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Utopien und Grotesken

Eine Idee des Doktor Ox

Von Jules Verne

Initial Wenn ihr euch daran macht, auf einer älteren oder neueren Karte von Flandern die kleine Stadt Quiquendone aufzusuchen, wird eure Mühe sich wahrscheinlich als vergeblich erweisen. Ist Quiquendone denn vom Erdboden verschwunden? Nein. Eine Stadt der Zukunft vielleicht? Auch das nicht. Sie existiert den Handbüchern der Geographie zum Trotz, und zwar schon seit acht- oder neunhundert Jahren; ja, sie zählt sogar 2393 Seelen, wenn man jedem ihrer Bewohner eine Seele zuerkennen will. Quiquendone erstreckt sich dreizehn und ein halb Kilometer nordwestlich von Audenarde und fünfzehn und ein viertel Kilometer südöstlich von Brügge, mitten in Flandern.

Als Merkwürdigkeiten der Stadt sind zu nennen ein altes Schloß, dessen Grundstein vom Grafen Balduin, dem zukünftigen Kaiser von Konstantinopel, gelegt wurde, und ein Rathaus mit gotischen Bogenfenstern, das von Zinnen gekrönt und von einer dreihundertsiebenundfünfzig Fuß hohen Warte mit Türmchen überragt wird. Man hört hier jede Stunde ein Glockenspiel von fünf Oktaven, ein förmliches Luftklavier, das einen noch größeren Ruf hat als das Glockenspiel in Brügge. Als Hauptindustriezweig betreibt Quiquendone die Fabrikation von Schlagsahne und Gerstenzucker auf großer Skala; diese Fabrik wird seit Jahrhunderten in der Familie Tricasse verwaltet und vom Vater auf den Sohn vererbt. Aber trotz alledem ist Quiquendone nicht auf der Karte von Flandern zu finden; ob aus Vergeßlichkeit der Geographen oder aus böswilliger Absicht, ist mir unerforschlich geblieben. So viel jedoch steht fest: Quiquendone existiert, und seine engen Straßen, seine befestigte Umfassungsmauer, seine Markthalle und endlich sein Bürgermeister legen beredtes Zeugnis dafür ab; ja der letztere würde euch auf das klarste dartun können, daß Quiquendone in jüngster Zeit der Schauplatz eines ebenso außerordentlichen und unwahrscheinlichen als wahrhaftigen Naturphänomens gewesen ist, und hierüber wollen wir in vorliegender Erzählung getreulich berichten.

Von den Flamändern des westlichen Flanderns läßt sich gewiß weder Böses sagen noch denken; sie zeigen sich als rechtschaffene, sparsame, gesellige, gleichmütige und gastliche Leute, die, was ihre Sprache und geistigen Fähigkeiten anbetrifft, vielleicht ein wenig schwerfällig sind, aber das erklärt noch immer nicht, wie es kommt, daß eine der interessantesten Städte des Landes sich ihren Platz in der neueren Kartogaphie erst noch erobern soll.

Der behäbige Bürgermeister van Tricasse, ein Mann von fünfzig Jahren, und Rat Niklausse gingen in ihrem durch nichts zu erhitzenden Gleichmut, ihrer absoluten Ruhe und Langsamkeit den phlegmatischen Bewohnern von Quiquendone, die durch nichts in der Welt in eine Unruhe, geschweige denn gar in eine Nervosität zu bringen waren, als Muster von traditioneller Andächtigkeit, kalter Gleichgültigkeit, tiefer Schweigsamkeit voran. Eines Tages saßen der Bürgermeister und sein Rat im stillfriedlichen Hause des Bürgermeisters und berieten über wichtige städtische Dinge. Nachdem sie stundenlang dagesessen und sich ausgeschwiegen hatten – nur ab und zu fiel ein störendes Wort –, fragte der Bürgermeister:

»Hat man mir nicht letzthin gesagt, daß der Turm des Audenarder Tores einzustürzen droht?«

»Allerdings,« bestätigte der Rat. »Es dürfte uns nicht in Erstaunen setzen, wenn er eines schönen Tages den Vorübergehenden auf den Kopf fallen und sie zerschmettern würde.«

»Oh!« versetzte der Bürgermeister; »ich hoffe doch, daß wir eine Entscheidung in betreff des Turmes getroffen haben, bis sich ein solches oder ähnliches Unglück ereignet.«

»Wir wollen es hoffen, van Tricasse.«

»Es sind jetzt noch dringendere Fragen zu lösen.«

»Allerdings,« erwiderte der Rat. »Zum Beispiel was die Lederhalls anbetrifft.«

»Brennt sie immer noch?« fragte der Bürgermeister.

»Ja, bereits seit drei Wochen.«

»Haben wir nicht im Rate beschlossen, sie brennen zu lassen?«

»Ja, van Tricasse, und zwar auf Ihren Vorschlag.«

»War das nicht das sicherste und einfachste Mittel, der Feuersbrunst Herr zu werden?«

»Ohne alle Widerrede.«

»Warten wir das weitere also ab. Das wäre alles?«

»Ja,« antwortete der Rat und kraute an der Stirn, als wolle er sich vergewissern, daß er keine wichtige Angelegenheit vergessen habe.

»Nun?« begann er kurze Zeit darauf, »wir haben noch nicht unsere wichtigste Tagesfrage abgehandelt!«

»Was für eine wichtige Tagesfrage? Haben wir denn eine wichtige Tagesfrage?«

»Allerdings, Tricasse, es handelt sich um die Beleuchtung der Stadt.«

»Ach richtig, nun fällt's mir ein, Sie meinen das Beleuchtungswerk des Doktor Ox

»Gewiß.«

»Nun, die Sache geht ihren Gang, Niklausse,« erklärte der Bürgermeister. »Man macht sich schon an die Röhrenlegung, und die Anstalt ist vollständig fertig.«

»Wir haben uns doch vielleicht bei dieser Geschichte etwas übereilt,« meinte der Rat kopfschüttelnd.

»Vielleicht,« gab der Bürgermeister zu; »aber zu unserer Entschuldigung sei es gesagt, der Doktor Ox bestreitet den ganzen Kostenaufwand seines Versuches. Die Sache wird uns keinen Heller kosten.«

»Das ist freilich eine sehr triftige Entschuldigung; auch muß man doch mit seiner Zeit fortschreiten, und wenn der Versuch gelingt, ist Quiquendone die erste Stadt in ganz Flandern, die mit diesem Gas erleuchtet wird. Wie nennt er es doch? Oxy ...«

» Oxyhydrogengas

»Also Oxyhydrogengas.«

In diesem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und das Dienstmädchen Lotchè verkündete dem Bürgermeister, daß das Abendessen aufgetragen sei. Man kam überein, daß der Rat der Notabeln zu einem ziemlich entfernten Zeitpunkt versammelt werden solle, um zu entscheiden, ob in bezug auf die ziemlich dringliche Turmfrage eine Entscheidung zu treffen sei. Die beiden würdigen Ratsherren steuerten nun auf die Haustüre zu, indem der eine den anderen geleitete. Als Niklausse an die letzte Treppenstufe gekommen war, zündete er eine kleine Laterne an, die ihm durch die dunklen Gassen Quiquendones leuchten sollte, denn noch waren sie ja nicht durch die Beleuchtung des Doktor Ox erhellt. Kaum wollte sich Niklausse in bedächtige Bewegung setzen, als ein seit Jahrhunderten nicht dagewesenes Pochen an die Haustüre den Bürgermeister in höchstes Erstaunen setzte. War der Weltuntergang nahe, daß man zur Nachtzeit an die Türen klopfte? Der Riegel wurde zurückgeschoben und Kommissar Passauf stürmte in enormer Aufregung herein, um atemlos etwas Niedagewesenes, Entsetzliches zu melden. Beim Doktor Ox sei Gesellschaft gewesen, und man habe – man denke nur – von – – Politik gesprochen – dem Bürgermeister sträubten sich die Haare der Perücke, und der Advokat André Schut sei mit Doktor Custos so heftig zusammengeraten, daß ein Duell unvermeidlich sei.

»Ein Duell!?« rief der Rat, »ein Duell in Quiquendone!!! Beleuchten Sie die Sache näher, was für Reden haben Advokat Schut und Doktor Custos gegeneinander geführt?«

»Ich will die schwere Beleidigung wörtlich wiederholen: ›Herr Advokat,‹ hatte der Arzt gesagt, ›Sie gehen, wie mir scheint, etwas zu weit und denken nicht genug daran, Ihre Worte abzuwägen!‹«

Der Bürgermeister van Tricasse faltete entsetzt die Hände. Nein, solch böse und heftige Reden zu führen! Der Rat war erblaßt und hatte vor Schreck seine Laterne fallen lassen. Der Kommissar schüttelte das Haupt. Eine so offenbar herausfordernde Redensart zwischen zwei Notabeln des Landes!

»Ich habe es lange gewußt,« sagte der Bürgermeister in gedämpftem Tone, »dieser Arzt ist ein gefährlicher Mensch, ein ganz entschiedener Hitzkopf!«

*

Wer war nun dieser Doktor Ox?

Jedenfalls ein Original; zugleich aber ein genialer Gelehrter, ein Physiolog, dessen Arbeiten in der ganzen Gelehrtenwelt Europas hoch angesehen waren; der glückliche Nebenbuhler eines Davy, Dalton, Bostock, Menzies, Godwin, Vierordt und all der geistvollen Männer, welche die Physiologie in der neueren Zeit zu einer Wissenschaft ersten Ranges erhoben hatten.

Doktor Ox war von mittlerer Größe, mittlerer Stärke, im Alter von ... aber nein, wir können seine Jahre ebensowenig wie seine Nationalität genau bestimmen. Auch tut das nichts zur Sache; es ist genug, wenn wir wissen, daß Doktor Ox ein eigentümlich heißblütiger exzentrischer Mensch war, den man in Verdacht haben konnte, daß er einem Buche E. T. A. Hoffmanns entsprungen sei. Daß dieser temperamentvolle Mann zu den phlegmatischen Bewohnern von Quiquendone einen eigentümlichen Kontrast bildete, bedarf nach dieser Beschreibung keines besonderen Wortes.

Auf sich und seine Lehren setzte Doktor Ox ein unerschütterliches Vertrauen, und wenn er mit erhobenem Haupt und lächelndem Blick, den hübschen, schlanken Schultern und weitgeöffneten Nüstern einherging und in mächtigen Zügen mit seinem großen Munde die Luft einsog, machte er einen gefälligen Eindruck. Er war lebhaft, sehr lebhaft sogar, durchaus proportioniert, munter und hatte Quecksilber in den Adern und hundert Nadeln in den Füßen. Es war ihm unmöglich, längere Zeit ruhig an einer Stelle zu bleiben, und leidenschaftliche Gebärden wie übereilte Worte entfuhren ihm in Menge.

War dieser Doktor Ox denn reich, daß er auf eigene Kosten die Beleuchtung der ganzen Stadt bestreiten wollte?

