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Pique-Dame

Von Alexander Puschkin

I.

Initial Beim Gardekavalleristen Narumoff spielte man Karten. Die lange, winterliche Nacht war unversehens vergangen, und um fünf Uhr morgens kam man endlich dazu, sich zum Abendessen niederzusetzen. Jene, die gewonnen hatten, aßen mit großem Appetit, während die anderen zerstreut vor ihren leeren Gedecken saßen. Endlich kam der Champagner – die Unterhaltung wurde lebendiger, und alle begannen sich an ihr zu beteiligen.

»Nun, wie war's, Surin?« erkundigte sich der Gastgeber.

»Ich habe verloren, wie gewöhnlich. Das Pech verfolgt mich wirklich ganz außerordentlich: ich spiele vorsichtig, verliere nie die Fassung, man kann mich durch nichts aus der Ruhe bringen – und doch komme ich nicht zum Gewinnen.«

»Und hast du denn noch niemals etwas »riskiert«? Noch niemals alles auf eine Karte gesetzt? Wirklich, ich bewundere deine Charakterfestigkeit!«

»Da müßten Sie eigentlich unsern Herrmann noch mehr bewundern,« sagte einer der Gäste, indem er mit einer Kopfbewegung nach einem jungen Genieoffizier zeigte. »Der hat noch in seinem ganzen Leben keine Karten in die Hand genommen, und doch sitzt er allabendlich bis zum Morgengrauen hier bei uns und schaut dem Spiele zu.«

»Das Spiel übt eine große Anziehungskraft auf mich aus,« mischte sich nunmehr Herrmann ins Gespräch. »Aber da ich nicht in der Lage bin, das Unentbehrliche zu opfern, um damit Überflüssiges zu gewinnen, muß ich mich eben darauf beschränken, als Zuschauer am Spiel teilzunehmen.«

»Herrmann ist ein Deutscher, und als solcher ist er sehr berechnend – das ist ja ganz klar,« bemerkte Tomski, »aber wenn mir jemand unbegreiflich ist, so ist das meine Großmutter, die Gräfin Anna Feodorowna.«

»Wieso? Weshalb?« riefen die Gäste.

»Nun,« fuhr Tomski fort, »ich kann beim besten Willen nicht begreifen, weshalb meine Großmutter nicht mehr Karten spielt.«

»So, finden Sie denn das so seltsam, daß eine achtzigjährige Greisin nicht mehr pointiert?« lächelte Narumoff.

»Na, dann scheinen Sie ja von der Sache nichts zu wissen?« sagte Tomski.

»Nein! Von welcher Sache denn?«

»Nun, so hören Sie zu. Ich muß vorausschicken, daß meine Großmutter vor sechzig Jahren nach Paris gefahren und dort sehr in Mode gekommen war. Die Leute liefen ihr nur so nach, um die » Venus moskovite« zu sehen. Richelieu machte ihr stark den Hof, und meine Großmutter versichert noch heute, daß er aus Gram über ihre Grausamkeit beinahe Hand an sich gelegt habe. Zu jener Zeit wurde unter den Damen sehr viel »Pharao« gespielt. Eines Tages verspielte nun meine Großmutter, bei einer Partie am Hofe, an den Herzog von Orleans eine recht große Summe auf Ehrenwort. Nachdem sie nach Hause zurückgekehrt war, teilte die Großmutter, während sie sich die Schönheitspflästerchen vom Gesicht löste und den Reifrock ablegte, dem Großvater ihren Spielverlust mit und befahl ihm, die Schuld umgehend zu begleichen. Mein verstorbener Großvater war, soweit ich mich entsinnen kann, im Grunde weiter nichts als eine Art Haushofmeister seiner Gattin. Er fürchtete sie wie das Feuer. Als er jedoch diesmal von dem ungeheuren Spielverlust vernahm, geriet er außer sich, holte sein Rechnungsbuch herbei und bewies ihr klipp und klar, daß sie in dem einen halben Jahr über eine halbe Million verausgabt habe. Des weiteren erklärte er ihr, daß sie hier in Paris weder Moskauer noch Saratower Güter besäße, und weigerte sich infolgedessen ganz entschieden, die Zahlung zu leisten. Meine Großmutter verabfolgte ihm daraufhin eine Ohrfeige und ging zum Zeichen ihrer Ungnade allein zu Bett Am andern Tag ließ sie ihn wieder rufen, denn sie war überzeugt, daß die häusliche Strafe genügend auf ihn gewirkt hatte. Aber sie fand ihn unerbittlich. Zum allererstenmal in ihrem Leben bequemte sie sich dazu, ihm Erklärungen abzugeben. Sie hoffte, ihn dadurch von der Notwendigkeit der Bezahlung überzeugen zu können, daß sie ihm in herablassender Art zu beweisen suchte, Schuld und Schuld wäre nicht immer das gleiche, und daß ein großer Unterschied zwischen einem Prinzen und einem Wagenbauer bestehe. Aber alles war vergebens! Der Großvater revoltierte: »Nein, und damit Schluß!« Und die Großmutter stand da und wußte nicht, was sie tun sollte. Nun war sie damals gerade seit kurzer Zeit mit einem seltsamen Menschen bekannt. Sie haben gewiß auch schon vom Grafen St. Germain erzählen gehört. Dann wissen Sie auch, daß er sich für den ewigen Juden, für den Erfinder des Lebenselixiers, des Steins der Weisen usw. ausgab. Man lachte über ihn und sah ihn allgemein als einen Charlatan an, während Casanova in seinen Memoiren sogar behauptet, daß er ein Spion gewesen sei. Jedenfalls nannte der Graf St. Germain ein äußerst würdevolles Äußere sein eigen und war in der Gesellschaft von bestrickender Liebenswürdigkeit. Meine Großmutter verehrt ihn noch heutigen Tages in direkt schwärmerischer Weise und pflegt sehr böse zu werden, wenn man von ihm ohne gebührende Achtung redet. Meine Großmutter wußte also damals, daß St. Germain über große Geldsummen zu verfügen hatte; so entschloß sie sich denn, ihn um seine Hilfe anzugehen, und sandte ihm zu diesem Zweck ein Briefchen, in dem sie ihn unverzüglich zu sich rief. Der sonderliche Graf stellte sich auch umgehend ein und fand sie in furchtbarster Zerfahrenheit. Sie beschrieb ihm in den dunkelsten Farben, was sie alles unter der barbarischen Behandlung ihres Mannes zu leiden habe, und schloß mit den Worten, daß sie ihre ganze Hoffnung auf die Freundschaft und Liebenswürdigkeit des Grafen St. Germain baue. St. Germain dachte nach. ›Es wäre mir möglich. Ihnen mit der gewünschten Summe beizuspringen,‹ meinte er schließlich, ›allein ich weiß, daß Sie sich dann nicht eher Ruhe gönnen würden, als bis Sie Ihre Schuld bei mir getilgt hätten, und ich wünsche nicht, daß Sie sich etwa aus diesem Grunde in erneute Verlegenheiten setzen. Doch es gibt noch ein anderes Mittel – Sie könnten Ihre Schuld ja am Spieltische wieder zurückgewinnen.‹

›Aber mein lieber Graf,‹ antwortete meine Großmutter. ›Ich sage Ihnen ja, daß ich überhaupt kein Geld mehr habe.‹

›Geld brauchen Sie dazu auch nicht,‹ entgegnete St. Germain. ›Hören Sie mich, bitte, nur an.‹

»Und nun teilte er ihr ein Geheimnis mit, für das wohl jeder von uns gern eine große Summe bezahlen würde.« – Die jungen Spieler verdoppelten ihre Aufmerksamkeit. Tomski zündete sich eine Pfeife an, machte ein paar Züge und fuhr dann fort: »Noch am selben Abend erschien meine Großmutter in Versailles zum › Jeu de la reine‹. Der Herzog von Orleans hielt die Bank. Meine Großmutter entschuldigte sich leichthin, daß sie den Schuldbetrag nicht mitgebracht habe, dichtete sich zu ihrer Rechtfertigung ein kleines Histörchen zurecht und begann dann gegen den Herzog zu setzen. Sie wählte drei Karten und setzte diese drei nacheinander; alle drei gewannen, und meine Großmutter hatte sich damit vollkommen quitt gespielt.«

»Der reine Zufall,« bemerkte einer der Gäste.

