine Seele nicht gegen die Ihre eintauschen. Und dennoch sind Sie der mir vom Schicksal bestimmte Mann. Gerade deshalb aber ist es meine Pflicht, mich Ihnen vorzuenthalten. Ich will Ihren Namen nicht wissen ... Ich will ihn nicht lesen. Adieu! ... Adieu! ...«
Man hatte die Ecke der Rue Grammont erreicht. Eine herrschaftliche Equipage hielt dort, und Felicien erkannte beim Schein der Wagenlaternen den alten Diener, den er schon im Vestibül des Theaters gesehen hatte. Die junge Frau winkte ihm. Er öffnete die Tür des Wagens.
Sie entzog Felicien ihren Arm und schlüpfte leicht wie ein Vogel in den Wagen, der rasch davonrollte. Einen Augenblick später war er verschwunden.
Der Graf kehrte am andern Tage in sein Schloß zurück. Man hat nie wieder von ihm gehört.
Jedenfalls konnte er sich rühmen, bei seinem ersten Eintritt in das Leben einer Frau begegnet zu sein, die den Mut ihrer Meinung hatte.
(Deutsch von Hanns Heinz Ewers. Aus den » Grausamen Geschichten« von Villiers de l'Isle-Adam, Verlag Georg Müller, München)
[An dieser Stelle von Marie Luise Becker, »Die verschwundene Braut« aus Urheberrechtsgründen gelöscht. © bis 31.12.2030. Re.]