Doch wohl, da er sich solche Ausgaben gestatten konnte. Doktor Ox hatte sich seit fünf Monaten in Quiquendone niedergelassen, und zwar in Gesellschaft seines Famulus Gédéon Ygen, der nicht weniger lebhaft als sein Herr, aber ein großer, schmaler, hagerer Mann war.

Weshalb nun hatte dieser Doktor Ox, und noch dazu auf seine eigenen Kosten, die Beleuchtung der Stadt in Submission genommen, und warum gerade die Quiquendonianer, diese Flamänder aller Flamänder, auserwählt, um sie mit den Wohltaten seiner alles übertreffenden Beleuchtung zu beglücken? Wollte er unter diesem Vorwande ein großes physiologisches Experiment erproben? Auf all diese Fragen müssen wir die Erwiderung schuldig bleiben, denn Doktor Ox hatte keinen anderen Vertrauten als seinen Famulus Ygen, und dieser gehorchte ihm blindlings.

Allem Anscheine nach war aber Doktor Ox die Verpflichtung eingegangen, der Stadt eine Beleuchtung zu verschaffen, und diese war einer solchen bedürftig; »besonders in der Nacht,« bemerkte fein der Kommissar Passauf. So war eine Anstalt für die Erzeugung des Leuchtgases hergestellt worden, die Gasometer standen bereit zum Arbeiten, und die Leitungsröhren, die unter dem Straßenpflaster zirkulierten, sollten binnen kurzem in Gestalt von Brennern in öffentliche Gebäude und sogar einige Privathäuser von Freunden des Fortschritts auslaufen.

Die Stadt sollte nicht durch die Verbrennung des gewöhnlichen Kohlenwasserstoffs beleuchtet werden, den die Destillation der Steinkohle liefert, sondern durch Anwendung eines neueren, zwanzigmal intensiveren Gases, des Oxyhydrogengases, das durch Mischung von Hydrogen und Oxygen hervorgebracht wird.

Nun wußte aber der Doktor als geschickter Chemiker und geistreicher Physiker dieses Gas in großer Masse und zu sehr wohlfeilem Preise zu erzeugen; nicht etwa durch Anwendung des mangansauren Natrons nach dem Verfahren des Herrn Tessié du Motay, sondern einfach durch Zerlegung des leicht gesäuerten Wassers mittels einer aus neuen Elementen zusammengesetzten und von ihm erfundenen Säule. Also keine kostspieligen Substanzen; kein Platin, keine Retorten, kein Brennstoff, kein empfindlicher Apparat, um die beiden Gase isoliert zu erzeugen. Ein elektrischer Strom durchfuhr ungeheure, mit Wasser angefüllte Kübel, und das flüssige Element wurde in seine beiden wesentlichen Teile, Sauerstoff und Wasserstoff, zerlegt. Der Sauerstoff ging auf die eine, der Wasserstoff, in doppeltem Volumen wie sein ehemaliger Begleiter, auf die andere Seite. Beide wurden in getrennten Behältern gesammelt – eine sehr wesentliche Vorsichtsmaßregel, denn ihre Mischung hätte eine furchtbare Explosion hervorgerufen, so wie sie entzündet worden wäre. Dann sollten sie in gesonderten Röhren zu den verschiedenen Brennern geleitet werden, und diese waren in einer Weise konstruiert, die jede Explosion verhinderte. So mußte ein ganz außerordentlich glänzendes Licht entstehen, eine Flamme, die mit dem elektrischen Licht rivalisiert.

Durch diese freigebige Kombination sollte die Stadt Quiquendone eine wahrhaft großartige Beleuchtung bekommen; darüber aber machten sich, wie wir alsbald sehen werden, Doktor Ox und sein Famulus die allergeringste Sorge. Am folgenden Morgen, nachdem der Kommissar Passauf in so ungeheuerlicher Weise im Bürgermeisterhause erschienen war, plauderten Gédéon Ygen und Doktor Ox miteinander in dem Arbeitszimmer, das beide parterre im Hauptgebäude der Anstalt innehatten.

»Nun, Ygen!« rief Doktor Ox und rieb sich vergnügt die Hände, »Sie haben gestern bei unserem Empfangsabend die guten Quiquendonianer kennen gelernt, diese kaltblütigen Leute, die an Lebhaftigkeit zwischen Schwämmen und Korallengewächsen die Mitte halten. Sie haben gesehen, wie sie sich mit Wort und Gebärde herausforderten und schon anfangen, sich moralisch und physisch zu verwandeln. Und doch war das nur eben ein Anfang! Geben Sie acht, was aus der Gesellschaft wird, wenn wir anfangen, sie mit starken Dosen zu behandeln.«

»Allerdings, mein Herr und Meister,« erwiderte Gédéon Ygen und rieb seine spitze Nase mit dem Zeigefinger, »der Versuch fängt gut an. Wenn ich nicht selbst vorsichtig den Hahn zugedreht hätte, weiß ich nicht, was passiert wäre.«

»Sie haben gehört, wie dieser Advokat Schut und der Doktor Custos mit Redensarten aufeinander losgingen, hub Doktor Ox wieder an, »und wenn ihre Worte auch an und für sich nicht so schlimm waren, wie die Helden Homers sie einander an die Köpfe zu werfen pflegten, ehe sie das Schwert aus der Scheide zogen, für phlegmatische Quiquendonianer waren sie doch schon recht nett. Ach diese Flamänder! Nun, Sie werden sehen, Ygen, was wir noch an ihnen erleben werden.«

»Wir hätten nichts Besseres zu unserem Experiment finden können als dieses Quiquendone.«

»Absolut nicht,« bestätigte der Doktor mit nachdrücklicher Betonung.

»Haben Sie den hiesigen Einwohnern den Puls gefühlt?«

»Wohl hundertmal.«

»Und die Durchschnittszahl der beobachteten Pulsschläge?«

»Nicht fünfzig in der Minute. Verstehen Sie mich recht, Ygen, eine Stadt, in der seit einem Jahrhundert nicht der Schatten einer Diskussion vorgekommen ist, in der die Fuhrleute nicht fluchen, die Kutscher nicht schimpfen, die Pferde nicht durchgehen, die Hunde nicht beißen und die Katzen nicht kratzen! Eine Stadt, in der Polizei und Gericht von einem Ende des Jahres bis zum anderen feiern! Eine Stadt, in der man sich weder für Industrie noch Kunst interessiert! Eine Stadt, in der die Gendarmen in die Zeit der grauen Mythe gehören, und in der seit einem Jahrhundert kein Protokoll ausgenommen ist! Eine Stadt endlich, in der seit dreihundert Jahren kein Faustschlag und keine Ohrfeige ausgeteilt wurden!«

»Vorzüglich! Ganz vorzüglich!« rief der Famulus begeistert. »Der Versuch wird im großen angestellt werden und jedenfalls entscheidend sein!«

»Und wenn er entscheidend ist,« rief Doktor Ox triumphierend, »dann werden wir die Welt reformieren!«

Rat Niklausse und der Bürgermeister van Tricasse erfuhren endlich einmal, was eine aufgeregte Nacht bedeutet; der bedenkliche Vorgang im Hause des Doktor Ox verursachte beiden wirklich Schlaflosigkeit. Was würde diese Angelegenheit für Folgen haben? Man konnte bis jetzt noch nichts Bestimmtes darüber ins Auge fassen. Wäre vielleicht eine Entscheidung zu treffen? Sie beschlossen am nächsten Tage, dem Doktor Ox einen Besuch zu machen, um den Fall aufzuklären. Bürgermeister und Rat gaben sich zwar nicht den Arm, gingen aber in langsamem, feierlichem Schritt einher, so daß sie nur etwa dreizehn Zoll in der Sekunde vorwärts kamen. Es war dies, nebenbei bemerkt, der gewöhnliche Amtsschritt ihrer Verwaltungsuntergebenen, die seit Menschengedenken nicht in eiligem Tempo durch die Straßen von Quiquendone gegangen waren. Langsam aber sicher langten die beiden Herren an der Türe der Anstalt an. Doktor Ox ließ sie sogar eine Stunde warten, was den Bürgermeister veranlaßte, zum erstenmal in seinem Leben Ungeduld zu bezeigen. Als Doktor Ox erschien, sagte er ihnen, daß alles rüstig vorwärts gehe, die für das Oxygen bestimmten Leitungen seien bereits gelegt, und binnen wenigen Monaten würde die Stadt mit brillanter Beleuchtung ausgestattet sein. Die beiden Notabeln hatten schon mit Genugtuung die Röhrenmündungen bemerkt, die in das Arbeitszimmer des Doktors ausliefen.

Sodann erkundigte sich der Doktor nach dem Motiv, das ihm die Ehre verschaffe, den Herrn Bürgermeister und Rat Niklausse bei sich zu sehen.

»Nun, wir wollten einmal bei Ihnen vorsprechen, um Sie zu sehen, Herr Doktor,« begann Tricasse, »es ist geraume Zeit her, daß wir das Vergnügen hatten. In unserer guten Stadt Quiquendone kommen wir wenig aus dem Hause, und unsere Schritte sind genau abgemessen. Wir finden es eben am besten, wenn das Gleichgewicht durch nichts gestört wird.«

Niklausse sah seinen Freund erstaunt an; niemals, so lange er ihn kannte, hatte der Bürgermeister so lange hintereinander gesprochen, so viel gesagt, ohne seine Sätze durch breite Pausen zu trennen. Es schien beinahe, als drückte sich Tricasse mit einer gewissen Zungengeläufigkeit aus, die bei ihm vollständig abnorm war. Niklausse selber verspürte, ob von solchem Beispiel angestachelt oder durch irgendeinen anderen Beweggrund veranlaßt, eine unwiderstehliche Lust, sich ins Gespräch zu mischen.

Doktor Ox schaute den Bürgermeister mit einem eigentümlich boshaften Zuge um den Mund aufmerksam an.

Tricasse, der sonst immer erst auf eine Diskussion einging, wenn er sich bequem in einem Lehnstuhl eingeschachtelt hatte, führte heute seine Unterredung stehend. Eine sonderbare, nervöse Überreiztheit, die bis jetzt seiner Gemütsstimmung ganz fern gelegen hatte, erfaßte ihn von Minute zu Minute mehr. Noch gestikulierte er zwar nicht, aber auch das konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Was Rat Niklausse anlangt, so rieb er sich mit steigender Vehemenz die Schenkel und holte tief und schwer Atem, wie jemand, der nur auf die Gelegenheit wartet, dem Freunde und Vertrauten beizuspringen.

Van Tricasse war, wie bereits erwähnt, aufgestanden, hatte einige Schritte getan und sich schließlich dem Doktor gerade gegenüber gestellt.

»Und in wieviel Monaten gedenken Sie mit Ihren Arbeiten fertig zu werden, Herr Doktor?« fragte er jetzt mit leichter Betonung.

»In einem Vierteljahr oder etwas darüber,« antwortete Doktor Ox.

»Also in drei bis vier Monaten,« meinte der Bürgermeister; das ist noch lange hin, Herr Doktor!«

»Ja, gewiß, viel zu lange!« fügte Niklausse hinzu, der sich nicht länger auf seinem Platz halten konnte und gleichfalls aufgesprungen war.