»Ein Märchen,« sagte Herrmann.

»Vielleicht waren die Karten gezeichnet,« orakelte ein Dritter.

»Das glaube ich nicht!« antwortete Tomski überzeugt.

»Ei,« sagte Narumoff, »du hast eine Großmutter, die drei Gewinnkarten der Reihe nach erraten kann, und doch hast du ihr diese Kabbalistik bis heute noch nicht abgeguckt?«

»Zum Teufel auch,« brummte Tomski. »Sie hat vier Söhne gehabt, darunter meinen Vater, und alle vier waren ganz wilde Spieler; und doch hat sie nicht einem von ihnen ihr Geheimnis entdeckt, obgleich das weder jenen noch mir unangenehm gewesen wäre. Ich weiß von der ganzen Geschichte nur, was mir mein Onkel, der Graf Iwan Iljitsch, auf Ehrenwort erzählt hat. Danach soll der verstorbene Tschaplitzki – derselbe, der in Not und Elend starb, nachdem er Millionen verschwendet – einst in seiner Jugend am Spieltisch etwa dreihunderttausend Rubel verloren haben. Soweit ich mich entsinnen kann, an Soritsch. Er war in wilder Verzweiflung. Meine Großmutter, die sonst den Leichtsinn der jungen Leute im allgemeiner, streng verurteilte, fühlte diesmal Erbarmen und bezeichnete ihm drei Karten, die er nacheinander setzen sollte. Dann nahm sie ihm das Ehrenwort ab, daß er nach diesen drei Karten in Zukunft nie mehr spielen werde. Tschaplitzki erschien am nächsten Tage bei seinem Besieger, und beide setzten sich sofort an den Kartentisch. Tschaplitzki setzte auf die erste Karte fünfzigtausend und gewann; dann schob er den ganzen Gewinn auf die zweite Karte und gewann ebenfalls, und als er endlich mit der dritten Karte wieder herauskam, war er nicht nur quitt, sondern hatte sogar ein ganz ansehnliches Summen zugewonnen ... Jedoch – es wird Zeit, schlafen zu gehen. Die Uhr ist schon dreiviertel sechs.«

Tatsächlich war es draußen schon ganz hell geworden. Die jungen Leute tranken ihre Gläser aus und verabschiedeten sich.

II.

Die alte Gräfin X. saß in ihrem Toilettenzimmer vor dem Spiegel. Drei Zofen hielten sich ihres Winkes gewärtig; die erste trug ein Büchschen mit Schminke, die zweite ein Kästchen mit Haarnadeln und die dritte eine hohe, mit purpurroten Bändern besetzte Haube. Die Gräfin konnte zwar absolut keinen Anspruch auf Schönheit mehr erheben, weil sie schon längst verblüht war, aber trotzdem wollte sie sich nicht entschließen, die Gewohnheiten ihrer Jugend aufzugeben; sie hielt sich streng an die Mode der siebziger Jahre und pflegte sich genau so langwierig und sorgfältig anzukleiden, wie sie das vor sechzig Jahren mit weit größerer Berechtigung getan hatte. – Am Fenster des Zimmers saß hinter einem Stickrahmen ein junges Fräulein, die Pflegetochter der Gräfin.

»Guten Tag, Grand'Maman,« sagte, das Zimmer betretend, ein junger Offizier. »Bonjour, Mademoiselle Lise. Grand'Maman, ich habe eine Bitte an Sie.«

»Was ist's denn, Paul?«

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen einen meiner Freunde vorstelle und dann am Freitag zum Ball mitbringe?«

»Komm mit ihm direkt zum Ball, du kannst ihn mir ja dann dort vorstellen; warst du gestern bei Y.s?«

»Natürlich; es war sehr lustig, und wir haben bis fünf Uhr getanzt. Die Jeletzkaja sah ganz famos aus!«

»Ach wo, mein Lieber, was findest du denn eigentlich an ihr hübsch? Da sah ihre Großmutter, die Fürstin Darja Petrowna, doch noch ganz anders aus. A propos – sie muß wohl sehr gealtert sein, die Fürstin Darja Petrowna?«

»Wieso gealtert?« fragte Tomski zerstreut. »Sie ist ja schon seit sieben Jahren tot.«

Das Fräulein erhob den Kopf und machte dem jungen Manne heimlich ein Zeichen. Tomski erinnerte sich nun, daß man der alten Gräfin bisher den Tod ihrer Altersgenossin stets verschwiegen hatte, und biß sich auf die Lippen. Jedoch die Gräfin nahm die neue Nachricht ganz gleichmütig auf.

»So, so, sie ist gestorben!« sagte sie. »Und ich wußte davon nichts. Wir wurden seinerzeit zusammen zu Hofdamen ernannt, und als wir uns der Kaiserin vorstellten, sagte diese zu uns ...«

Und die Gräfin erzählte nun ihrem Enkel die Anekdote zum hundertsten Male.

»Nun, Paul,« sagte sie nach einer Weile, »jetzt hilf mir ein bißchen aufstehen. Lisanka, wo ist meine Tabatiere?«

Die Gräfin begab sich mit ihren Zofen hinter den Paravent, um ihre Toilette zu beenden, und Tomski blieb mit dem jungen Fräulein allein zurück.

»Wen wollen Sie denn der Gräfin vorstellen?« fragte Lisaweta Iwanowna leise.

»Einen gewissen Narumoff; kennen Sie ihn zufällig?«

»Nein! Ist er Militär oder Zivil?«

»Militär.«

»Ingenieur?«

»Nein, Kavallerist; wieso dachten Sie, daß er Genieoffizier sei?«

Das Fräulein lachte auf und zog es vor, nicht zu antworten.

»Paul,« rief die Gräfin hinter dem Paravent. »Schick' mir doch bitte irgendeinen neuen Roman, aber nur keinen von den modernen.«

» Wie meinen Sie das, Grand'Maman?«

»Nun, ich meine einen Roman, in dem der Held weder seinen Vater noch seine Mutter schlägt und in dem keine Ertrunkenen Vorkommen. Ich habe eine entsetzliche Angst vor Wasserleichen.«

»Solche Romane gibt es heute gar nicht mehr.«

»Nun, dann schicke mir irgendeinen hübschen Roman.«

»Schön, Grand'Maman, adieu ... ich muß eilen ... adieu Lisaweta Iwanowna, – wieso kamen Sie darauf, daß Narumoff Ingenieur sein könnte? ...«

Und damit verließ Tomski eilig das Zimmer.

Lisaweta Iwanowna blieb allein zurück; sie unterbrach ihre Stickarbeit und schaute durch das Fenster auf die Straße hinaus. Nach einiger Zeit zeigte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Eckhause ein junger Offizier. Lisaweta sah ihn, wurde rot und machte sich eilig wieder an ihre Arbeit, wobei sie den Kopf noch tiefer als sonst über den Kanevas neigte. In diesem Augenblick betrat die Gräfin, die ihre Toilette beendet hatte, wieder das Zimmer.

»Laß anspannen, Lisaweta,« sagte sie. »Wir wollen spazieren fahren.«

Lisaweta erhob sich und begann ihre Stickarbeit fortzuräumen.

»Was ist denn mit dir. Beste, bist du taub geworden?« schalt die Gräfin. »Ich sagte doch, du sollst anspannen lassen!«

»Sofort,« antwortete leise das junge Fräulein und eilte in das Vorzimmer. Nach einer Weile betrat sie, mit Hut und Mantel bekleidet, das Zimmer.

»Endlich!« rief die Gräfin. »Wo hast du denn so lange gesteckt? Hast dich wohl geputzt? Wie ist denn das Wetter? Es scheint windig zu sein?«

»Durchaus nicht, Ew. Gnaden, es ist ganz windstill,« antwortete der Kammerdiener, der soeben das Zimmer betrat.

