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Von Bruno Frank
Als nach stundenlanger Dauer die Versammlung der Aktionäre ihr Ende erreicht hatte, begab sich Direktor Steingräber so schnell als nur irgend möglich nach Hause und beschloß, noch ehe er seine Wohnung erreichte, sterbensmüde und ziemlich degoutiert wie er war, Berlin und seinen geschäftlichen Posten für einige Wochen zu verlassen und sich nach Süden zu wenden. Den Nachmittag verbrachte er ordnend und vorsorgend an seinem Schreibtisch, später empfing er den Besuch des zu seiner Vertretung berufenen Herrn, gab beim Abendessen seinem Diener die nötigen Befehle und reiste am folgenden Morgen.
Er war allein in seinem Coupé, auf dem Klapptischchen hatte er sich ein paar Bücher zurechtgelegt, und er blickte von seinem Ecksitz aus auf die vorbeieilende herbstliche Landschaft.
So – dachte er wiederholt, so – nun einfach los! – Und er machte dabei stets eine kleine Geste mit dem Arm, in der Richtung, die der Schnellzug mit großer Geschwindigkeit verfolgte.
»Ja, diesmal handelte es sich keineswegs um eine bildende und den Geschmack läuternde Reise, – oh, – diesmal galt es einen entschlossenen Bruch mit der gewohnten tätigen und praktischen Existenz, eine wilde Absage – auf Zeit allerdings, ach, auf Zeit! – an all das, womit sonst das Leben ausgefüllt war: an alle Versammlungen, alle Sitzungen und alle Besprechungen vertraulicher Art, an die durchprüfende, die organisierende, die überwachende Tätigkeit, die er jahraus jahrein in den Dienst des von ihm geleiteten industriellen Betriebes stellte.
Er richtete sich ein wenig auf, nahm eine Eisenbahnkarte zur Hand, die bei den Büchern lag, entfaltete sie auf seinen Knien und sah auf die Festländer, die Inseln und Meere von Europa mit der Nachlässigkeit des unbeschäftigten Reisenden, der für vierundzwanzig Stunden ein freiwilliger Gefangener ist. Dann beschäftigte er sich im besonderen mit den starken schwarzen Linien, die auf der Karte unter den Bahnstrecken die wichtigsten bezeichnen. Er fing an, sich hübsche gerade Strecken herauszusuchen.
Petersburg–Wien– Venedig – dachte er und fuhr mit dem Zeigefinger quer über Europa hin, wahrhaftig, fast eine gerade Linie ... Wie angenehm für alle, die mit dem Rußland-Expreß von Süden kommen, ja, oder umgekehrt ... Übrigens, Venedig ... Venedig war natürlich das Rechte für ihn. Mindestens gab es nichts einzuwenden. Man schrieb Oktober ... Eine angenehme Empfindung nahm von Herrn Steingräber Besitz, die von dem Bilde verschlungener Kanäle und Gassen hervorgerufen wurde ...
*
Du durchschreitest eine lärmende, schlecht beleuchtete, schmutzige Bahnhofshalle, die sich durch nichts von hundert anderen unterscheidet, du kommst mit dem Gepäckträger zustande, verlässest den Vorraum, betrittst den freien Platz ...
Lärm? Hotelomnibusse? Ein Zeitungskiosk? – Feierliche Stille vielmehr ... schwarze Kähne auf spiegelndem Wasser ... jenseits Tempelformen, die weiß im Mondlicht glänzen ... Ein Hotel für die Nacht? – Ja dies und dies ... Zwanzig Ruderschläge weit bewegt sich das Boot auf der großen Fläche, dann biegt es in einer sanften, unfühlbaren Kurve nach rechts. Ein schmales Wasser, hohe Mauern zu beiden Seiten deines Weges ... Nun gibt es nichts anderes mehr auf dieser Welt als stummes Wasser und stumme Mauern.
Es ist ein Labyrinth, du wußtest es gleich. Irgendwo treten die Steine auseinander, – für einen andern kleinen Kanal, einen von den unzähligen anderen, schmal wie der erste, schweigsam wie der erste ... und an seinem Ende wiederum glaubst du die Einmündung eines dritten zu erkennen. Venedig muß ungeheuer groß sein ... Da läuft eine Galerie am Wasser hin, dunkle, weitgezogene Bogen. Ein Schatten beugt sich über die Mauer. Oh ... es gibt Menschen hier ...?