»Wir brauchen diese Zeit notwendig für unsere Zurüstungen,« entgegnete der Doktor; »die Arbeiter – wir haben sie hier aus der Bevölkerung von Quiquendone wählen müssen – sind eben nicht sehr rasch und gewandt.«

»Wie, die hiesigen Arbeiter wären Ihnen nicht rasch und gewandt genug?« rief der Bürgermeister, der diese Äußerung als eine persönliche Beleidigung aufzufassen schien.

»Nein, Herr Bürgermeister, das kann man wohl nicht behaupten,« erwiderte der Doktor nicht ohne Absicht. »Ein französischer Arbeiter würde an einem Tage mehr leisten als zehn von Ihren Leuten in derselben Zeit. Sie wissen, es sind echte Flamänder!«

»Wie, Flamänder!« rief Rat Niklausse, und seine Fäuste ballten sich; »was für eine Bedeutung verbinden Sie mit diesem Wort, wenn man fragen darf, Herr?«

»Nun, die – liebenswürdige Bedeutung, die ihm von jedermann beigelegt wird,« begütigte lächelnd der Doktor.

»Aber, Herr Doktor,« begann von neuem der Bürgermeister, indem er das Zimmer von einem Ende bis zum anderen durchmaß, »ich muß mir die Bemerkung erlauben, daß ich dergleichen Insinuationen durchaus nicht liebe. Die Handwerker Quiquendones können es mit den Arbeitern jeder anderen Stadt aufnehmen, und wir gedenken weder in Paris noch London in dieser Beziehung unsere Vorbilder zu suchen. Was Ihre Zurüstungen betrifft, so muß ich dringend bitten, sie so sehr wie irgend möglich zu beschleunigen

Der wackere Mann! Was in aller Welt war denn plötzlich mit ihm vorgegangen?

»Übrigens kann die Stadt nicht länger die Beleuchtung entbehren,« fügte Rat Niklausse hinzu.

»Eine Stadt, die seit acht- bis neunhundert Jahren ohne diese fertig geworden ist?« meinte der Doktor in zweifelndem Ton.

»Nur noch ein Grund mehr für unsere Behauptung,« nahm der Bürgermeister wieder das Wort, indem er jede Silbe nachdrücklich betonte, »andere Zeiten, andere Sitten! Der Fortschritt macht sich überall geltend, und wir gedenken nicht hinter unserer Zeit zurückzubleiben. Wir erwarten bestimmt, daß unsere Stadt in einem Monat Beleuchtung hat, oder Sie werden für jeden Tag der Verzögerung eine bedeutende Geldbuße erlegen. – Apropos, der Kommissar Passauf, das Oberhaupt der städtischen Polizei, hat uns von einem Streit Mitteilung gemacht, der gestern abend in Ihren Salons, Herr Doktor, stattgefunden haben soll. Wenn mir recht berichtet ist, so hat es sich um eine politische Diskussion gehandelt!«

»Das kann ich allerdings nicht in Abrede stellen, Herr Bürgermeister,« erwiderte Doktor Ox, der nur mit Mühe ein Lächeln der Befriedigung unterdrücken konnte.

»So beruht also diese unangenehme Differenz zwischen dem Arzt Dominique Custos und dem Advokaten André Schut wirklich auf Wahrheit?«

»Ja, Herr Rat, aber die Ausdrücke, deren sich die Herren bedienten, hatten durchaus nichts Bedenkliches.«

»Wie, nichts Bedenkliches?« rief der Bürgermeister. »Sie halten es nicht für bedenklich, wenn ein Mann dem andern ins Gesicht sagt, er messe die Tragweite seiner Worte nicht ab? Aus was für einem Teig sind Sie denn gebacken, Herr, wenn Sie nicht wissen, daß es in Quiquendone keines weiteren Anlasses bedarf, um die bedauerlichsten Folgen herbeizuführen? Ich kann Sie versichern, Herr, wenn Sie oder sonst jemand sich erlaubte, so mit mir zu sprechen ...«

»Oder mit mir ...,« fügte Rat Niklausse hinzu.

Als die beiden Notabeln ihrem Groll in diesen Worten Luft gemacht hatten, sahen sie dem Doktor Ox mit so drohender Miene und emporgesträubtem Haar ins Gesicht, als seien sie bereit, bei dem geringsten Widerspruch in Wort, Gebärde oder Blick ihm übel mitzuspielen. Des Bürgermeisters Stimme war in zornigem Tonfall so angeschwollen, daß man ihn auf der Straße hätte hören können. Als er sah, daß Doktor Ox nicht das geringste auf seine Herausforderung erwiderte, geriet er vollends außer sich:

»Kommen Sie, Niklausse,« rief er wütend, warf die Türe mit einer Heftigkeit ins Schloß, daß das ganze Haus erdröhnte, und zog den Rat mit sich fort.

Als die Herren einige zwanzig Schritt auf freiem Felde gemacht hatten, beruhigten sich ihre Nerven, ihr Schritt mäßigte sich mehr und mehr, und die dunkle Zornesröte auf ihren Wangen verwandelte sich wieder in das frühere matte Rosa.

Eine Viertelstunde, nachdem sie die Anstalt verlassen hatten, wandte sich Tricasse zu seinem Rat und sagte mit sanfter, ruhiger, quiquendonianischer Stimme:

»Wirklich ein liebenswürdiger Mensch, dieser Doktor Ox; ich muß gestehen, daß ich ihn immer mit dem größten Vergnügen besuche.«

*

Bürgermeister van Tricasse hatte eine Tochter, Fräulein Suzel, und Rat Niklausse einen Sohn mit Namen Frantz. Und Frantz war mit Suzel verlobt. Wir fügen dieser Mitteilung noch hinzu, daß die beiden jungen Leute wie füreinander geschaffen waren, und daß sie sich so leidenschaftlich liebten, wie man sich eben in Quiquendone lieben kann.

Man muß durchaus nicht glauben, daß in dieser exzeptionellen Stadt junge Herzen nicht auch geschlagen hätten, nur geschah das mit einer gewissen Ruhe und Langsamkeit. Natürlich heirateten die Leute in Quiquendone wie auch sonst überall, aber man brauchte Zeit dazu. Jeder wollte seinen Zukünftigen oder seine Zukünftige gründlich studieren, ehe die fesselnden Bande sich um ihn und sie schlangen, und solche Studien pflegten, wie auf einem regulären Gymnasium, mindestens zehn Jahre zu dauern. Daß ein Paar vor dieser Zeit »für reif erklärt« wurde, kam äußerst selten vor. Allwöchentlich ein einziges Mal, zu fest bestimmter Stunde, holte Frantz seine Suzel zu einem Spaziergang am Ufer des Vaar ab; natürlich nie, ohne daß er seine Angelschnur, Suzel ihre Stickarbeit mitnahm, an der ihre hübschen Finger dann die unwahrscheinlichsten Blumen miteinander vermählten. Frantz liebte diesen Zeitvertreib, der so vorzüglich zu seinem Temperament paßte, denn er war über alles Maß geduldig und gefiel sich darin, mit träumerischem Auge nach dem Korkpfropfen zu starren, der auf dem Wasserspiegel hin und her zitterte. Wenn sich dann, nach sechsstündiger Sitzung, ein bescheidenes Fischchen Frantzens erbarmte und anbiß, war er sehr zufrieden und glücklich, wußte aber doch seine Aufregung zu beherrschen.

An jenem Tage nun saßen die beiden Verlobten wieder auf dem grünenden Flußufer und ließen, einige Fuß tiefer, den Vaar an sich vorüberziehen. So saßen sie stundenlang, tauschten ab und zu ein freundliches Wort aus und sahen auf den Angelkork, der bei jeder kleinen Bewegung ihre Herzen höher schlagen ließ. Unter den Bärbchen schien sich heute auch nicht eins zu finden, das Mitleid genug mit den jungen Leuten gehabt hätte, um anzubeißen, und diese wiederum waren zu gerecht, um ihnen das übel zu nehmen. Beide machten sich darum, ohne ein Wort weiter zu wechseln, auf den Nachhauseweg, so stumm wie ihre Schatten, die sich mehr und mehr verlängerten. Als die Haustür sich gerade vor ihnen öffnen sollte, glaubte Frantz noch einige Worte mit seiner Braut sprechen zu müssen:

»Du weißt, Suzel, der große Tag unserer Hochzeit kommt heran.«

»Ja, Frantz, er naht!« bestätigte das junge Mädchen und senkte errötend die langen Wimpern.

»Schon in fünf bis sechs Jahren ...,« fügte der zärtliche Liebhaber hinzu.

»Auf Wiedersehen, Frantz.«

»Auf Wiedersehen, Suzel.«

Die Haustür fiel ins Schloß, und der junge Mann begab sich in langsamem, gleichmäßigem Schritt zum Hause seines Vaters, des Rats Niklausse, zurück.

Die durch den Streit des Advokaten Schut und des Doktors Custos in der Stadt verursachte Aufregung hatte sich bald wieder besänftigt und war von keinen weiteren Folgen gewesen. Man durfte also hoffen, daß Quiquendone wieder in seine gewöhnliche Apathie, zurückversinken würde, die für kurze Augenblicke auf so unerklärliche Weise unterbrochen war.

Unterdessen wurde an dem Röhrenwerk, durch welches das Oxyhydrogengas in die Hauptgebäude der Stadt geführt werden sollte, tüchtig weiter gearbeitet. Die Leitungen und Verzweigungen glitten in immer größerer Vollständigkeit unter dem Pflaster von Quiquendone dahin und nur die Brenner, deren Ausführung sehr kompliziert war und die man deshalb im Auslande bestellt hatte, fehlten noch. Der Doktor Ox war überall, und er wie sein Famulus Ygen verloren nicht einen Augenblick. Sie spornten die Arbeiter an, vollendeten die feinen Organe des Gasometers und speisten Tag und Nacht riesige Säulen, die unter der Einwirkung eines mächtigen elektrischen Stromes das Wasser zerlegten. Ja! Der Doktor fabrizierte bereits sein Gas, obgleich die Kanalisation noch nicht fertig war; das mag, wie wir gern zugestehen wollen, sehr sonderbar erscheinen. Binnen kurzem aber sollte alles fertig sein, und der Doktor beabsichtigte, dann die brillante Beleuchtung der Stadt zuerst im Theater zu erproben.

Quiquendone besaß nämlich ein Theater, in welchem so ziemlich alles gegeben wurde, mit Vorliebe aber Opern und besonders komische Opern. Hierbei muß jedoch bemerkt werden, daß die Komponisten nie ihr Werk wiedererkannt hätten, so sehr wichen Musik und Handlung von dem ursprünglichen Sinn ab.