»Ihr sprecht immer, ohne was zu wissen. Mach' das Fenster auf. Natürlich – es ist windig, und noch dazu kalt. Der Wagen kann wieder ausgespannt werden, wir fahren nicht. Du hast dich vergebens geputzt, Lisanka.«

» Das ist nun mein Leben,« dachte Lisaweta Iwanowna bitter bei sich.

Sie war in der Tat ein sehr unglückliches Geschöpf. »Fremdes Brot schmeckt bitter,« sagt Dante, »und die Stufen einer fremden Treppe steigen sich schwer.« Wenn jemand die Bitterkeit der Abhängigkeit kennengelernt hat, so war es die arme Pflegetochter der vornehmen Greisin. Die Gräfin X. hatte gewiß kein schlechtes Herz, aber sie war, wie alle von der großen Welt verwöhnten Frauen, in kalten Egoismus versunken, und außerdem hatte sie ihr Zeitalter überlebt und stand der Gegenwart vollkommen fremd gegenüber. Sie nahm zwar an allen Veranstaltungen der großen Welt teil und schleppte sich mühsam auf alle Bälle, dafür saß sie dann aber auch dort in ihrer altmodischen Kleidung wie ein unförmiger und dabei doch unentbehrlicher Bestandteil des Ballsaals schweigsam in einem Winkel. Die Gäste pflegten sich ihr beim Eintritt in den Ballsaal mit einer tiefen Verbeugung zu nähern, aber das war auch alles, und dann kümmerte sich niemand mehr um sie. In ihrem Hause empfing sie unter Beobachtung der strengsten Etikette die ganze Stadt, ohne die einzelnen Persönlichkeiten zu erkennen. Ihre zahlreiche, in den Gesindestuben faul und dick gewordene Dienerschaft schaltete und waltete nach eigenem Belieben und bestahl die schon längst mit einem Fuß im Grabe stehende Greisin ständig in skrupellosester Weise. Lisaweta Iwanowna war sozusagen die Märtyrerin dieses Hauses. Sie mußte den Tee bereiten und bekam Vorwürfe wegen des zu starken Verbrauches von Zucker; sie las der Greisin Romane vor und mußte für alle Fehler des Dichters büßen; sie begleitete die Gräfin auf ihren Spazierfahrten und wurde für das Wetter und das schlechte Pflaster verantwortlich gemacht. Ein Gehalt war ihr zwar bestimmt, aber sie erhielt es nie ausgezahlt. Trotzdem verlangte man von ihr, daß sie stets gut und geschmackvoll gekleidet sein sollte. In der Gesellschaft spielte sie eine wenig beneidenswerte Rolle. Sie war zwar allen bekannt, wurde aber von niemand beachtet, und auf den Bällen kam sie nur dann zum Tanzen, wenn gerade ein Visavis fehlte. Lisaweta Iwanowna besaß eine ganze Portion Eigenliebe, sie war sich über die Rolle, die sie spielte, sehr klar und wartete jahraus, jahrein ungeduldig auf ihren Befreier; allein die hochfahrenden jungen Leute ließen ihr keine Beachtung zuteil werden, trotzdem Lisaweta Iwanowna hundertmal liebenswerter war als die frivolen und kalten jungen Weltdamen, die von jenen umschwärmt wurden. Wie oft war es schon vorgekommen, daß sie den langweiligen, prunkvollen Tanzsaal verlassen hatte und, um sich auszuweinen, in ihr ärmliches Stübchen geflüchtet war, in dem eine mit Tapeten beklebte spanische Wand, eine Kommode, ein kleiner Spiegel und ein einfaches, gestrichenes Holzbett das ganze Mobiliar bildeten, zu dem ein trübbrennendes Talglicht im kupfernen Leuchter die Beleuchtung spendete.

Einmal – das geschah zwei Tage nach der Spielgesellschaft, die zu Beginn unserer Erzählung geschildert worden war, und eine Woche vor der Szene im Toilettenzimmer der Gräfin – eines Tages also blickte Lisaweta Iwanowna, während sie am Fenster über ihrem Stickrahmen hockte, ganz zufällig auf die Straße hinab und gewahrte dort einen jungen Genieoffizier, der regungslos dastand und ihr Fenster nicht aus den Augen ließ. Sie trat vom Fenster zurück und nahm ihre Arbeit wieder auf. Nach einigen Minuten schaute sie abermals auf – der junge Offizier stand noch immer auf derselben Stelle. Da es nicht ihrer Gewohnheit entsprach, mit vorübergehenden Offizieren zu kokettieren, unterließ sie es nun, auf die Straße hinabzuschauen, und stickte zwei Stunden lang ohne Unterbrechung und ohne den Blick von der Arbeit zu erheben. Dann wurde sie zur Mahlzeit gerufen. Nach dem Mittagessen ging sie mit einem gewissen unruhigen Gefühl zu ihrem Fensterplatz, allein der Offizier war nicht mehr da, und so vergaß sie ihn denn ...

Zwei Tage später sah sie ihn wieder, und zwar gerade, als sie mit der Gräfin das Haus verließ, um in den Wagen zu steigen. Er stand dicht an der Freitreppe, und sein Gesicht war durch einen hohen Biberkragen fast ganz verdeckt; man sah nur seine tiefschwarzen Augen, die unter dem Hut hervorfunkelten. Lisaweta Iwanowna erschrak, ohne sich selbst darüber Rechenschaft ablegen zu können, und setzte sich mit einem seltsam befangenen Gefühl in den Wagen.

Als sie nach Hause zurückgekehrt war, lief sie sofort wieder zum Fenster –: der Offizier stand auf derselben Stelle und wandte kein Auge von ihr. Sie trat, merkwürdig erregt, vom Fenster zurück, und ein völlig neues, peinigendes Gefühl bemächtigte sich ihrer.

Seit dieser Zeit stellte sich der junge Offizier tagtäglich zur bestimmten Stunde unter ihrem Fenster ein. Zwischen beiden entwickelten sich nun eigenartige Beziehungen. Sie pflegte sein Nahen jetzt schon zu fühlen und hob dann sofort das Haupt von der Arbeit, um hinauszuspähen, und ihre Blicke wurden von Tag zu Tag immer länger. Der junge Offizier schien dadurch beglückt zu sein, denn sie konnte mit dem scharfen Auge der Jugend gewahren, daß jedesmal, wenn ihre Blicke sich begegneten, ein plötzliches Erröten seine Wangen färbte. Und nach einer Woche lächelte sie ihm bereits zu ...

Als Tomski damals die Gräfin um Erlaubnis gebeten hatte, ihr einen seiner Freunde vorstellen zu dürfen, hatte das arme Mädchen vor Aufregung fast Herzklopfen bekommen. Nachdem sie jedoch erfuhr, daß Narumoff nicht Genieoffizier, sondern Gardekavallerist sei, bedauerte sie fast, mit ihrer unvorsichtigen Frage die Neugier des leichtsinnigen Tomski hervorgerufen zu haben.

*

Herrmann war der Sohn eines russisch gewordenen Deutschen und hatte von seinem Vater ein kleines Kapital geerbt. Erfüllt von der Überzeugung, daß es für ihn sehr wichtig war, sich seine Unabhängigkeit zu sichern, hatte er das Geld auf Zins und Zinseszins angelegt und lebte ausschließlich von seinem Gehalt, ohne sich auch nur den geringsten Luxus zu leisten. Im übrigen war er eine verschlossene und ehrgeizige Natur und infolgedessen hatten seine Kameraden nur selten Gelegenheit, sich über seine Sparsamkeit lustig zu machen. Er besaß starke Leidenschaften und eine feurige Phantasie; allein seine Charakterstärke bewahrte ihn vor den üblichen Verirrungen der Jugend. So nahm er, obwohl mit Leib und Seele Spieler, nie eine Karte in die Hand, weil er sich überzeugt hatte, daß sein Vermögen es ihm nicht erlaubte, »das Notwendige zu opfern, um damit Überflüssiges zu gewinnen,« – wie seine eigenen Worte lauteten. Trotzdem aber saß er ganze Nächte lang am Kartentisch und verfolgte mit fieberhaftem Zittern alle Wendungen des Spiels.