*
Der Direktor war nicht für die Dauer im Hotel abgestiegen, und schon am Morgen nach seiner Ankunft machte er sich auf, ein Mietszimmer zu suchen, irgendwo, nur nicht in einer Pension oder in einem für Fremde überhaupt besonders hergerichteten Hause ... Endlich fand er, was er wollte, nahe bei Santa Maria del Carmine, und war recht froh, sich in diesem etwas abgelegenen Viertel unterzubringen.
Ja, dies war nun Venedig, die seltsamste Stadt, ihm wohlbekannt und dennoch ihm wieder neu – diesmal auf neue Weise neu. Vielleicht war es ein ausgezeichneter Gedanke von ihm gewesen, sich gerade hierher zu machen, um die Art von Dasein, darin es ihm zu eng und dumpf geworden, mit heilsamer Inbrunst zu verleugnen und womöglich ein wenig zu vergessen ...
Herr Steingräber vermied es fast ängstlich, sich in der Stadtgegend zu zeigen, die von den Fremden bevorzugt wird. Am liebsten war ihm Venedig am Abend, zuerst schon, als noch der Mond den kleinen Löwen, die allenthalben über der Tür oder in den Nischen sitzen, die schnurrbärtigen Gesichter erhellte, – vollends aber, als die Nächte finster wurden, und die Stadt als ein ununterscheidbar verworrenes Ineinander von mächtigen Bauten und reglosen Wasserstraßen sich darstellte. Die vielen steilen, kleinen Brücken zumal wurden für Herrn Steingräber mit jedem nächtlichen Streifzug wunderlicher und reizvoller ... sei es, daß er vom Gondelkissen zu ihnen aufschaute und schattenhafte Gestalten über sie weggleiten sah, hastige Nachtwanderer, die, aus dem Dunkel einer Gasse hervoreilend, sich plötzlich hoch hinaufgehoben zeigten, um alsbald jenseits zwischen den Steinen zu verschwinden, – sei es, daß er, selber von Platz zu Platz und aus unbekannten, engen Straßen in noch unbekanntere, engere hinschlendernd, mit einem Male die Häuser auseinandertreten und im Laternenschein Brückentreppen emporführen sah ...
Er ging in die Gasse hinein. Mit einem Male taten sich die Mauern voneinander, leises Stimmengeräusch traf sein Ohr, und wie es ihm einige Male schon auf seinen Wanderungen durch Torbogen, Galerien und enge Durchlasse ergangen war, sah er sich unvermittelt unter den Arkaden der Piazza San Marco, die im schwachen Schein ihrer Gaslaternen mattspiegelnd dalag, und wo zu der späten Stunde an den kleinen Tischen vor den Kaffeehäusern vereinzelt noch Gäste saßen.
Auch Herr Steingräber nahm Platz, ließ sich einen Becher Limonade kommen und blickte abwechselnd auf die Umrisse der alten Prokurazien, die sich jenseits unsicher zu erkennen gaben, und auf die Figuren der Mädchen im Hut und der Mädchen im venezianischen Schal, die sich langsam auf dem Marmorboden des Platzes vorüberbewegten.
»Bringen Sie mir noch etwas gestoßenen Zucker,« rief er dem Kellner zu, auf deutsch, – denn warum sollte man sich dieser gewandten Kreatur gegenüber, die ohne Zweifel sieben Sprachen verstand, eine solche Bequemlichkeit nicht gestatten ...
»Sie ärgern sich,« sagte gleich darauf mit leicht österreichischem Akzent ein Herr, der eben an des Direktors Tischchen Platz genommen hatte, »Sie ärgern sich, weil Ihnen die Flaggenstangen die Aussicht auf San Marco zerschneiden ...?« Er schwieg einen Moment, wie abwartend.
»Das Dekorative ist immer ein Feind des Schönen,« setzte er schließlich hinzu.
Herr Steingräber wandte langsam sein Gesicht herum.