Da in Quiquendone nichts schnell abgetan werden konnte, mußten sich auch die dramatischen Werke dem Temperament der ausführenden Künstler und Künstlerinnen fügen, und so war es, obgleich die Pforten des Kunsttempels um vier geöffnet und erst um zehn Uhr geschlossen wurden, bis jetzt noch nie gelungen, mehr als zwei Akte in diesen sechs Stunden zur Aufführung zu bringen. »Robert der Teufel«, »Die Hugenotten« oder »Wilhelm Teil« nahmen jedes gewöhnlich drei Abende für ihre Darstellung in Anspruch, so langsam spielten sie sich ab. Die Vivaces wurden in einem Tempo wie Adagios genommen, die Allegros beeilten sich kaum mehr, und die Vierundsechzigstel-Noten wurden so langsam gespielt wie etwa ganze Noten in anderen Ländern. Die schnellsten, im Geschmack der Quiquendonianer ausgeführten Läufe verstiegen sich bis zum Rhythmus des Kirchengesanges. Die Triller erschlafften und wurden abgezirkelt, um das Ohr der Dilettanten nicht zu verletzen.

Begreiflicherweise mussten die von auswärts kommenden Künstler sich dieser Methode anbequemen; da man sie indessen gut honorierte, wurde keine Klage laut, und sie folgten genau dem Bogen des Musikdirektors, der nie mehr als acht Taktschläge in der Minute ausführte.

Welche Beifallsrufe wurden aber auch den Schauspielern zuteil, wenn sie die Quiquendonianer in Entzücken versetzt hatten, ohne sie müde zu machen! Die Hände klatschten in ziemlich langen Zwischenpausen ineinander, die Zeitungen pflegten nach solchen Abenden von stürmischem Applaus und fanatischen Beifallsbezeigungen zu berichten. Es war nun Sonnabend, der gewöhnliche Opertag; aber heute sollte die neue Beleuchtung noch nicht erprobt werden, wie man glauben könnte. Die Röhren mündeten zwar schon in den Saal, aber heute warfen vorerst nur die Kerzen des Kronleuchters ihr mildes Licht auf die zahlreichen Zuschauer, die sich im Theater versammelt hatten.

Nachmittags um ein Uhr waren die Türen für das Publikum geöffnet worden, und um drei Uhr hatte sich der Saal schon halb gefüllt. Man interessierte sich für das Auftreten des berühmten Tenoristen Fioravanti, der durch sein Genie, sein ausgezeichnetes Spiel und seine herrliche, sympathische Stimme bei den Musikliebhabern der Stadt einen förmlichen Enthusiasmus hervorgerufen hatte.

Seit drei Wochen hatte Fioravanti sich ungeheure Erfolge in den »Hugenotten« errungen. Der erste Akt war nach dem Geschmack der Quiquendonianer im Zeitraum eines ganzen Abends aufgeführt worden, und zwar in der ersten Woche eines Monats. Der Operabend der zweiten Woche hatte dem Sänger durch seine endlosen, in die Länge gezogenen Andantes eine entschiedene Ovation eingetragen, und dieser Erfolg war nur noch gestiegen, als in der dritten Woche der dritte Akt des Meyerbeerschen Kunstwerks zur Darstellung gelangte. Heute aber sollte Fioravanti im vierten Akt auftreten. Um vier Uhr war der Saal mit Zuschauern gefüllt und Logen, Parterre und Orchester gedrängt voll. In den vorderen Reihen präsentierten sich der Herr Bürgermeister van Tricasse, Frau van Tricasse, Fräulein Suzel und die liebenswürdige Tatanémance in einer Haube mit apfelgrünen Schleifen; dann, nicht weit davon, erblickte man den Rat Niklausse nebst Familie, den liebeglühenden Frantz nicht zu vergessen. Auch die Familien des Arztes Custos und des Advokaten Schut und aller andern Honoratioren waren anwesend. Gewöhnlich verhielten sich die Quiquendonianer, bis der Vorhang aufging, außerordentlich schweigsam und ruhig. An diesem Abend aber hätte jeder Beobachter konstatieren können, daß schon, ehe der Vorhang aufgezogen war, eine ganz ungewöhnliche Lebhaftigkeit im Zuschauerraume herrschte; Leute, die sich sonst niemals rührten, drehten und wendeten sich hin und her, die Fächer der Damen bewegten sich mit abnormer Geschwindigkeit, und es schien eine lebensvollere Luft zu wehen, denn alle Anwesenden atmeten in tieferen Zügen.

In manchen Augen bemerkte man einen Glanz, der fast so intensiv war wie das Licht des Kronleuchters, der über dem Saale hing und dessen Kerzen heute ungewöhnlich hell strahlten, obgleich ihre Zahl nicht vermehrt worden war. Ach, wären heute schon die neuen Apparate des Herrn Doktor Ox in Tätigkeit gewesen! Aber dieser ersehnte Zeitpunkt war noch nicht herangekommen.

Endlich ist das Orchester vollzählig auf seinem Posten. Das Signal erschallt, und der vierte Akt beginnt. Das Allegro appassionato des Zwischenaktes wird, wie gewöhnlich, mit so majestätischer Langsamkeit abgespielt, daß sie den berühmten Meyerbeer außer sich gebracht hätte, die unsere Quiquendonianer aber in ihrem vollen Wert zu würdigen wußten. Bald aber fühlt der Musikdirektor, daß er nicht wie gewöhnlich das Orchester beherrscht und daß er die sonst so gehorsamen, ruhigen Spieler nur mit Mühe zurückhalten kann. Die Blasinstrumente zeigen ein lebhaftes Streben, die Streichinstrumente zu überflügeln, und müssen mit fester Hand zurückgehalten werden, da sonst, vom Gesichtspunkt der Harmonie aus betrachtet, eine bedauerliche Wirkung erzielt werden würde.

Unterdessen hat Valentine ihr Rezitativ begonnen:

»Nun bin ich ganz allein, allein in meinem Schmerz ...«

aber auch sie eilt, und der Dirigent wie auch alle Musiker folgen ihr vielleicht unbewußt – in ihrem Kantabile, das in kühnem Takt geschlagen werden mußte, wie eine Passage im Zwölf-Achtel-Takt. Der Dirigent hat es längst aufgegeben, die Spielenden zurückzuhalten, und unbegreiflicherweise versucht auch das Publikum keine Einsprache, sondern fühlt sich hingerissen und nimmt teil an der Bewegung, die dem inneren Drange der Seele entspricht.

»Vom Krieg, der uns bedroht und alles bald verheeret.
Wollt Ihr auch, so wie ich, nun Euer Land befreien?«

Das Versprechen, der Schwur wird geleistet. Kaum hat Revers Zeit zu seiner Beteuerung, daß »unter seinen Ahnen er Soldaten, und nicht einen Meuchelmörder zählt,« so wird er arretiert. Die Viertelsmeister und Schöffen eilen herbei und geloben in raschem Tempo, »alle auf einmal zu treffen«. Saint-Bris trägt feurig, in wirklichem Zwei-Viertel-Takt das Rezitativ vor, das die Katholiken zur Rache ruft. Die drei Mönche, mit Körben und Schürzen, kommen durch den Hintergrund von Revers Zimmer hereingestürzt, ohne nur im geringsten die Bühnenanweisung zu beachten, der zufolge sie langsam vorschreiten sollen.

Schon haben die Umstehenden Schwert und Dolch gezogen, und die Waffen sind im Fluge von den Mönchen geweiht worden. Sopran, Tenor und Baß nehmen wütend das Allegro furioso in Angriff, machen aus einem dramatischen Sechs-Achtel-Takt eine Sechs-Achtel-Quadrille und heulen, indem sie die Bühne verlassen:

»Nur Ruhe führt zum Ziel;
Damit uns nichts verrate,
Entfernen wir uns still!
Nehmt in acht
Mitternacht!«

In diesem Augenblick erhebt sich das Publikum; in den Logen, im Parterre, auf den Galerien gibt sich lebhafte Bewegung kund; es scheint fast, als wollten alle Zuschauer, der Bürgermeister van Tricasse voran, auf die Bühne stürzen, um sich mit den Verschworenen zu verbinden und die Hugenotten, deren religiöse Ansichten sie übrigens teilen, zu vernichten. Bravorufe ertönen, die Schauspieler werden hervorgerufen, ein wahrer Beifallssturm bricht los!

Das große Duett ist herangekommen und wird Allegro vivace durchgeführt. Raoul nimmt sich nicht die Zeit, auf Valentinens Fragen zu warten, und Valentine wiederum wartet nicht auf die Antworten Raouls. Die köstliche Stelle:

»Es droht den Brüdern das Verderben;
O, laß mich, laß mich fort von hier!«

wird zu einer raschen Galoppade, wie Offenbach sie liebt, wenn er seine Verschwörer tanzen läßt; das Andante amoroso:

»Du liebest mich! Du liebest mich!
O welch ein Glück
Dies Himmelswort aus Deinem Munde!«

kann nur noch ein Vivace furioso genannt werden, und das Violoncell des Orchesters gibt sich keine Mühe mehr, der Stimme des Sängers in ihren Biegungen zu folgen, wie es in der Partitur angegeben ist. Raoul ruft zwar:

»Du sprichst es und ich hör' es gar zu gern.
Dies Geständnis Deiner Liebe,«

aber Valentine kann nicht weiter sprechen; man fühlt, daß Raoul von einem ungewohnten Feuer verzehrt wird. Seine hohen Töne h und c haben einen erschrecklichen Klang; er arbeitet sich ab, gestikuliert, steht förmlich in Flammen. Die Sturmglocke ertönt, Valentine sinkt ohnmächtig zusammen, und Raoul stürzt zum Fenster hinaus!

Es war hohe Zeit für den Schluß der Vorstellung; das Orchester hätte vor unbegreiflicher Trunkenheit nicht weiter spielen können; der Stab des Dirigenten war zu einem Stück Holz geworden, mit dem er auf dem Souffleurkasten herumhämmerte; die Geigensaiten sind gesprungen, die Griffe verdreht, die Pauke geplatzt unter der wütenden Bearbeitung des Paukenschlägers, und der Kontrabassist thront oben auf seinem wohlklingenden Gebäude. Der erste Klarinettist hat das Mundstück seines Instruments hinuntergeschluckt, und der zweite Hoboist zerkaut seine Rohrzüngelchen zwischen den Zähnen. Die Kulisse an der Posaune ist verbogen, und der unglückliche Hornist endlich kann seine Hand nicht mehr zurückziehen; er hat sie im Eifer des Spiels zu tief in die Stürze seines Horns hineingesenkt.

Und das Publikum? Das Publikum keucht, gestikuliert, heult! Alle Gesichter erscheinen in einem sonderbaren, roten Lichte, wie wenn die Körper innerlich von Brand verzehrt würden. Man stößt einander, um hinauszukommen; die Männer vergessen ihre Hüte, die Frauen ihre Mäntel; man drängt sich in den Gängen, streitet sich und schlägt aufeinander los. Keine Autorität gilt mehr! Der Bürgermeister wird nicht mehr beachtet; nur eine wahrhaft höllische Überaufregung allenthalben ...

Einige Augenblicke später, als das Publikum sich wieder auf der Straße befindet, gewinnt aber ein jeder die gewohnte Ruhe wieder und kehrt friedlich in sein Haus zurück, nur eine verworrene Erinnerung an die Vorgänge im Schauspielhause ist zurückgeblieben.