Die Erzählung von den drei Karten hatte eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt und ging ihm die ganze Nacht nicht aus dem Kopf. Als er am nächsten Abend durch die Straßen Petersburgs schlendert«, kamen ihm unwillkürlich verschiedene Fragen in den Sinn: »Wenn mir nun die alte Gräfin vielleicht ihr Geheimnis mitteilen und die drei richtigen Karten nennen wollte?« dachte er. »Ich sollte mich ihr eigentlich vorstellen lassen und mich bei ihr einschmeicheln, meinetwegen sogar ihr Liebhaber werden; allein das alles erfordert Zeit, und sie ist schon siebenundachtzig Jahre alt und kann in einer Woche, ja vielleicht schon in zwei Tagen sterben! Na und schließlich – kann man denn der ganzen Geschichte überhaupt Glauben schenken? Nein –: Sparsamkeit, Mäßigkeit und Fleiß: das sind meine drei Glückskarten, die mein Kapital verdreifachen und versiebenfachen werden und mir Ruhe und Unabhängigkeit sichern!« Während er in dieser Art meditierte, war er in eine der Hauptstraßen Petersburgs gekommen und blieb nun vor einem Hause von altertümlicher Bauart stehen. Die Straße war von Equipagen belebt; eine nach der anderen fuhr an der erleuchteten Freitreppe des Hauses vor. Ihnen entstiegen zahlreiche Gäste, die alle eilig an den majestätischen Türstehern vorbei ins Innere des Hauses eilten.

»Wem gehört dieses Haus?« fragte Herrmann einen Vorübergehenden.

»Der Gräfin X.« antwortete dieser.

Herrmann fühlte, wie ein Zittern durch seine Glieder lief. Die geheimnisvolle Kartengeschichte bemächtigte sich abermals seiner Gedanken. Er begann langsam das Haus zu umkreisen und dachte dabei unablässig an die Gräfin und ihr wundersames Geheimnis. Zu später Stunde erst kehrte er in seine bescheidene Wohnung zurück und konnte lange keinen Schlaf finden; und als er schließlich doch einschlief, träumte er von Karten, vom grünen Tuch des Spieltisches und sah Stöße von Banknoten und riesige Goldhaufen vor sich liegen. Er spielte im Traum eine Karte nach der anderen aus, gewann ununterbrochen und stopfte sich alle Taschen voll mit Gold und Banknoten. Beim späten Erwachen am andern Morgen seufzte er tief auf, als er an seinen nächtlichen Reichtum dachte, und machte sich dann wieder auf zu einen: Spaziergang durch die Stadt. Nach kurzer Zeit befand er sich abermals vor dem Hause der Gräfin X. Es war fast, als hätte ihn eine fremde Macht dahingezogen. Er blieb stehen und sah zu den Fenstern hinauf. An einem derselben erblickte er ein schwarzlockiges Mädchenhaupt, das allem Anschein nach über ein Buch oder eine Handarbeit gebeugt war. Nun richtete sich das Köpfchen auf, und Herrmann sah in ein frisches Gesichtchen und in ein paar dunkle Augen. In diesem Augenblick hatte sich sein Schicksal entschieden.

III.

Lisaweta Iwanowna hatte vorhin, als die Gräfin den zur Spazierfahrt bereiten Wagen wegen des schlechten Wetters wieder ausspannen ließ, kaum ihren Hut und Mantel abgelegt, da wurde sie abermals zur Gräfin gerufen, die ihr befahl, von neuem die Equipage anschirren zu lassen. Dann half sie der Gräfin die Freitreppe hinunter. Während zwei Lakaien die Gräfin sanft in den Wagen schoben, gewahrte Lisaweta Iwanowna plötzlich dicht neben dem Gefährt ihren Genieoffizier; er ergriff ihre Hand, und während sie vor Schreck fast die Besinnung verlor, verschwand er wieder und ließ einen Brief zwischen ihren Fingern zurück. Sie versteckte ihn schnell im Handschuh und hörte und sah den ganzen Weg über vor Aufregung fast nichts.

Als sie dann von der Spazierfahrt wieder nach Hause gekommen war, lief sie schnell in ihr Zimmer und zog den Brief aus dem Handschuh; er war versiegelt, sie erbrach ihn hastig und las ihn aufgeregt durch; er enthielt eine zärtliche und ehrerbietige Liebeserklärung, die wörtlich aus einem deutschen Roman übersetzt war. Allein da Lisaweta Iwanowna kein Deutsch konnte, hatte sie von dem Plagiat keine Ahnung und war mit dem Inhalt sehr zufrieden.

Trotzdem fühlte sie sich durch den von ihr entgegengenommenen Brief stark beunruhigt. Zum erstenmal trat sie in heimliche, vertraute Beziehungen zu einem jungen Mann. Sein Ungestüm erschreckte sie. Sie machte sich Vorwürfe wegen ihres unvorsichtigen Benehmens und wußte nicht, was zu tun zweckmäßiger sei: entweder aufzuhören, am Fenster zu sitzen und dem jungen Offizier durch Nichtbeachtung die Lust zu weiteren Verfolgungen zu nehmen, oder ihm den Brief zurückzusenden und ihm kühl und entschieden zu antworten. Sie hatte keinen Menschen, mit dem sie sich beraten konnte, denn sie besaß weder Freundinnen noch Gefährtinnen. Lisaweta Iwanowna entschloß sich schließlich zu einer Antwort.

Sie setzte sich an ihr Tischchen, legte das Schreibgerät zurecht und dachte nach. Einigemal begann sie den Brief, um ihn dann wieder zu zerreißen. Bald schienen ihr die Ausdrücke zu herablassend, bald zu schroff. Nach langem Mühen hatte sie dann endlich ein paar Zeilen zusammengedichtet, mit denen sie zufrieden war. »Ich bin überzeugt,« so lautete ihr Schreiben, »daß Sie ehrenwerte Absichten haben und mich nicht durch eine unbesonnene Tat kompromittieren wollten; allein unsere Bekanntschaft darf nicht auf solche Weise beginnen. Ich gebe Ihnen deshalb Ihren Brief zurück und hoffe, daß ich in Zukunft nicht mehr Grund haben werde, mich über solche unverdiente Nichtachtung zu beklagen.«

Am nächsten Tage erhob sich Lisaweta Iwanowna, sowie sie Herrmann, der die Straße heraufkam, erspähte, von ihrem Sitz am Fenster, öffnete einen Flügel und warf, im Vertrauen auf die Gewandtheit des jungen Offiziers, den Brief auf die Straße. Herrmann lief sofort hinzu, hob Las Schreiben auf und zog sich damit in eine Konditorei zurück. Dort riß er das Siegel herunter und fand nun seinen Brief mit Lisaweta Iwanownas Antwort. Er hatte solches von vornherein erwartet und kehrte nun, ganz erfüllt von seiner Intrige, nach Hause zurück.

Drei Tage waren vergangen, da brachte ein junges, niedliches Laufmädel aus dem Modesalon einen Brief für Lisaweta Iwanowna. Lisaweta öffnete beunruhigt das Schreiben, von dem sie nicht anders dachte, als daß es eine Rechnung sei, und erkannte plötzlich Herrmanns Handschrift.

»Sie haben sich versehen, Kindchen,« sagte sie. »Dieser Brief ist nicht für mich.«

»Doch, doch, es stimmt schon,« antwortete das Laufmädel mit einem listigen Lächeln. »Lesen Sie ihn nur durch.«

Lisaweta überflog das Schreiben. Herrmann verlangte darin ein Rendezvous.

»Das kann nicht sein,« sagte Lisaweta, durch die Art der Übermittlung des Briefes und durch den in ihm ausgedrückten Wunsch erschreckt. »Dies Schreiben ist wirklich nicht für mich!« Und damit zerriß sie den Brief in kleine Fetzen.