»Ja,« sagte er obenhin, und nichts weiter. Zu sich selber sprach er: ›Nein, er sieht ganz passabel aus. Übrigens kann man die Kirche kaum erkennen und die Fahnenstangen nun vollends nicht ...‹
Auf dem Metallstühlchen zur andern Seite des kleinen Tisches saß ein Herr von vielleicht fünfunddreißig Jahren, dessen ein wenig zu fettes Gesicht starke Augenbrauen aufwies, einen bürstenartig geschnittenen Schnurrbart und eine Nase, die, ohne eigentlich gekrümmt zu sein, unterhalb der Mitte plötzlich in scharfem Winkel abbog. Dies verlieh der Nase eine ernsthafte Ähnlichkeit mit einem Geierschnabel und den Zügen des Herrn ein Gepräge von Stolz und Wagemut. Sein Kinn freilich war unsicher gebildet und klein und trat von der Unterlippe aus fast unmittelbar zurück ..., für den Direktor war diese Einzelheit aber im Augenblick kaum zu erkennen. Dagegen bemerkte er, daß der Fremde in einem gut geschnittenen Anzug von dunkelblauem Stoffe dasaß, daß er einen sympathisch niedrigen, englischen Stehumlegekragen trug und als Krawatte ein breites, dick geknöpftes Band von gestrickter Seide. Zwischen ihm und Herrn Steingräber, auf einem freien Stuhl, lagen ein hellgrauer, weicher Filzhut und ein Paar brauner, wildlederner Handschuhe.
›Seit zehn Tagen habe ich bei Gott mit keinem Menschen gesprochen, außer mit dem Barbier und mit meiner Frau Benasseni ...‹ Der Direktor neigte sich ein wenig vor.
»Sind Sie wirklich ganz und gar dieser Meinung?« fragte er. »Ich möchte denken, es gäbe hier in Venedig Beispiele vom Gegenteil. Man erstrebte das Dekorative, und es wurde etwas Schönes daraus, wie ...?«
»Sie haben recht,« rief der fremde Herr mit deutlicher Freude. »Sie haben ganz recht. Wie man so manchmal daherredet! Ich hätte bloß an San Marco selber denken müssen. Da ist ja Gold und Marmor zusammengehäuft in allen erdenklichen Stilen – und für wen? No, für wen ...? Für die fremden Gesandten, die zum Dogen herfuhren. Die sollten gleich einen ordentlichen Begriff von Venedig bekommen und recht klein werden ...«
Herrn Steingräber kam die freudige Zustimmung des Herrn eigentlich etwas überraschend, doch liebenswürdig war sie, kein Zweifel ...
»Aber,« rief jener nun, »ich merke jetzt erst, daß man überhaupt gar nichts mehr von San Marco sieht ... Vorhin bin ich nur zufällig Ihrem Blick nachgegangen. Übrigens: von Slozek.«
›Er hat es eilig,‹ dachte der Direktor, griff an den Hut und nannte seinen Namen.
»Erfreut. Ja, die Piazza ist schlecht beleuchtet, man rechnet mit dem Mondschein. Praktische Romantik – haha. Ich habe nur einmal ordentliches Licht hier gesehen – Fackellicht, taghell, das war wundervoll, sage ich Ihnen.«
Er machte wieder eine Pause, wie um der Frage Raum zu geben, bei welcher Gelegenheit er diesen Eindruck davongetragen habe.
»... Das war voriges Jahr bei der Grundsteinlegung zum neuen Kampanile, ja, jetzt stehen schon mehr als sechs Meter. Der Hof war da, die Königin – eine schöne Frau die Königin –, der König, ganz kleiner Herr, und hinter ihm her seine Offiziere, einer kleiner als der andere, komischer Anblick, besonders für jemand, der deutsches Militär kennt, – Sie sind Berliner?«
»Ja,« entgegnete der Direktor, und vielleicht, weil die Stimmen verstorbener Erzieher ihn zur Gesittung mahnten, fügte er auch seinerseits einige Fragen hinzu. Es stellte sich heraus, daß Herr von Slozek österreichischer Offizier gewesen war, daß er als Leutnant und zuletzt als Oberleutnant der Artillerie angehört und vor nunmehr zwei Jahren seinen Abschied genommen habe.
»Artillerist ...?« sagte Herr Steingräber. »In Wien? Da kennen Sie natürlich ...«
»In Graz,« sagte Herr von Slozek, »hübsche Stadt – Graz.«
Aber der Direktor, der nun eine förmliche Lust zum Plaudern verspürte, nannte die Namen einiger Grazer Familien, zu denen er in Beziehungen getreten war, die eines Bankiers, die eines Gerichtspräsidenten ... »Dort sind reizende Töchter im Haus, Herr Oberleutnant ...«
»Ich habe wenig verkehrt, gerade damals, – aus Gründen, aber Sie werden lachen ... Was halten Sie von melancholischen Offizieren? Schließlich habe ich meinen Abschied deswegen genommen, um es nur zu gestehen ... Ich brauche Ihnen bloß zu sagen, daß ich von mütterlicher Seite her mit Lenau verwandt bin,« schloß er mit einem vollkommen weltmännischen Lachen.