Der vierte Akt der »Hugenotten«, der ehemals sechs ausgeschlagene Stunden zu seiner Aufführung in Anspruch nahm, war heute bereits zwölf Minuten vor fünf Uhr zu Ende.

Er hatte genau achtzehn Minuten gedauert.

*

Am folgenden Tage hatte jeder eine gewisse traumhafte Rückerinnerung an die Ereignisse des vorhergehenden Abends. Dem einen fehlte sein Hut, den er in dem allgemeinen Wirrwarr verloren hatte, dem anderen ein Rockzipfel, der ihm in dem Gedränge abgerissen war; diese vermißte einen feinen Schuh, jene ihre Sonntagsmantille, und durch alle diese sichtbaren Erinnerungszeichen kam den ehrlichen Bürgern nach und nach das Gedächtnis zurück, und eine Art Scham über ihre nicht näher zu qualifizierende Aufwallung ergriff sie. Sie gedachten des gestrigen Abends etwa wie einer Orgie, in der sie die unbewußten Helden gewesen waren; man sprach nicht weiter davon und zog es sogar vor, nicht mehr daran zu denken.

.

Am meisten verdutzt und konsterniert war aber der Bürgermeister van Tricasse; er konnte am andern Morgen, als er erwachte, seine Perücke nicht finden. Man hatte überall gesucht, aber ohne den mindesten Erfolg. Die Perücke mußte auf dem Schlachtfelde geblieben sein. Der würdige Bürgermeister verspürte nicht die geringste Neigung aufzustehen, und sein Hirn arbeitete an diesem einen Vormittag mehr als vielleicht in den verflossenen vierzig Jahren zusammengenommen. Der sehr ehrenwerte Herr van Tricasse durchlebte mit höchster Anstrengung seines Gedächtnisses alle Vorgänge während der gestrigen wunderbaren Vorstellung noch einmal; er brachte sie in Verbindung mit den bedauerlichen Tatsachen, die jüngst bei der Soiree des Doktor Ox vorgekommen waren, und suchte nach den Gründen der eigentümlichen Erregbarkeit, die sich nun schon zu zweien Malen bei seinen achtungswertesten Beamten ausgeprägt hatte.

»Was geht denn vor?« fragte er sich; »welcher Schwindel hat plötzlich meine friedliche Stadt erfaßt? Sind wir alle zu Narren geworden, und soll unsere Stadt ein einziges, großes Irrenhaus sein? Wenn ich die Sache recht überdenke, wäre das gestern der geeignete Platz für uns gewesen; Notabeln, Räte, Richter, Advokaten, Arzte, Akademiker – alle sind gestern einer ungeheuren Torheit zum Opfer gefallen. Lag es an der höllischen Musik? Es ist unerklärlich! Und doch hatte ich nichts Außergewöhnliches gegessen und nichts getrunken, was solche Aufregung hätte hervorrufen können.«

Die vom Magistrat beschlossene Untersuchung blieb ohne jeden Erfolg. Obgleich die Tatsachen klar zutage lagen, entgingen doch die Ursachen dem Scharfsinn der Behörden. Übrigens war bereits wieder vollständige Ruhe bei den Geistern eingekehrt, und diese ließ schnell die Ausschreitungen und Exzesse vergessen. Trotzdem merkte man doch, daß der Hauptcharakterzug und das Temperament der Einwohner sich nach und nach veränderten. Man hätte wirklich dem Arzte Dominique recht geben können, der da behauptete, daß den Quiquendonianern »Nerven wüchsen«. Die unbestreitbare und unbestrittene Veränderung ging aber immer nur unter gewissen Bedingungen vor sich. Wenn die Quiquendonianer durch die Straßen ihrer Stadt schlenkerten oder in frischer Luft auf freien Plätzen und am Vaar entlang lustwandelten, waren sie dieselben guten, kalten, pedantischen Leute wie ehemals, und ebenso auch, wenn sie sich auf ihre Wohnungen beschränkten, teils mit der Hand, teils mit dem Kopfe arbeiteten und nebenher weder etwas taten noch dachten. Aber ein absolut unerklärliches Phänomen, das auch die geistreichsten Physiologen nicht aufzuklären vermocht hätten, zeigte sich, sowie sie ins öffentliche Leben traten; sie erlitten dann eine sichtliche Metamorphose und gerieten bei verschiedenartigen Ansichten über gemeinnützige Dinge hart aneinander.

Eine Versammlung in öffentlichen Gebäuden, wie in der Börse, dem Rathause, der Aula der Akademie oder in den Sitzungssälen des Rates, verlief nicht mehr so ruhig und gleichmäßig wie sonst, denn alsbald bemächtigte sich eine solche Lebhaftigkeit und Überreiztheit der Anwesenden, daß an die ruhige Beratung einer Sache nicht zu denken war. Nach einer Stunde pflegten dann die Äußerungen etwas scharf zu werden, und nach zwei Stunden artete die Diskussion in Streit und Zank aus; es kam zu Streitigkeiten und die Köpfe erhitzten sich. Ja, sogar in der Kirche, während der Predigt konnten die Gläubigen den Geistlichen van Stabel nicht mehr kaltblütig anhören, dieser arbeitete sich in fast unglaublicher Weise auf der Kanzel ab und ermahnte mit größerer Strenge als je zuvor.

Das Übel ging von der Börse, der Kirche, dem Theater, dem Gemeindehause, der Akademie und der Halle in die Häuser der Privatleute über, und zwar in weniger als vierzehn Tagen nach der beschriebenen, unerhörten Vorstellung der »Hugenotten«.

Die ersten Symptome der Epidemie zeigten sich im Hause des Bankiers Collaert. Dieser Herr, ein außerordentlich reicher Bürger der Stadt, gab den Notabilitäten von Quiquendone einen Ball, oder doch eine Soireé dansante. Niemals, so lange man denken konnte, war bei diesen mäßigen, feinsittigen Vergnügungen der jungen Welt irgendein Ärgernis oder ein unangenehmer Auftritt vorgefallen; warum mußte sich zum erstenmal bei dem Empfangsabend des Bankiers Collaert der Sirup in Wein, schäumenden Champagner oder stürmenden Punsch verwandeln? Warum ergriff, etwa um die Mitte des Festes, eine unerklärliche Trunkenheit alle Geladenen? Warum schlug plötzlich das Menuett in eine Saltarella um, beeilte das Orchester den Takt, glänzten, wie im Theater, die Kerzen in ungewöhnlichem Glanz? Wie kam es, daß ein wunderbarer, elektrischer Strom die Salons des Bankiers durchflutete, daß die Tanzenden sich einander näherten, die Hände einander energischer drückten und einzelne Kavaliere sich sogar durch gewagte Drehungen und wunderliche Sprünge auszeichneten, und das während der sonst so majestätischen, anstandsvollen, feierlichen Pastorella!

Welcher Ödipus hätte all diese Fragen beantworten können? Der Kommissar Passauf, der auch an diesem Abend zugegen war, sah den Sturm nahen, konnte ihm aber nicht vorbeugen oder ihm entfliehen. Er merkte, wie auch er sich einer gewissen Trunkenheit, nicht erwehren konnte, wie all seine physiologischen und Leidenschaftsfähigkeiten wuchsen, und man bemerkte zu wiederholten Malen, wie er sich an die Schüsseln süßen Backwerks machte und sie mit so fabelhaftem Appetit plünderte, als hätte er soeben eine lange Fastenzeit überstanden. Und als nun das Orchester den Walzer aus dem »Freischütz« intonierte und dieser echt deutsche, langsame Tanz erklingen sollte, hörte man keinen Walzer mehr, sondern einen wahnsinnigen Wirbel, eine schwindelnde Rotation, die eines Vortänzers wie Mephistopheles mit glühendem Feuerbrande würdig gewesen wäre. Dann riß ein wahrer Höllengalopp, dem niemand Einhalt tun konnte, wohl eine Stunde lang Väter, Mütter, die jungen Leute, kurz, Individuen jeden Alters, jeden Gewichts und jeden Geschlechts mit sich fort durch alle Räume der kostbar eingerichteten Wohnung, von den Salons durch die Vorzimmer, über die Treppen zum Keller hinunter und zum Boden hinauf. Unter diesen tollen Tänzern und Tänzerinnen befanden sich sowohl der dicke Bankier Collaert mit seiner Gemahlin wie die Räte, Magistratspersonen und Richter; Niklausse und Frau van Tricasse, der Bürgermeister und Kommissar Passauf drehten sich in dem wilden Wirbel herum und wußten später nie, wer in diesem bacchantischen Reigen ihr Partner gewesen war.

*

»Nun, Ygen?« fragte Doktor Ox seinen Famulus.

»Die Röhrenlegung ist fertig und alles bereit, Meister.«

»Endlich! Jetzt wollen wir in großem Maßstabe operieren und eine Massenwirkung erzielen!«

*

In den folgenden Monaten dehnte sich das Übel immer weiter aus; es verbreitete sich von den Privathäusern auf die Straßen und Gassen der Stadt, und Quiquendone war nicht mehr wiederzuerkennen.

Das bisher beobachtete Phänomen wurde durch ein noch weit außerordentlicheres in den Schatten gestellt, denn nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch die Pflanzen mußten sich vor ihm beugen. Nicht nur modifizieren sich Charakter, Temperament und Ideen der Quiquendonianer selbst, sondern auch bei ihren Hunden, Katzen, Rindern, Pferden, Eseln und Ziegen war der Einfluß der Epidemie zu bemerken, als wäre ihr Lebenskreis ein anderer geworden. Sogar die Pflanzen »emanzipierten« sich, wenn man uns gütigst diesen Ausdruck gestatten will. In den Obst- und Gemüsegärten zeigten sich die merkwürdigsten Symptome; die Schlingpflanzen und Klettergewächse rankten sich mit nie dagewesener Kühnheit um Zäune und Spaliere; die Ziersträucher buschten sich mit fast tropischer Kraft, und Stämmchen wurden zu Bäumen. Das kaum gesäete Korn hob sein kleines grünes Haupt empor und wuchs in derselben Zeit, in der es ehemals einige Linien erreicht hatte, ebenso viele Zoll. Man zog zwei Fuß lange Spargel, erntete Artischocken so groß wie Melonen, und die Melonen wiederum erreichten den Umfang von Kürbissen. Der Kohl stand in förmlichen Gebüschen auf den Gemüsefeldern, und die Champignons sahen aus wie Regenschirme.