»Wenn der Brief nicht für Sie war, warum haben Sie ihn dann zerrissen?« sagte das Mädel. »Ich hätte ihn sonst dem Absender zurückgebracht.«

»Ich bitte Sie, Kindchen,« sagte Lisaweta, die bei dieser Bemerkung über und über rot geworden war, »mir in Zukunft keine Briefe mehr zu bestellen. Und Ihrem Auftraggeber sagen Sie bitte, daß er sich schämen möge.«

Aber Herrmann gab die Sache nicht auf. Jeden Tag bekam Lisaweta, bald auf diese, bald auf jene Weise, einen Brief, und jetzt waren diese Briefe schon nicht mehr aus dem Deutschen übersetzt, denn die Leidenschaft hatte sie Herrmann in die Feder diktiert, und in ihnen war deutlich die Unbeugsamkeit seines Verlangens und die Zerfahrenheit einer zügellosen Phantasie zu erkennen. Lisaweta dachte nicht mehr daran, sie zurückzuschicken; sie berauschte sich an ihnen und begann nun zu antworten, und ihre Briefe wurden von Tag zu Tag länger und zärtlicher, bis sie ihm endlich folgenden Brief aus dem Fenster warf: »Heute ist Ball beim französischen Gesandten, die Gräfin ist auch geladen. Wir werden dort bis zwei Uhr sein. Es ist für Sie die Möglichkeit vorhanden, mich unter vier Augen zu sprechen; sobald wir das Haus verlassen haben, um zum Ball zu fahren, wird sich das Gesinde wahrscheinlich in seine Stube zurückziehen; im Hausflur bleibt nur der Portier zurück, der aber auch meistens gleich seine Kammer aufsucht. Kommen Sie um halb zwölf Uhr, gehen Sie die Treppe hinauf, und wenn Sie irgend jemand im Vorzimmer treffen, so fragen Sie, ob die Gräfin zu Hause ist. Man wird dies verneinen, und dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten. Allein wahrscheinlich werden Sie niemanden antreffen; dann gehen Sie gleich nach links, immer geradeaus bis ins Schlafzimmer der Gräfin; dort werden Sie hinter einer spanischen Wand zwei kleine Türen bemerken: die Rechte geht in ein Kabinett, das die Gräfin niemals betritt, die Linke – in den Korridor, wo sich eine schmale Wendeltreppe befindet, die zu meinem Zimmer führt.«

Herrmann zitterte, während er die angegebene Zeit erwartete, wie ein beutegieriger Tiger. Bereits um zehn Uhr abends stand er vor dem Hause der Gräfin. Es herrschte ein entsetzliches Wetter: der Wind pfiff durch die Straßen, und nasser Schnee fiel in großen Flocken. Trübe schimmerten die Laternen durch die menschenleere Stadt. Herrmann stand im Rock, ohne Pelz, auf seinem Posten und fühlte weder Wind noch Wetter. – Endlich fuhr die Equipage der Gräfin vor, Herrmann sah, wie die Lakaien die in einen Zobelpelz gehüllte Greisin hineinholen; ihr auf dem Fuße betrat Lisaweta den Wagen – dann knallte der Schlag zu, und die Räder begannen zu rollen. Der Portier schloß die Tür, die Fenster wurden dunkel. Herrmann begann vor dem Hause auf und ab zu gehen und zog nach einer Weile vor einer Laterne die Uhr: Zwanzig Minuten nach elf. Er blieb an der Laterne, den Chronometer in der Hand, stehen und ließ den Minutenzeiger nicht aus den Augen. Genau um halb zwölf überschritt er dann die Freitreppe und betrat das matterleuchtete Vorzimmer. Der Portier war nicht anwesend. Herrmann lief nun die Treppe im Hause hinauf, öffnete eine Tür und gewahrte den Diener, der neben einer Lampe im Sessel schlief. Mit leichten, unhörbaren Schritten ging Herrmann an ihm vorbei. Der Saal und das Gastzimmer waren dunkel. Herrmann betrat das Schlafzimmer, sah sich einen Moment darin um und trat dann hinter die spanische Wand. Dort stand ein Bett, und zur Rechten und Linken davon befanden sich zwei Türen, deren eine in das Kabinett ging, während die andere auf den Korridor mündete. Herrmann öffnete diese und erblickte eine schmale Wendeltreppe, die in Lisawetas Zimmer führte. Er kehrte wieder zurück in das Schlafzimmer und begab sich dann durch die Tür rechts in das kleine Kabinett, von dem ihm Lisaweta geschrieben hatte, daß es von der Gräfin nie betreten werde.

Die Zeit verging langsam. Alles war still. Im Speisezimmer schlug die Uhr zwölf, und die Uhren in den anderen Zimmern antworteten. Dann herrschte wieder Stille. Herrmann stand an einen kalten Ofen gelehnt; er war vollständig ruhig, sein Herz schlug ganz gleichmäßig, wie bei einem Menschen, der sich zu einer gefährlichen, aber unvermeidlichen Tat entschlossen hat.

Die Uhren verkündeten schlagend die erste und dann die zweite Stunde nach Mitternacht, und nach einer Weile wurde dann das Rollen eines Wagens aus der Ferne vernehmbar. Eine unwillkürliche Aufregung ergriff Herrmann. Die Equipage kam herangefahren und hielt. Im Hause wurde es lebendig: die Dienerschaft lief zusammen, Stimmengewirr erschallte und Lichter wurden angezündet. Drei ältliche Kammerzofen betraten das Schlafzimmer, und ihnen folgte die Gräfin, die sich ganz erschöpft auf einen Voltairestuhl niederließ. Herrmann blickte durch eine Spalte in der Tür; im selben Moment ging Lisaweta an der Tür vorbei, und er vernahm einige Sekunden später ihre eiligen Schritte auf der Wendeltreppe. In seinem Herzen wurde einen Augenblick lang etwas wie Gewissensbisse wach, aber dieses Gefühl verstummte sofort wieder. Er war zu Stein geworden.

Die greise Gräfin begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Das Häubchen wurde ihr abgenommen, dann die gepuderte Perücke, und dafür bekam sie eine enggestrickte Nachtmütze auf den Kopf. Das gelbe, silbergestickte Kleid fiel zu ihren, vom Alter verkrüppelten Füßen herab, und Herrmann wurde unfreiwilliger Zeuge der ganzen widerwärtigen Geheimnisse ihrer Toilette; schließlich blieb sie dann in der Nachtjacke, und in diesem Kleidungsstück, das mehr zu ihrem Alter paßte, sah sie weniger schrecklich und unförmig aus.

Die Gräfin litt, wie alle alten Leute, an Schlaflosigkeit. Sie setzte sich deshalb, nachdem sie sich entkleidet hatte, wieder in den Voltairestuhl und schickte die Zofen fort; die Lichte wurden hinausgetragen, und das Zimmer war jetzt nur noch von dem Schein der heiligen Lampe, die vor dem Heiligenbild brannte, erleuchtet. Gelb und runzelig saß die Gräfin da, bewegte lautlos die welken Lippen und schaukelte den Oberkörper leise hin und her. Ihre verschleierten Augen zeigten völlige Geistesabwesenheit, und wenn man sie so leblos dasitzen sah, hätte man leicht auf den Gedanken kommen können, daß das Hin- und Herschaukeln ihres Körpers durch irgendeinen in ihrem Innern verborgenen mechanischen Apparat hervorgerufen wurde.

Plötzlich veränderte sich ihr lebloses Gesicht in unbeschreiblicher Weise. Die Lippen hörten auf, sich zu bewegen, und ihre Augen belebten sich. Vor der Gräfin stand ein unbekannter Mann.

»Erschrecken Sie nicht, um Gottes willen erschrecken Sie nicht!« sagte er mit leiser, aber deutlicher Stimme. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen zu schaden – ich kam nur, Sie um eine Gnade zu bitten.«

Die Greisin blickte ihn schweigend an; es schien, als hätte sie seine Stimme gar nicht vernommen. Herrmann dachte, daß sie vielleicht schlecht höre, und wiederholte, über ihr Ohr gebeugt, seine Worte. Die Greisin verharrte trotzdem in Schweigen.