Sie standen zusammen auf, schritten langsam die Arkaden hinunter und durch den Ausgang unter dem Atrio.
»Übrigens,« rief Herr von Slozek und blieb vor einem schreiend gelben Plakat stehen, das, gerade unter einer Ecklaterne, eine riesenhafte, fensterlose Mauer verunzierte, »die Villani singt in ›Norma‹ – das ist die schönste Rotblonde, die Sie sehen können, echte Venezianerin, garantiert ... Ich gehe bestimmt hin.«
Und mit einer flinken, fast anmutigen Bewegung, wie befeuert von einem plötzlichen Einfall, wandte er sich herum ... »Kommen Sie doch mit!« sagte er munter.
»Oh ...,« bemerkte Herr Steingräber zweifelnd.
Aber der Offizier faßte ihn leicht am Arm ... »No was, seien Sie nicht so preußisch steif! Wirklich – ich garantiere Ihnen eine first rate rotblonde beauté.«
›Eine first rate – rotblonde – beauté ...‹, dachte Herr Steingräber.
»Und dann überhaupt, – wenn Sie das Fenice-Theater noch gar nicht kennen ... Ich war gut und gern meine fünfzigmal drin, und immer begeistert es mich wieder, wie man da schon anfährt ... Die Freitreppe vom Vestibül herunter geht direkt in den Kanal, Sie legen mit der Gondel an, – vor Ihnen und hinter Ihnen kommen Gondeln mit den schönsten Frauen – großes Décolleté unterm Pelz ...«
›Die Melancholie scheint sich immerhin gebessert zu haben in der Familie – seit Lenau‹ stellte Herr Steingräber bei sich fest. Allein das Bild der farbig belebten Theatertreppe, die zum Wasser hinunterführt, war unstreitig nicht ohne Reiz ... und man trennte sich mit der Verabredung, am folgenden Abend kurz nach acht Uhr wieder zusammenzutreffen.
*
Am Morgen war Herr Steingräber verdrießlicher Laune. Er ging nicht aus dem Haus, ließ sich um Mittag ein Gabelfrühstück besorgen, das ganz miserabel ausfiel, und lief im übrigen brummend von einer Ecke zur andern. Am meisten aber ärgerte, ja bedrückte den Direktor die Wahrnehmung, die er nun heute an sich machte: er wartete mit Ungeduld auf das abendliche Zusammensein mit dem Oberleutnant – mit Ungeduld, obgleich er sich fast schon grollte für die ein wenig disziplinlose Bereitwilligkeit, mit der er sich dem fremden Menschen angeschlossen hatte.
›Ein böses Zeichen ... ein sehr böses Zeichen,‹ dachte er auf seiner Wanderung durch das Zimmer, und mehrere Male sprach er es sogar laut aus. Allein das verhinderte nicht, daß er schon am frühen Nachmittag immer häufiger die Uhr hervorzog ...
Schließlich, es war gegen vier, machte er sich fertig, stieg die Treppe hinunter und ging davon in der Richtung nach San Marco. Er bog um die nächste Ecke ... und sah sich plötzlich Auge in Auge mit dem Oberleutnant, der mitten in der Gasse stand, breitbeinig und die Hände auf seinen Stock gestützt ... Herr Steingräber war sehr überrascht, aber noch mehr erfreut, und da auch Herr von Slozek durchaus glücklich schien über den Zufall, spazierten sie zusammen weiter. Sie riefen eine Gondel an und waren bald im großen Kanal. Herr von Slozek hielt seine Augen von der Seite her aufmerksam auf den Direktor gerichtet, – die Bildung seines weichlichen Kinns hatte unbedingt an Bestimmtheit gewonnen.
»Da, sehen Sie, Herr Direktor,« sagte er plötzlich und deutete mit leichter Bewegung auf eine größere Barke, die neben ihnen herglitt, dicht besetzt mit einer vielköpfigen britischen Familie vom niederschlagendsten Aspekt. Man fand sich der Piazzetta gegenüber. Eine hochaufgeschossene Tochter, deren Kopf von einem auffallend kleinen Hütchen etwas lächerlich bekrönt war, las, der schon beginnenden Dämmerung trotzend, mit gleichmäßiger Stimme aus ihrem Handbuch vor, und jedes ihrer eindringlichen Worte war deutlich zu hören ... » At left« las sie, » between the Libreria and the Royal Garden you remark the old Zecca or Mint ...« und bei jedem Namen drehten sich alle Köpfe taktmäßig in der bezeichneten Richtung.