Die Früchte blieben an Wachstum nicht hinter den Gemüsen zurück; um eine Erdbeere zu essen, mußte man sich zu zweien daran machen, und wollte man eine Birne vertilgen, so waren vier Personen dazu notwendig. Ähnliches beobachtete man an den Blumen; die großen Veilchen verbreiteten einen so kräftigen Wohlgeruch wie nie zuvor; die ungeheuren Rosen blühten in lebhafteren Farben als jemals, die Fliedersträuche wurden zu undurchdringlichem Buschholz, und Geranien, Maßliebchen, Thalias, Kamelien und Rhododendrons wuchsen über die Gartenwege hinweg und erstickten einander! Das Gartenmesser war längst als ein völlig unzureichendes Instrument erkannt worden. Aber ach! So schnell diese Pflanzen, Früchte sowohl wie Blumen, wuchsen und kolossale Dimensionen annahmen, so köstlich intensiv ihr Duft und ihre Farben waren und Auge und Geruchssinn berauschten, so schnell starben sie auch wieder hin und senkten nach kurzen Stunden verwelkt, erschöpft und todesmatt ihre Häupter. Und bald verfielen auch die Haustiere, vom Hofhund bis zum Spanferkel, vom Stieglitz im Käfig bis zum Truthahn, demselben Schicksal.

Wir müssen hier übrigens die Bemerkung einschalten, daß diese Tiere in gewöhnlichen Zeiten ebenso phlegmatisch waren wie ihre Herren. Hunde und Katzen vegetierten in Quiquendone weit mehr, als daß sie lebten. Nie bemerkte man an ihnen eine Regung der Freude oder des Zorns; ihre Schwänze blieben unbeweglich, als wären sie von Bronze, und seit undenklichen Zeiten hatte niemand von einem Biß oder einer Kratzwunde gehört. Tolle Hunde hielt man für Phantasiegebilde und erwähnte ihrer neben Greifen und anderen Tieren aus der Menagerie der Apokalypse.

Aber welche Veränderung war während der wenigen Monate in der Tierwelt Quiquendones vorgegangen! Hunde und Katzen begannen ihre Zähne und Krallen zu zeigen, so daß alsbald mehrere Exekutionen vorgenommen werden mußten. Zum erstenmal nahm ein Pferd das Gebiß zwischen die Zähne und ging wirklich und wahrhaftig in den Straßen durch; ein Ochse stürzte mit gesenkten Hörnern auf einen seiner Zunftgenossen los, und ein Esel kehrte auf dem Saint-Ernulph-Platze die Beine gen Himmel und ließ ein Geschrei hören, das nichts »Tierisches« mehr hatte. Ja, es geschah sogar, daß ein Hammel, ein Hammel aus Quiquendone, sich tapfer gegen das Messer des Schlächters wehrte, um seine Koteletten zu verteidigen! Der Bürgermeister van Tricasse war genötigt, Polizeiedikte zu erlassen, um den Unfug zu verhindern, der von wild gewordenen Haustieren in der Stadt angerichtet wurde. Aber ach! wenn die Tiere toll und wild waren, so machten es die Menschen nicht viel besser. Kein Alter blieb von der allgemeinen Raserei verschont.

Die Kindererziehung war ehedem in Quiquendone so leicht gewesen; jetzt zum erstenmal mußte der Oberrichter Honoré Syntax die Rute bei seinen Sprößlingen anwenden.

Im Gymnasium fand ein förmlicher Aufruhr statt; die Wörterbücher zeichneten bedauerliche Flugbahnen durch die Klassen, und die Schüler konnten es nicht mehr in den Schulräumen aushalten. Aber auch den Lehrern mußte man große Überreiztheit und Aufregung vorwerfen, denn sie erdrückten die Knaben mit übermäßigen Strafarbeiten.

Noch ein anderes Phänomen! Alle bis jetzt so mäßigen Quiquendonianer, sie, die Schlagsahne zu ihrem Hauptnahrungsmittel gemacht hatten, begingen wahre Exzesse im Essen und Trinken. Ihre gewöhnliche Diät reichte nicht mehr aus; jeder Magen schien sich in einen Abgrund verwandelt zu haben, der wohl oder übel mit den wirksamsten Mitteln gefüllt werden mußte. Der Verbrauch von Nahrungsstoffen war der dreifache, und statt zweier Mahlzeiten pflegte man jetzt sechs zu halten; natürlich konnten zahlreiche Verdauungsbeschwerden nicht ausbleiben. Auf den ehemals so öden Gassen hörte man täglich Streit und Zank, und die Volksmenge wogte lebhaft auf ihnen hin und her, denn niemand mochte mehr ruhig in seiner Behausung bleiben.

Eine neue Polizei mußte geschaffen werden, um die Störer der öffentlichen Ordnung im Zaume zu halten.

Endlich fand sogar – o Abgrund alles Abscheulichen! – ein Duell statt, und zwar ein Pistolenduell mit Reiterpistolen auf fünfundsiebzig Schritt Distanz! Zwischen wem denn aber? Unsere Leser würden es schwerlich erraten: zwischen Herrn Frantz Niklausse, dem friedlichen Angler, und Simon Collaert, dem Sohn des reichen Bankiers. Und die Ursache des Duells – war des Bürgermeisters eigene Tochter, in die Simon sich sterblich verliebt hatte und die er den Ansprüchen seines kühnen Nebenbuhlers nicht ohne Kampf überlassen wollte! – – –

Der Bürgermeister – dieser würdige Vater der Stadt, den wir als einen sanften, durchaus maßvollen Mann kennen lernten, der ganz außerstande war, irgendeine Entscheidung zu treffen – derselbe Bürgermeister hörte nicht auf zu toben und zu wüten. Das Haus hallte wider von dem Schall seiner Stimme; er erließ täglich mindestens zwanzig Verordnungen und erteilte seinen Beamten eine Nase über die andere.

Ach! welche Veränderung! Wo war die Ruhe der ehemals so echt flämischen Bürgermeisterwohnung geblieben? Welche Haushaltungsszenen spielten sich jetzt täglich und stündlich in ihren Mauern ab? Frau van Tricasse war mürrisch und launenhaft geworden und schalt mit ihrem Gatten um die Wette. Es gelang ihm nur noch, ihre Stimme zu übertönen, weil er lauter schreien konnte als sie; seine Frau zum Schweigen zu bringen, wäre aber auch für ihn ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Frau van Tricasse ärgerte sich über alles und jedes. Nichts wollte ihr gelingen; der Dienst wurde schlecht besorgt, niemand kam zur rechten Zeit, sie klagte sowohl Lotchè als auch ihre Schwägerin Tatanémance an, und diese ließ es an scharfen Erwiderungen nicht fehlen. Natürlich hatte Herr van Tricasse nichts Besseres zu tun, als seiner Magd Lotchè die Stange zu halten, wie man das ja überall, selbst in den besten Haushaltungen, finden kann. Die Folge davon: dauernde Erbitterung der Frau Bürgermeisterin, Schimpfen, Zanken, Schelten – kurz unaufhörliche Szenen des Haders und der Zwietracht.

»Was ist aus uns geworden?« rief der unglückliche Bürgermeister eines Tages aus. »Welcher Geist ist in uns und unsere Stadt gefahren? Sind wir denn vom Teufel besessen? Ach! Frau van Tricasse, Frau van Tricasse, du wirst mich noch vor der Zeit unter die Erde bringen und so gegen die altehrwürdigen Traditionen unserer Familie verstoßen!«

Doch alle diese Veränderungen waren fast bedeutungslos gegen die unerhörte Tatsache, daß das seit Jahrhunderten schlummernde Temperament der Quiquendonianer sich bis zu einem Krieg erhitzte.

Wirklich hatte die Stadt seit acht- bis neunhundert Jahren einen ganz vorzüglichen casus belli in ihrem Archive liegen, aber bis jetzt war er, gleich einer kostbaren Reliquie, aufbewahrt worden, und es hatte den Anschein, als sollte er unbenutzt liegen bleiben. Der besagte casus belli war bei folgender Gelegenheit entstanden:

Es ist allgemein unbekannt, daß Quiquendone eine kleine Nachbarstadt mit Namen Virgamen hatte und das Territorium der beiden Gemeinden dicht aneinander grenzte. Nun war es geschehen, daß zur Zeit des Grafen Balduin, kurz vor dem Kreuzzuge im Jahre 1185, eine Kuh, und zwar eine Gemeindekuh, was wohl zu beachten ist, aus Virgamen herübergekommen war und auf dem Gebiet von Quiquendone gegrast hatte. Die unglückliche Wiederkäuerin hatte wohl kaum »Von der Wiese einen Raum dreimal so breit wie ihre Zunge abgeschoren,« aber die Übertretung, das Vergehen, die Untat, oder wie man es nennen will, war begangen worden und durch ein zu jener Zeit aufgenommenes Protokoll konstatiert; denn schon damals fingen die Behörden an, sich der Schreibekunst zu bedienen.

Im Klub der Monstrelet-Straße warf nun der hitzige Advokat Schut seinen Zuhörern plötzlich diese Frage ins Gesicht und entflammte ihren Zorn, indem er sich aufs freigebigste all der Metaphern und Floskeln bediente, die bei solchen Gelegenheiten an der Tagesordnung zu sein pflegen. Er erinnerte an das Deliktum, erinnerte an das gegen die Gemeinde Quiquendone begangene Unrecht und machte darauf aufmerksam, daß man bei einer »auf ihre Rechte eifersüchtigen Nation« keine Verjährung statuieren dürfe. Er wies auf die schreiende Beleidigung, die noch immer blutende Wunde hin, sprach von einem gewissen eigentümlichen Kopfschütteln der Einwohner von Virgamen, das schon genugsam zeige, wie sehr sie die Quiquendonianer verachteten; er warf seinen Landsleuten vor, daß sie bereits jahrhundertelang diese Beschimpfung ertragen hätten, und beschwor die Kinder der altehrwürdigen Stadt, keine andere Pflicht mehr zu haben, als eine glänzende Genugtuung für die erlittene Schmach! Endlich appellierte er an »alle lebendigen Streitkräfte« der Nation. Der Enthusiasmus, mit welchem diese für quiquendonianische Ohren so ungewohnten Worte ausgenommen wurden, war unbeschreiblich; alle Zuhörer hatten sich von ihren Sitzen erhoben und verlangten mit heftigen Gestikulationen und lautem Geschrei » Krieg!« Nie hatte Advokat Schut bis jetzt einen solchen Erfolg gehabt; dieser war in der Tat brillant!

Der Bürgermeister, der Rat und alle Notabeln, die dieser denkwürdigen Szene beiwohnten, wären außerstande gewesen, dem Drängen des Volkes Einhalt zu tun, auch wenn sie das wirklich gewollt hätten. Dies letztere war jedoch durchaus nicht der Fall, und sie schrien, wenn möglich, noch lauter wie alle anderen:

» Nach der Grenze! Nach der Grenze

Die Grenze war aber nur drei Kilometer von Quiquendone entfernt, und so konnten die Virgamener wirklich in Gefahr kommen, überfallen zu werden, noch ehe sie sich irgendwie darauf vorbereitet hatten. –

Man verlangte stürmisch nach Abstimmung, und da diese durch Akklamation erzielt werden sollte, verdoppelte sich das Geschrei:

»Nach Virgamen! Nach Virgamen!«

Der Bürgermeister verpflichtete sich nun, die Armee zusammenzubringen, und verhieß demjenigen seiner Feldherren, der als Sieger heimkehren würde, die Ehren eines Triumphs, wie er zur Zeit der Römer üblich war. Der Apotheker Josse Liefrink suchte sich noch durch eine Bemerkung Geltung zu verschaffen. Er hob hervor, daß den siegreichen römischen Feldherren nur dann ein Triumph bewilligt worden wäre, wenn sie dem Feinde fünftausend Mann getötet hatten ...