»Sie können,« fuhr Herrmann fort, »das Glück meines Lebens begründen, ohne daß es Sie etwas kostet: ich weiß, daß Sie drei Glückskarten nacheinander zu bestimmen vermögen ...«

Herrmann hielt inne. Die Gräfin schien nun zu begreifen, was er von ihr verlangte, denn sie machte den Eindruck, als suche sie nach einer Antwort.

»Das war ein Scherz!« sagte sie endlich. »Ich schwöre es Ihnen, das war ein Scherz!«

»Mit solchen Sachen scherzt man nicht!« entgegnete Herrmann zornig. »Denken Sie nur an Tschaplitzki, dem Sie dazu verholfen haben, sich quitt zu spielen.«

Die Gräfin wurde sichtlich verwirrt. Auf ihren Gesichtszügen prägte sich eine starke Gemütserregung aus; allein bald verfiel sie wieder in ihre frühere Teilnahmslosigkeit.

»Wollen Sie mir diese drei Glückskarten bezeichnen?« fuhr Herrmann fort.

Die Gräfin schwieg.

»Für wen wollen Sie Ihr Geheimnis bewahren? Für Ihre Enkel? Die sind auch ohnedem reich, und außerdem kennen sie den Wert des Geldes nicht. Wer seiner Väter Erbe nicht zusammenzuhalten weiß, wird trotz aller Zauberkünste in Armut sterben. Ich – bin kein Verschwender; ich kenne den Wert des Geldes. Ihre drei Glückskarten werden für mich nicht wertlos sein. Nun?«

Er hielt inne und erwartete mit Zittern ihre Antwort. Die Gräfin schwieg noch immer. Herrmann fiel vor ihr auf die Knie.

»Wenn Ihr Herz jemals das Entzücken der Liebe kennen gelernt hat, wenn Sie jemals mit einem liebevollen Lächeln das Lallen ihres ersten Kindes vernommen haben, und wenn nur ein leises, menschliches Gefühl in Ihrer Brust lebt, so beschwöre ich Sie bei allem, was Ihnen als Gattin, Geliebte und Mutter heilig war: – schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab und sagen Sie mir Ihr Geheimnis. Was kann es Ihnen denn wert sein? Vielleicht ist es mit einer schrecklichen Sünde verbunden, mit dem Verlust der ewigen Seligkeit, mit einem Teufelspakt ... Sie sind alt. Ihr Leben wird nicht mehr lange währen! – Ich bin bereit, die Sünde auf mich zu nehmen, nur entdecken Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie – das Glück eines Menschen befindet sich in Ihren Händen, und nicht nur ich, sondern auch meine Kinder, Enkel und Urenkel werden Ihr Andenken segnen, werden Sie wie eine Heilige verehren ...«

Die Gräfin antwortete kein Wort ...

Herrmann erhob sich.

»Alte Hexe,« stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »So werde ich dich denn zwingen, mir zu antworten ...«

Mit diesen Worten zog er eine Pistole aus der Tasche. Beim Anblick der Waffe verfiel die Gräfin zum zweitenmal in eine starke Erregung. Sie warf den Kopf zur Seite und erhob die Hand, als wollte sie sich vor dem Schuß schützen. – Dann fiel sie zurück ... und blieb regungslos.

.

»Lassen Sie doch den Unsinn!« sagte Herrmann und ergriff ihre Hand. »Ich frage Sie zum letztenmal: wollen Sie mir die drei Karten nennen? Ja oder nein?!«

Die Gräfin antwortete nicht. Herrmann sah nun, daß sie tot war.

IV.

Lisaweta saß noch immer im Ballstaat tief in Gedanken versunken in ihrem Zimmer. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie die verschlafene Zofe, die ihr beim Auskleiden helfen wollte, wieder fortgeschickt und war dann zitternd in ihr Zimmer gegangen. Sie hoffte, Herrmann zu der wichtigen Unterredung dort zu finden, und wünschte wiederum heimlich, ihn nicht zu finden. Mit einem Blick sah sie, daß er nicht da war, und dankte dem Schicksal für die Hindernisse, die es ihm wahrscheinlich in den Weg gelegt hatte. Sie setzte sich, ohne ihr Kleid abzulegen, hin, und begann sich alle Umstände ins Gedächtnis zurückzurufen, durch die sie in kurzer Zeit so weit gekommen war, so ein unvorsichtiges und ihren Ruf gefährdendes Rendezvous zu verabreden.

So saß sie eine Weile da, die Hände über der Brust gefaltet, das Haar noch mit Ballblumen geschmückt. Plötzlich öffnete sich die Tür und Herrmann trat ein ... Lisaweta erzitterte.

»Wo waren Sie?« fragte sie mit erschrockenem Flüstern.

»Im Schlafzimmer der alten Gräfin,« antwortete Herrmann. »Ich komme eben von ihr. Sie ist tot.«

»Mein Gott – was sagten Sie?«

»Und es scheint,« fuhr Herrmann fort, »daß ich die Ursache ihres Todes bin.«

Lisaweta konnte keinen Ton hervorbringen. Der Schreck hatte ihr mit kalter Hand die Kehle zugedrückt und alle Glieder gelähmt. Eine Weile stand Herrmann regungslos vor ihr, dann setzte er sich auf das Fensterbrett, ihr zur Seite, und begann alles zu erzählen.

Lisaweta hörte ihn entsetzt an. So waren denn alle diese leidenschaftlichen Briefe, all diese flammenden Wünsche und seine hartnäckigen Verfolgungen nicht von der Liebe beseelt! Geld! – Das war es, wonach seine Seele lechzte! Lisaweta war ihm nichts anderes gewesen als eine unbewußte Gehilfin, als die ahnungslose Mitschuldige eines Räubers, des Mörders ihrer alten Wohltäterin. Sie weinte bitter auf vor quälender, zu später Reue. Herrmann sah schweigend auf sie ... Auch sein Herz wurde von einem bitteren Gefühl zerrissen; allein weder die Tränen des armen Mädchens noch die wundervolle Schönheit ihrer Trauer vermochten seine harte Seele zu rühren; er fühlte auch keine Gewissensbisse beim Gedanken an die tote Greisin. Was ihn entsetzte, war der unwiederbringliche Verlust jenes Geheimnisses, von dem er Reichtum erwartet hatte.

»Sie sind ein Ungeheuer!« sagte Lisaweta.

»Ich wollte ja nicht ihren Tod,« antwortete Herrmann. »Meine Pistole war nicht geladen.«

Beide versanken in Schweigen. Und so saßen sie bis zum Morgen. Lisaweta löschte das herabgebrannte Licht, trocknete sich die verweinten Augen und sah Herrmann an:

»Wie sollen Sie denn nun aus dem Hause kommen?« fragte sie. »Ich dachte, Sie über eine geheime Treppe zu führen, aber dazu müßten wir am Schlafzimmer der Gräfin vorbeigehen, und ich fürchte mich.«

»Beschreiben Sie mir nur, wie ich diese geheime Treppe finde; ich werde allein gehen.«

Lisaweta erhob sich, entnahm ihrer Kommode einen Schlüssel, den sie Herrmann einhändigte, und gab ihm eine ausführliche Beschreibung des Weges. Herrmann drückte ihre kalte, schlaffe Hand an die Lippen und entfernte sich.

Er ging die Wendeltreppe hinab und betrat abermals das Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Greisin lag wie versteinert in ihrem Stuhl und ihr Gesicht zeigte eine tiefe Ruhe. Herrmann blieb vor ihr stehen und sah sie lange an, als wollte er sich von der schrecklichen Tatsache überzeugen; dann betrat er das Kabinett, betastete die Tapetenwand, bis er einen Knopf fand, der eine unsichtbare Tür zum geheimen Gang öffnete, und stieg dann, von seltsamen Gefühlen bewegt, eine dunkle Treppe hinab. Am Ende fand Herrmann eine Tür, die er mit dem Schlüssel öffnete; er durchschritt sie und kam auf einen zugigen Korridor, der ihn auf die Straße führte.

V.