»Am unbegreiflichsten,« bemerkte Herr von Slozek mit Energie, »sind doch die Gondoliere dort im Kanal, die immerfort an den Palästen in die Höhe deuten und die Namen nennen, immer mit der gleichen Geste und immer mit der gleichen, geübt zärtlichen Stimme ... Wahrscheinlich haben sie die Bewegung und den Tonfall schon vom Vater und vom Urgroßvater geerbt ... Ja, eigentlich« – und hier erhob er seine Stimme noch ein wenig mehr und sprach langsamer – »eigentlich ist es immer der gleiche Gondolier.«
Er beobachtete den Direktor gespannt. Das Experiment schien völlig gelungen ...
»Ah ja,« sagte Herr Steingräber, »der gleiche Gondolier, gut ...«
Herr von Slozek lächelte befriedigt. »Aber schließlich,« fügte er nach einer Pause hinzu, »geht es uns nicht allen so? Ein Küster in der Kirche, der immer den gleichen grünen Vorhang zur Seite zieht, oder ein deutscher Bauer, der jahraus, jahrein seine Feldarbeit macht ...«
»Wahr,« sagte der Direktor. »Es geht uns allen so. Sie haben recht ...«
»Sie sind Industrieller?« fragte Herr von Slozek unvermittelt, – und Herr Steingräber, vielleicht wiederum den Stimmen verstorbener Erzieher folgend oder auch, weil seiner Meinung nach ein Mann von der Geistesart des Herrn von Slozek Ansprüche machen durfte, gab Aufschluß über die Art seiner Tätigkeit.
›Nicht ganz am Platze diese Frage, gerade jetzt,‹ meinte er immerhin zu sich selbst – ›nun, der Mann ist ein bißchen verwildert ...‹ Und aus seinem Gedankengang heraus fügte er hinzu: »Ja, Sie haben es da gut, Herr von Slozek, Sie reisen. Sie fliegen. Sie sind ganz frei ...«
»Wir sind alle eng gefesselt,« erwiderte der Oberleutnant mit einer wiederum dunklen und gepreßten Stimme.
Man nahm irgendwo in der Eile eine kleine Mahlzeit, bestieg von neuem die Gondel und landete vor La Fenice. Treppe und Vestibül waren schon leer. In brausenden Stößen drang die Musik heraus.
Während des zweiten Aktes, als sie sich unterhielten, erschien mit einer Art von Laufschritt in der Reihe vor ihnen, wo einige Plätze leer waren, ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit feurigen Augen, tat seiner Eile plötzlich Einhalt und schüttelte dem Oberleutnant mit Enthusiasmus die Hand.
»Ja, das ist reizend, sind Sie auch herinnen, Slozek, die Villani anschauen, das ist gescheit« ... Eine Stimme, eine Stimme – so das gewisse Streichelnde – »oh, Pardon, Sie sind in Gesellschaft ...«
Herr von Slozek stellte vor.
»Hocherfreut! Hat Sie der Slozek hereingeführt? Ja, auf dem seinen Rat kann man sich verlassen, der kennt sich aus, ob es ein Frauenzimmer ist oder ein Theater ...«
Er sprach wie er ging, hastig und abrupt, übrigens mit stark ungarischer Färbung.
»Ja,« sagte Herr Steingräber höflich, »ich bin Herrn von Slozek sehr dankbar ... die Villani ist vorzüglich und auch die andern ...«
»Ja, finden Sie? Auch die andern? Sie haben recht, nicht übel ... obzwar das Starunwesen ... das Starunwesen ... Wo geht's denn Ihr nachher noch hin?«
Der Direktor hob den Kopf. Herr von Slozek gab etwas zur Antwort.