»Sehr gut! Sehr gut! Einverstanden!« schrien die Anwesenden wie von Sinnen.

»Da sich aber die Bevölkerung der Gemeinde Virgamen nur auf 3575 Seelen beläuft,« nahm der Apotheker wieder das Wort, »so würde das seine Schwierigkeiten haben, wir müßten denn ein und dieselbe Person mehrmals töten ...«

Aber der unglückliche Logiker konnte nicht ausreden, denn man hatte ihn bereits von mehreren Seiten gepackt, und er wurde halb zerstoßen und zerquetscht zur Tür hinausgeworfen.

»Bürger,« hub jetzt der Krämer und Detaillist Pulmacher an, »mag der feigherzige Pharmazeut sagen, was ihm beliebt, ich aber für meine Person mache mich anheischig, fünftausend Vigamener zu töten, wenn ihr meine Dienste annehmen wollt.«

»Fünftausendfünfhundert!« schrie ein noch resoluterer Patriot.

»Ich wollte sagen: sechstausendsechshundert!« verbesserte sich der Krämer.

»Siebentausend!« rief der Konditor Johann Orbideck aus der Hemlingstraße, der auf bestem Wege war, sein Glück in Schlagsahne zu machen.

»Zugesprochen!« schrie der Bürgermeister van Tricasse, als er bemerkte, daß ein Moment des Schweigens eintrat und niemand mehr zu bieten wagte. Und der Konditor Johann Orbideck war hiermit zum Oberfeldherrn der Truppen von Quiquendone ernannt.

*

»Nun, Meister?« begann andern Morgens Famulus Ygen, als er in den Trog einen Eimer Schwefelsäure nach dem andern goß.

»Nun, habe ich nicht recht gehabt?« erwiderte Doktor Ox, »die physische Entwicklung, die Moralität, die Würde, die Talente, der politische Sinn einer Nation hängen einzig und allein von den Molekülen ab ...«

»Das wohl, aber ...«

»Aber?«

»Meinen Sie nicht auch, daß wir jetzt die Sache weit genug getrieben haben, und daß den armen Teufeln jetzt Ruhe zu gönnen wäre?«

»Nein, nein!« rief der Doktor, »o nein, gewiß nicht! Ich werde meinen Plan bis zum Ziel verfolgen.«

»Wie Sie wollen, Meister, aber der Versuch ist doch jetzt vollständig durchgeführt, und ich denke wirklich, es wäre Zeit ...«

»Wozu?«

»Nun, den Hahn zu schließen.«

»Was ficht Sie an?« rief Doktor Ox. »Noch einmal eine solche Bemerkung, und ich erwürge Sie!«

*

Man hatte verabredet, daß der Bürgermeister und Rat Niklausse – als die beiden Hauptnotabeln der Stadt – nach dem Rathause gehen und von dem sehr hohen Turm des Gebäudes die umliegende Landschaft einer genauen Okularinspektion unterwerfen sollten, um hiernach ihre strategischen Anordnungen für den Marsch der Truppen usw. treffen zu können. Obgleich beide Herren in bezug auf ihren Gesprächsgegenstand vollkommen einer Meinung waren, hörten sie unterwegs nicht auf, sich zu zanken. Ihre Stimmen hallten in den Straßen wider, aber da sämtliche Vorübergehende ganz ebenso schrien wie sie, hatte das nichts besonders Auffallendes, und niemand achtete darauf. Wäre zu jetzigen Zeiten jemand ruhig seines Weges gegangen, man hätte ihn als ein Ungeheuer angesehen.

Bürgermeister und Rat waren im Paroxismus ihrer Wut bis an die Vorhalle zu den Sturmglocken gekommen; der Zorn färbte ihre Gesichter nicht mehr rot, sondern blaß; denn obgleich sie bei der Erörterung ganz dieselbe Ansicht gehabt hatten, war die Aufregung so groß gewesen, daß sie ihnen in die Eingeweide gefahren war und ihnen Krämpfe verursacht hatte. An der untersten Stufe der engen Turmtreppe fand eine förmliche Explosion statt. Wer sollte vorangehen? Wer zuerst die Stufen der Wendeltreppe erklimmen? Wollen wir der Wahrheit treu bleiben, so müssen wir berichten, daß die beiden Notabeln sich hin- und herpufften wie die Gassenjungen, und daß schließlich Rat Niklausse, der, wie es schien, alle Rücksicht gegen seinen Vorgesetzten, den ersten Beamten der Stadt, vergessen hatte, Herrn van Tricasse mit Gewalt beiseite stieß und das dunkle Schneckengewinde hinaufkletterte. Man mußten zuerst auf allen Vieren kriechen, und die beiden Herren warfen sich während dieser gemeinsamen Promenade im Finstern so unzweideutige Bezeichnungen an den Kopf, daß man wirklich befürchten mußte, es würde oben, auf der dreihundertsiebenundfünfzig Fuß hohen Plattform des Turmes, zu einer entsetzlichen Szene kommen.

Aber die beiden Freunde liefen sich bald außer Atem, und als sie auf der achtzigsten Stufe etwa angekommen waren, stiegen sie nur noch schwer und langsam empor und schnappten laut nach Luft. Dann aber – war es eine Folge ihrer Atemnot oder hatte sich ihr Zorn gelegt? – hörte man nichts mehr von Schelten und Lärmen. Sowohl Herr van Tricasse wie Rat Niklausse verstummten allmählich, und es schien, als vermindere sich ihre Exaltation, je höher sie sich über die Stadt erhoben. Es war, als ob sich eine sanft beschwichtigende Ruhe über ihren Geist legte; die Aufregung ihres Gehirns schwand nach und nach, wie eine Kaffeekanne aufhört zu sieden, wenn man sie von der heißen Platte entfernt. Wie kam das? Auf diese Frage können wir keine Antwort geben, so viel aber steht fest: als die beiden Gegner an einem Treppenabsatz, zweihundertsechsundsechzig Fuß über dem Niveau der Stadt, ankamen, setzten sie sich nieder und schauten sich ruhig, ja wirklich ruhig und ohne allen Zorn an. Nach wenigen Augenblicken der Ruhe nahmen die beiden Notabeln ihre Kletterpartie wieder auf, nicht ohne ab und zu einen neugierigen Blick auf die Schießscharten in der Mauer des Turmes zu werfen. Der Bürgermeister hatte sich an die Spitze der Karawane gestellt, und der Rat machte auch nicht die geringste Bemerkung darüber. Ja, als man ungefähr an der dreihundertundvierten Stufe angelangt und der Bürgermeister vollständig kreuzlahm war, unterstützte ihn Niklausse gefällig im Rücken, und der Bürgermeister ließ es ruhig geschehen. Als er oben auf der Plattform ankam, sagte er mit dem alten, ruhigen, friedlichen und huldvollen Ton:

»Ich danke Ihnen, Niklausse, ich werde Ihnen diesen Liebesdienst nicht vergessen.« Noch am Fuße des Turmes zwei wilde Tiere, bereit, sich zu zerreißen, kamen sie als die besten Freunde oben auf der Plattform an. Das Wetter war prächtig; man befand sich im Monat Mai, und die Sonne hatte alle Dünste aufgesogen. Welch klare, reine Luft! Das Auge konnte bis auf weite Entfernung hinaus die kleinsten Gegenstände erkennen. Dort tauchten die weißen Mauern von Virgamen, seine roten Dächer und die an einzelnen Stellen durchbrochen gebauten Glockentürmchen auf; so friedlich lag die Stadt da, und war doch schon jetzt allen Schrecken der Kriegsfackel und der Plünderung geweiht!

Plötzlich hub der Bürgermeister mit seiner ruhigen Stimme an:

»Aber, Freund Niklausse, was wollten wir eigentlich hier oben auf dem Turme machen?«

»Ich glaube gar,« fügte der Rat hinzu, »wir lassen uns von unseren Träumereien hinreißen ...«

»Weshalb, in aller Welt, sind wir hier heraufgegangen?« fragte Herr van Tricasse noch einmal.

»Doch wohl, um diese reine Luft einzuatmen, die durch menschliche Schwächen nicht verpestet wird,« gab Niklausse zur Antwort.

»So wollen wir jetzt wieder hinabsteigen, Freund Niklausse.«

»Ja, lassen Sie uns hinabsteigen, Freund Tricasse.«

Die beiden Notabeln warfen noch einen Blick auf das wundervolle Landschaftsbild, das sich vor ihren Augen entrollte, und dann machten sich beide, der Bürgermeister voran, langsamen Schrittes wieder auf den Rückweg. Rat Niklausse ging einige Stufen hinterher. Jetzt waren sie an dem Treppenabsatz angekommen, auf dem sie sich beim Hinaufsteigen ausgeruht hatten, und schon begann von neuem ein Rot der Erregung ihre Wangen zu färben. Sie blieben einen Augenblick stehen und setzten dann mit gestärkten Kräften ihren Weg fort.

Nach einer Minute wandte der Bürgermeister den Kopf und bat, daß Niklausse seine Schritte mäßigen möchte, da er ihn »geniere«, und als beide ungefähr zwanzig Stufen weiter gekommen waren, befahl er ihm ausdrücklich, stehen zu bleiben, damit er einen Vorsprung gewinnen könne. Plötzlich war wieder die alte Erregung da, und von den Ehrentiteln, die jetzt zwischen den beiden Herren hin und wieder flogen, nenne ich »Tölpel« und »ungehobelter Mensch« nur als die harmlosesten.

»Wir werden ja sehen. Sie größter aller Dummköpfe, was für eine Rolle Sie in unserem Kriege spielen und in welcher Reihe Sie marschieren werden!« rief der Bürgermeister.

»Jedenfalls in der Reihe vor der Ihrigen, Sie alberner Kerl!« rief Niklausse zurück.

Dann folgte neues Geschrei, und es klang, als ob zwei Körper aneinander prallten. Wie war ein so plötzlicher Stimmungswechsel möglich? Wie konnten sich diese beiden, oben noch so friedlichen Schafe zweihundert Fuß tiefer in Tiger wandeln?

Wir wissen das Rätsel nicht zu lösen; als aber der Turmwächter, von einem lauten Geschrei aufgescheucht, die Tür zur Treppe öffnete, sah er Bürgermeister und Rat mit argen Quetschungen und Kontusionen herankommen. Sie rissen einander aufs jämmerlichste an den Haaren, die glücklicherweise nur an Perücken saßen, und ihre Augen quollen ihnen fast aus den Köpfen.

Als Doktor Ox von diesem Vorgang erfuhr, konnte er seine Freude kaum beherrschen und lehnte sich entschieden gegen die Ansicht seines Famulus auf, der ihn um Mäßigung bat und prophezeite, daß die Sache ein böses Ende nehmen würde. Übrigens waren Doktor Ox und sein Famulus Ygen der allgemeinen Exaltation ebenso wohl unterworfen wie die ganze übrige Bevölkerung, und es kam bei ihnen zu einem Zank, wie heute morgen zwischen dem Bürgermeister und Rat.