Drei Tage nach jener verhängnisvollen Nacht begab sich Herrmann um neun Uhr morgens nach dem nahen X.schen Kloster, wo die Totenmesse für die verstorbene Gräfin abgehalten werden sollte. Obgleich er keine Reue fühlte, gelang es ihm doch nicht, jene Stimme in seinem Innern zum Schweigen zu bringen, die ihm unablässig die Worte: ›Mörder, Mörder!‹ zurief. Herrmann hatte nicht viel wahren Glauben, sondern war nur sehr abergläubisch. Deshalb war er von vornherein davon überzeugt, daß die alte Gräfin einen schädlichen Einfluß auf sein weiteres Leben auszuüben imstande war, und entschloß sich deshalb, zu ihrer Beerdigung zu erscheinen, um sie um Verzeihung zu bitten.

In der Kirche standen die Leute dicht aneinander gedrängt, so daß sich Herrmann kaum durchzwängen konnte. Der Sarg stand auf einem reichgeschmückten Katafalk unter einem Baldachin von Plüsch. Die Verstorbene lag in einem weißen Atlaskleid mit gekreuzten Händen da; auf dem Kopf trug sie ein Spitzenhäubchen. Ringsumher standen die Hausgenossen: die Diener in schwarzen Röcken mit Schleifen in den gräflichen Farben über der Schulter und Kerzen in den Händen; ferner die Verwandten, Kinder, Enkel und Urenkel der Verstorbenen, alle in tiefer Trauer. Ein junger Geistlicher hielt die Totenmesse ab. In schlichten und ergreifenden Worten schilderte er das fromme Leben der Verstorbenen und schloß mit dem poetischen Vergleich: »Der Engel des Todes fand sie bei wachen Gedanken und in der Erwartung des mitternächtigen Bräutigams.«

Die Feier ging nun ihrem Ende entgegen. Zunächst traten die Verwandten näher und nahmen von der Leiche Abschied, dann kamen die vielen Freunde und Bekannten an die Reihe und zuletzt die gräfliche Dienerschaft. Nun erst entschloß sich auch Herrmann, an den Sarg heranzutreten. Er schritt, bleich wie die Tote, die paar Stufen des Katafalkes hinauf und wollte dort in die Knie sinken; in diesem Augenblick schien es ihm, als ob die Tote ihn mit listig zusammengekniffenen Augen anblinzle. Herrmann prallte entsetzt zurück, begann zu schwanken und fiel ohnmächtig zu Boden. Man hob ihn auf; zur selben Zeit wurde auch Lisaweta ohnmächtig aus der Kirche getragen. – Dieser Zwischenfall unterbrach wohl einen Augenblick lang die Feierlichkeit der düsteren Zeremonie, doch dann nahm die Messe ihren Fortgang und wurde bald darauf zu Ende geführt.

Herrmann war den Rest des Tages über äußerst verstimmt. Beim Mittagessen in einem einsamen, entlegenen Gasthof trank er, ganz gegen seine Gewohnheit, sehr viel Wein, in der Hoffnung, auf diese Weise seine innere Erregung zu dämpfen. Allein der Wein entzündete seine Phantasie nur noch stärker. Er kehrte also gegen Abend wieder nach Hause zurück, warf sich angekleidet auf das Bett und lag bald in festem Schlummer.

Als er plötzlich erwachte, war es schon Nacht: durch das Fenster floß matt und bleich der Schein des Mondes. Herrmann sah auf die Uhr: dreiviertel drei! Die Lust zum Schlafen war ihm vergangen; er setzte sich auf den Rand seines Bettes und begann an das Begräbnis der alten Gräfin zu denken.

Plötzlich blickte jemand von der Straße her in das Fenster und verschwand dann wieder. Herrmann schenkte diesem Vorfall keine Beachtung. Nach einer Weile vernahm er jedoch, wie die Tür zum Vorzimmer geöffnet wurde; er dachte nun nichts anderes, als daß sein Bursche wieder einmal von einem nächtlichen Spaziergang betrunken nach Hause kam; allein in der nächsten Sekunde drangen fremde Schritte an sein Ohr: irgend jemand kam mit leise schlurfenden Pantoffeln gegangen. Die Tür seines Zimmers öffnete sich, und eine weißgekleidete, weibliche Gestalt trat ein. Herrmann hielt sie zunächst für seine alte Amme und wunderte sich darüber, daß sie ihn zu so außergewöhnlicher Stunde besuchte. Allein die weiße Gestalt glitt näher und stand nun dicht vor ihm: Herrmann erkannte die alte Gräfin. Er zitterte und starrte die Erscheinung an.

»Ich komme gegen meinen eigenen Willen zu dir,« sprach sie mit fester Stimme. »Allein mir ist von einer höheren Macht befohlen worden, deine Bitte zu erfüllen. Die Drei, die Sieben und das As gewinnen nacheinander, nur darfst du im Laufe von je vierundzwanzig Stunden nicht mehr als eine der Karten setzen und dann in deinem Leben nie mehr spielen. Ich verzeihe dir meinen Tod unter der Bedingung, daß du meine Pflegetochter Lisaweta heiratest ...«

Mit diesen Worten drehte sie sich leise um, durchschritt die offene Tür und verschwand mit schlurfenden Schritten. Herrmann vernahm, wie die Haustür zuschlug, und sah, wie abermals jemand von der Straße her einen Augenblick lang in sein Fenster hineinspähte ...

Es dauerte lange, bis Herrmann aus seiner Erregung wieder ganz zu sich kam; dann ging er mit festen Schritten ins Nebenzimmer. Der Bursche lag schlafend auf dem Fußboden und war wie gewöhnlich betrunken. Herrmann weckte ihn mit großer Mühe, allein es war aus ihm nichts Vernünftiges herauszubekommen. Die Haustür erwies sich als fest verschlossen. Herrmann kehrte in sein Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und schrieb sein Erlebnis nieder.

VI.

Mit Herrmann ging nun eine seltsame Veränderung vor: die Drei, die Sieben und das As verdrängten in seiner Gedankenwelt bald die Erinnerung an die alte Gräfin. Die Drei, die Sieben und das As gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf und lagen ihm ständig auf den Lippen. Begegnete er einem jungen Mädchen, so dachte er laut: ›Wie schlank und schön ist sie doch gebaut; eine wahre Coeur- Drei!‹ Fragte man ihn: ›Wie spät ist es?‹ so erhielt man zur Antwort: ›Fünf Minuten vor der Sieben!‹ Sah er irgendwo auf der Straße einen wohlbeleibten Mann, so mußte er sofort an das As denken. Die Drei, die Sieben und das As verfolgten ihn sogar im Schlafe und nahmen dann alle möglichen seltsamen Gestalten an: die Drei blühte als farbenprächtige Orchidee vor ihm auf, die Sieben verwandelte sich in ein riesiges gotisches Portal, und das As erschien ihm als eine ungeheure Spinne. Alle seine Gedanken flossen zusammen in dem einen Wunsch, sein teuer erkauftes Geheimnis recht bald zu verwerten. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, seinen Abschied zu nehmen und auf Reisen zu gehen; in den Spielhäusern von Paris gedachte er die Zauberin Fortuna zu zwingen, ihm ihre Schätze herauszugeben.

Ein Zufall enthob ihn dieser Sorgen. In Moskau hatte sich nämlich eine Vereinigung reicher Spieler gebildet, die unter dem Vorsitz des berühmten Tschekalinski tagte, der sein ganzes Leben am Kartentisch zubrachte und einst Millionen gewonnen hatte. Seine langjährigen Erfahrungen erwarben ihm das Vertrauen der Kameraden, und sein gastfreies Haus, die vorzügliche Küche sowie seine Freundlichkeit und Heiterkeit eroberten ihm die Gunst des Publikums. Dieser Tschekalinski siedelte nun nach Petersburg über, und die ganze jeunesse dorée strömte ihm sofort begeistert zu, ließ um der Karten willen alle Bälle im Stich und zog die Reize des Spiels dem Flirten vor. Narumoff führte eines Tages auch seinen Freund Herrmann dahin.

Sie durchschritten eine Flucht von prächtig eingerichteten Zimmern, die alle von Menschen erfüllt waren. Da saßen verschiedene Generale und Geheimräte und spielten Whist, während die jüngeren Herren sich auf den brokatüberzogenen Sofas herumräkelten und ihr Pfeifchen rauchten. Im eigentlichen Gastzimmer drängten sich um einen langen, schmalen Tisch ungefähr zwanzig Spieler; unter ihnen der Hausherr, der die Bank hielt. Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren, trug ein würdiges Wesen zur Schau und hatte, in seltsamem Kontrast zu seinem silberweißen Greisenhaar, ein frisches, rundes Gesicht, auf dem ein unerschütterlich gleichmütiger Zug lag, während seine blitzenden Augen ständig zu lächeln schienen ... Narumoff machte ihn mit Herrmann bekannt; Tschekalinski drückte diesem freundschaftlich die Hand, bat ihn, sich keinen Zwang aufzuerlegen und fuhr darauf im Kartengeben fort.

Die Taille dauerte recht lang. Auf dem Tisch befanden sich über dreißig Karten. Tschekalinski machte nach jeder Runde eine Pause, um den Spielern Zeit für ihre Dispositionen zu lassen; währenddessen schrieb er sich die Verluste auf, hörte zuvorkommend die Wünsche der Spieler an und strich ebenso zuvorkommend die von zerstreuten Händen umgebogenen Ecken der Karten glatt. Endlich war die Taille zu Ende. Tschekalinski mischte die Karten und begann eine neue Taille.

»Gestatten Sie, daß ich auf eine Karte setze?« erkundigte sich Herrmann und streckte die Hand hinter einem korpulenten Herrn, der am Spieltisch saß, vor.

Tschekalinski lächelte und verbeugte sich leicht zum Zeichen seines Einverständnisses. Narumoff gratulierte Herrmann lachend zu diesem Entschluß und wünschte ihm ein glückliches Beginnen.

»Ich halte,« sagte Herrmann und schrieb seinen Einsatz mit Kreide neben die von ihm gewählte Karte auf den Tisch.

»Wieviel, bitte?« fragte Tschekalinski mit zusammengekniffenen Augen. »Entschuldigen Sie, aber ich kann die Zahl von hier aus nicht erkennen.«

» Siebenundvierzigtausend Rubel!« antwortete Herrmann.

Bei diesen Worten wandten sich ihm augenblicklich alle Köpfe zu, und alle Augen sahen ihn an. »Er ist verrückt geworden!« dachte Narumoff bei sich.

»Gestatten Sie mir eine Bemerkung,« sagte Tschekalinski mit seinem unbeirrbaren Lächeln, »Ihr Einsatz ist sehr hoch; bisher hat hier noch niemand höher als zweihundertfünfundsiebzig ›Simple‹ gesetzt.«

»Einerlei,« entgegnete Herrmann. »Akzeptieren Sie meinen Einsatz oder nicht?«

Tschekalinski verbeugte sich zustimmend.

»Ich möchte Ihnen nur bemerken,« sagte er, »daß ich, da die Kameraden mich ihres Vertrauens würdigen, nicht anders als gegen bares Geld spielen darf. Ich bin von mir aus natürlich davon überzeugt, daß Ihr Wort genügt; allein der Ordnung halber und zur Vereinfachung der Abrechnung möchte ich Sie bitten, Ihren Einsatz in bar auf die Karte zu setzen.«

Herrmann zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche und überreichte es Tschekalinski, der die Papiere flüchtig prüfte und sie auf Herrmanns Karte legte. Rechts lag eine Zehn, links eine Drei.

»Ich habe gewonnen!« sagte Herrmann und wies seine Karte.

Unter den Spielern erhob sich ein Raunen. Tschekalinski machte ein ernstes Gesicht; allein bald fand er sein gewohntes Lächeln wieder.

»Belieben Sie Ihren Gewinn gleich zu empfangen,« wandte er sich an Herrmann.

»Ich bitte darum.«

Tschekalinski entnahm seiner Tasche eine Reihe von Banknoten und rechnete sofort ab. Herrmann nahm das Geld entgegen und trat zur Seite. Narumoff konnte sich vor Aufregung gar nicht fassen, während Herrmann gelassen ein Glas Limonade austrank und sich dann nach Hause begab ...

Am Abend des folgenden Tages erschien er abermals bei Tschekalinski. Der Hausherr hielt gerade die Bank. Herrmann trat an den Spieltisch, und die anderen Spieler machten ihm sofort Platz. Tschekalinski begrüßte ihn mit einer liebenswürdigen Verbeugung. Herrmann wartete, bis eine neue Taille begann, wählte dann eine Karte und setzte auf diese seine siebenundvierzigtausend Rubel und den gleichen Gewinn vom gestrigen Tage. Tschekalinski begann wieder die Karten abzuziehen: rechts kam ein Bube zu liegen, links eine Sieben.

Herrmann zeigte seine Karte: es war eine Sieben. Er hatte wieder gewonnen.

Ausrufe des Staunens und der Verwunderung schwirrten durch den Saal. Tschekalinski schien verwirrt zu sein. Dann faßte er sich, holte aus seiner Brieftasche vierundneunzigtausend Rubel und überreichte sie Herrmann. Dieser nahm das Geld kaltblütig entgegen und entfernte sich im nächsten Augenblick.

Am anderen Abend erschien er wiederum am Spieltisch. Alle erwarteten ihn schon: die Generale und Geheimräte ließen ihren Whist im Stich, um dieses ungewöhnliche Spiel anzusehen, die jungen Offiziere sprangen von den Sofas auf, und sogar die Dienerschaft schlich sich leise in den Spielsaal. Alle umringten sie Herrmann. Die anderen Spieler unterließen es, auf ihre Karten zu setzen, und warteten mit Ungeduld auf den Ausgang dieses Spieles. Herrmann stand am Tisch, bereit, gegen den bleichen, aber trotzdem noch immer lächelnden Tschekalinski anzutreten. Jeder von den beiden öffnete ein neues Spiel Karten, Tschekalinski mischte, Herrmann hob ab und zog eine Karte, die er mit einem Haufen von Banknoten und Gold bedeckte: sein Einsatz betrug jetzt hundertachtundachtzigtausend Rubel. Ringsumher herrschte tiefes Schweigen. Das Ganze glich einem ernsten Zweikampf.

Tschekalinski zog die Karten ab. Seine Hände zitterten leise. Rechts lag eine Dame, links ein As.

»Mein As hat gewonnen!« sagte Herrmann und deckte seine Karte auf.

»Ihre Dame ist geschlagen!« erwiderte Tschekalinski freundlich.

Herrmann zuckte zusammen: in der Tat lag an Stelle des As eine Pique-Dame vor ihm. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen ...

Im selben Moment schien es ihm, als ob die Pique-Dame die Augen zukniff und ihn höhnisch anlachte. Eine ungewöhnliche Ähnlichkeit frappierte ihn ...

» Die Alte!« schrie er entsetzt und sprang mit weitaufgerissenen Augen auf.

Tschekalinski zog die gewonnenen Banknoten zu sich. Herrmann stand unbeweglich da. Als er endlich vom Tisch zurücktrat, erhob sich eine lärmende Unterhaltung.

»Er hat famos pointiert,« sagten die Spieler.

Tschekalinski mischte von neuem die Karten, und das Spiel nahm seinen gewöhnlichen Fortgang.

*

Herrmann verfiel in Wahnsinn. Er befindet sich im Obuchoffschen Hospital, Zelle Nummer siebzehn, antwortet auf keinerlei Fragen und murmelt unaufhörlich die Worte vor sich hin: »Drei, Sieben, As! Drei, Sieben, Dame ...«

Lisaweta Iwanowna hat einen liebenswürdigen jungen Menschen geheiratet, der irgendwo als Beamter tätig ist und ein anständiges Einkommen hat: er ist der Sohn eines früheren Gutsverwalters der alten Gräfin. Lisaweta erzieht ebenfalls eine arme Verwandte bei sich.


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