Außerdem müssen wir hier bemerken, daß sich gegenwärtig alle Interessen in einer Frage konzentrierten und so jede feindliche Begegnung, die nicht mit den kriegerischen Operationen zusammenhing, vorläufig in den Hintergrund geschoben wurde. Sobald die Kriegserklärung bekanntgemacht war, sammelte General Johann Orbideck seine Truppen, gleich 2393 Kämpfer auf eine Bevölkerung von 2393 Seelen. Weder Frauen, Greise noch Kinder wollten zurückbleiben, und jedes Schneide- oder Hiebwerkzeug in der Stadt war ihnen zur Waffe geworden. Alle Flinten waren sofort requiriert worden, und man hatte ihrer fünf ausfindig gemacht, von denen jedoch zweien die Hähne fehlten; sie wurden an die Avantgarde verteilt. Die Artillerie bestand aus der alten Feldschlange des Schlosses, die im Jahre 1339 bei dem Angriff auf Quesnoy erobert und seitdem, also in fünfhundert Jahren, nie wieder abgefeuert worden war. In der Weltgeschichte wird ihrer als einer der ersten Feuerwaffen Erwähnung getan. Übrigens waren, zum Glück für die Kanoniere, keine Projektile zum Schießen vorhanden, und so diente das alte Geschütz nur dazu, dem Feinde zu imponieren. Die scharfen Waffen hatte man aus dem Museum für Altertümer hervorgeholt; es waren Äxte und Beile aus Kieselsteinen, Waffenhämmer, Morgensterne, fränkische Lanzen, zweischneidige Beile, Partisanen, Raufdegen und noch vieles andere; aber auch aus den Privat-Zeughäusern, genannt Küchen und Werkstätten, wurde so manche Waffe entnommen, und man hoffte, daß der Mut, das gute Recht, der Haß gegen den Fremdling und das Gefühl der Rache das ersetzen würden, was den Mordinstrumenten an Vollkommenheit abging; so glaubte man die Mitrailleusen und Hinterlader entbehren zu können.

Nun wurde eine Musterung vorgenommen, und es erwies sich, daß kein Bürger fehlte. General Orbideck, der auf seinem Pferde, einem etwas boshaften Tiere, saß, fiel zwar dreimal im Angesicht des Heeres herunter, aber er stand immer wieder auf, ohne sich im geringsten verletzt zu haben, und dies wurde als sehr günstige Vorbedeutung angesehen. Der Bürgermeister, der Rat, der Zivilkommissar, der Oberrichter, der Steuereinnehmer, der Bankier, der Rektor, kurz alle Notabeln der Stadt marschierten an der Spitze, und weder von den Müttern noch von den Schwestern und Töchtern wurde eine einzige Träne vergossen. Sie trieben ihre Gatten, Väter und Brüder nicht nur in den Kampf, sondern folgten ihnen sogar als Nachtrab unter dem Oberbefehl der mutigen Frau van Tricasse. Die Trompete des Ausrufers Johann Mistrol ertönte; die Truppen setzten sich in Bewegung, ließen ein weithin schallendes, wildes Kriegsgeschrei ertönen und marschierten auf das Audenarder Tor zu.

*

In dem Augenblick, als die Spitze der Kolonne die Mauern Quiquendones verlassen wollte, eilte ihnen laut schreiend ein Mann entgegen:

»Zurück! Zurück! Tut euren Narrenstreichen Einhalt!« rief er. »Kommt wieder zu euch; ich will den Hahn schließen! Ihr seid ja nicht blutdürstig und grausam, sondern gutmütige, friedliche Bürger! Nur mein Herr, der Doktor Ox, ist schuld daran, daß ihr in diesen Zustand der Wut geraten seid; es ist alles nur ein Experiment, das er unter dem Vorwand, eine Beleuchtung mit Oxyhydrogengas zu schaffen, mit euch angestellt hat. Er hatte die Luft gesättigt ...«

Der Famulus war außer sich; er wollte noch weiter sprechen, aber in demselben Augenblick, als das Geheimnis des Doktor Ox über seine Lippen kommen sollte, stürzte sein Herr in unbeschreiblichem Zorn auf den unglücklichen Ygen zu und schloß ihm den Mund mit Faustschlägen.

Es entwickelte sich eine Schlacht; der Bürgermeister, Rat Niklausse und die Notabeln der Stadt waren, als sie Ygen sahen, stehen geblieben, jetzt aber stürmten sie, von Erbitterung überwältigt, auf die beiden Fremden ein, ohne auf einen der beiden zu hören.

Doktor Ox und sein Famulus wurden erbärmlich zerschlagen und zerzaust und sollten soeben auf Befehl des Bürgermeisters van Tricasse in das Arrestlokal abgeführt werden, als plötzlich unter furchtbarem Donner eine Explosion erfolgte. Die ganze Atmosphäre in und um Quiquendone schien plötzlich in Feuer zu stehen, und eine Flamme von wahrhaft phänomenaler Intensität und Lebhaftigkeit stieg wie ein Meteor bis zum Himmel empor. Wäre es Nacht gewesen, man hätte den Brand bis auf eine Entfernung von zehn Stunden bemerken können.

Das ganze Heer der Quiquendonianer lag auf dem Boden wie eine Schar Kapuzinermönche ... Glücklicherweise jedoch fiel niemand der Explosion zum Opfer; nur hie und da waren einige kleine Schrammen und geringe Verletzungen zu beklagen. Dem Konditor, der zufällig nicht vom Pferde gefallen war, wurde sein Federbusch arg versengt, sonst kam er jedoch ohne Wunde davon.

Was war geschehen?

Ob nun während der Abwesenheit des Doktors und seines Gehilfen irgendeine Unvorsichtigkeit begangen sein mochte, oder was sonst die Ursache gewesen – kurz, man erfuhr bald, daß die ganze Gasanstalt in die Luft geflogen war. Man wußte nicht, wie oder weshalb eine Verbindung zwischen dem Reservoir, welches das Oxygen enthielt, und dem Hydrogenbehälter eingetreten war, aber aus der Vereinigung der beiden Gase hatte sich eine detonierende Mischung gebildet, und an diese war jedenfalls ein zündender Funke geraten.

Durch die Katastrophe trat eine absolute Änderung ein – als sich aber die Armee wieder aufrichtete und man sich nach den beiden Übeltätern umsah, war Doktor Ox sowohl als sein Famulus Ygen verschwunden. Durch die Explosion verwandelte sich Quiquendone wie durch einen Zauberschlag in dieselbe phlegmatische, stillfriedliche, flämische Stadt, die sie ehedem gewesen war.

Ein jeder machte sich instinktmäßig wieder auf den Weg nach Hause, ohne daß das unvorhergesehene Ereignis einen besonders tiefen Eindruck hervorgebracht hätte. Der Bürgermeister stützte sich auf den Arm des Rat Niklausse, der Advokat Schut ging mit dem Arzt Custos und Frantz Niklausse mit seinem Nebenbuhler Simon Collaert Arm in Arm, jeder vollkommen ruhig und ohne eine Ahnung von dem, was sich zugetragen hatte. Virgamen und ihre Rache hatten sie längst vergessen; der General stand bereits wieder bei seinen Bäckereien, und der Adjutant kehrte zu dem Gerstenzucker zurück. Alles war wieder ruhig geworden, hatte den Faden des gewohnten Lebens wieder angeknüpft und ging seinen richtigen Gang. Menschen und Tiere hielten sich aufrecht wie früher, und sogar der schiefe Turm auf dem Audenarder Tor – man sollte nicht glauben, wie wunderbar zuweilen Explosionen wirken – der Turm auf dem Audenarder Tor ragte wieder in gerader Richtung zum Himmel empor! Von nun an fiel nie wieder ein lautes Wort, ereignete sich nie wieder eine Diskussion in Quiquendone, und Politik, Klubs, Prozesse und Stadtsergeanten wurden abgeschafft. Die Stelle des Kommissars schrumpfte wieder zu einer Sinekure zusammen, und wenn man Herrn Passauf sein Gehalt nicht verkürzte, so lag dies einzig daran, daß Bürgermeister und Rat sich nicht entschließen konnten, eine Entscheidung zu treffen.

Was den Nebenbuhler Frantzens anbetraf, so war er großmütig genug, die reizende Suzel ihrem Verlobten ohne weiteren Kampf zu überlassen, und dieser beeilte sich, sie, die Holde, in fünf bis sechs Jahren heimzuführen.

Was hatte der geheimnisvolle Doktor Ox mit alledem bezweckt? Ein phantastisches Experiment und weiter nichts.

Nachdem seine Gasleitung eingerichtet war, hatte er zuerst die öffentlichen Gebäude, dann die Privathäuser und zuletzt die Straßen von Quiquendone mit reinem Oxygen gesättigt, ohne ihnen nur ein Atom Hydrogen zukommen zu lassen. Wenn dies vollständig geschmack- und geruchlose Gas in so hoher Dosis die Atmosphäre durchdringt und somit eingeatmet wird, erzeugt es in den Organismen die ernstesten Störungen. Lebt man in einem mit Oxygen gesättigten Dunstkreise, so wird man aufgeregt, überreizt, ja förmlich entflammt.

Kaum aber kommt man in die gewöhnliche Atmosphäre zurück, so wird man wieder zu seinem früheren Selbst, was am deutlichsten aus dem Erlebnis der beiden Herren erhellt, die oben an der Sturmglocke in atmungsfähige Luft kamen. Das Oxygen hält sich nämlich mittels seiner Schwere in den unteren Luftschichten. Wenn man unter solchen Bedingungen lebt und dieses Gas einatmet, das physiologisch den Körper ebenso umgestaltet wie den Geist, so stirbt man rasch wie jene Toren, die in diesem Leben über alles Maß hinausgehen.

Die Quiquendonianer konnten also von Glück sagen, daß eine weise Fügung die Explosion herbeiführte und so den gefährlichen Versuchen des Doktor Ox ein Ende machte.

Um die Sache in möglichster Kürze zusammenzufassen und zum Abschluß zu bringen: Sollten denn Tugend, Mut, Talent, Phantasie und alle anderen Eigenschaften und Fähigkeiten des Geistes nur eine Oxygenfrage sein? –

Das ist allerdings die Theorie des Doktor Ox, aber wir haben das Recht, sie anzuzweifeln, und was mich für meine Person betrifft, so weise ich ihre Glaubwürdigkeit ganz entschieden zurück – trotz der phantastischen Experimente, zu deren Schauplatz die ehrwürdige Stadt Quiquendone erkoren worden war.

 

(Von A. Hartlebens Verlag in Wien und Leipzig einzig gestatteter Abdruck aus dem Jules Verne'schen Erzählungsbande: » Eine Idee des Doktor Ox« der Kollektion Verne)

 

[An dieser Stelle von H.G. Wells, »In der Tiefe« aus Urheberrechtsgründen gelöscht. © bis 31.12.2016 Re.]


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