»Nach Haus? Jetzt, das ist originell ... Aber das Licht geht aus, man fangt wieder an ... Ich empfehle mich, Herr Direktor! Rivederci, Slozek, Adieu ...«
Das Licht blieb vorderhand wie es war, und der Direktor, als er zufällig auf das Trittbrettchen am Boden niederblickte, sah, wie sich unter dem Lackleder von Herrn Slozeks linkem Halbschuh die Zehen nervös bewegten, – ja bei einer besonders heftigen Bewegung des Fußes ließ sich, da der Schuh ein wenig hinuntergezogen wurde, deutlich erkennen, daß der elegante, dunkelblauseidene Strumpf an dieser Stelle ein Loch hatte.
Dieser kleine Mangel rührte den Direktor und stimmte ihn beinahe zärtlich. ›Ja,‹ dachte er, ›die eleganten Leute ohne Frau, – mit den vielen Frauen, die keine Löcher zustopfen ...!‹ Und er hatte Lust, bei sich selbst an der nämlichen Stelle nachzusehen.
»Haben Sie sich geärgert?« fragte Herr von Slozek mit einer seiner jugendlich raschen Kopfdrehungen. »Ich meine wegen des ›Ihr‹.«
»Wegen ...? Aber ich bitte Sie ...«
»Oh, ich könnte das sehr gut begreifen. Aber enfin: man muß diesen Ungarn schon etwas nachsehen. Immer noch ein bißchen Steppe, ein bißchen finnisch-ugrisch ...«
Herr von Slozek lachte sein angenehmes Lachen, es wurde dunkel ...
»Auf die Piazza? Wieder auf die Piazza, Herr Direktor? Wird das ewige Café Florian nicht schließlich ein bißchen fade? Wenn's Ihnen recht ist, machen wir die paar Schritte bis zum Campo San Bartolommeo. Da ist ein kleines Café, auch mit Tischen vor der Tür, – man hat den netten, lustigen Goldoni gerade vor den Augen und ein ganz hübsches Leben und Treiben ...«
Wirklich standen und wandelten, als sie dort ankamen, noch allerhand Paare und Gruppen umher; ein paar von den Mädchen zeigten feine, blasse Gesichter über ihrem schwarzen Schal, wenn sie im Lichtschein der Laterne vorbeikamen.
»Aber,« sagte Herr von Slozek plötzlich wie erschrocken, »da habe ich vielleicht eine schöne Dummheit gemacht ... Schleppe ich Sie mit hierher und weiß gar nicht, ob Sie am Ende hernach einen Riesenweg haben ...«
Der Direktor bezeichnete seine Wohnung.
»Ah, das ist vernünftig, Sie reißen aus vor den Hochzeitspärchen ... Und nun wollen Sie gewiß erfahren, wo ich wohne. Wenn ich Ihnen das nur sagen könnte ...!«
»Wieso, Herr von Slozek? Sie wohnen doch vermutlich irgendwo ...«
»Vermutlich ... haha, verzeihen Sie, daß ich ein bißchen lache, Herr Direktor. Nein, ›vermutlich‹ wohne ich gerade nirgends, aber zufällig wohne ich heute nacht doch irgendwo, – zufällig!«
»Wissen Sie,« fuhr er in einem zugleich trockenen und betrübten Tone fort, »die Sache ist die: ich bin ein wenig anspruchsvoll in der Beziehung, ja ... Ich glaube, gut die Hälfte von allen Hotelzimmern, die es in Venedig gibt, kenne ich aus eigenem Gebrauch ... Ich brächte es wahrscheinlich nicht fertig, mich so für die Dauer bei Frau Benasseni einzuquartieren, nein ...«
Herr Steingräber sah überrascht auf. Er rief: »Aber woher wissen Sie denn den Namen meiner Quartierwirtin?«
»Nun, bitt ich Sie,« bemerkte Herr von Slozek nach einem kleinen erschrockenen Zögern – und er brachte es wirklich zustande, daß seine Antwort wie ein Vorwurf klang – »Sie haben mir ihn ja vor drei Minuten selber genannt.«
»Ich ...? Aber natürlich ist es so. Was für eine blödsinnige Frage von mir! Verzeihen Sie.«
»Bitte ...,« sagte Herr von Slozek, und in trübem Tone fuhr er fort zu erzählen ... »Ja, es ist sonderbar mit mir, Herr Direktor, es sind die Nerven – oder auch etwas mehr als die Nerven ... Sehen Sie, da komme ich also in ein Hotel ... Man gibt mir zwei große Zimmer im ersten Stock, ein bißchen teuer vielleicht, aber hübsch – gut, es ist mir recht, und hoffentlich bringe ich es nun fertig, hier einmal länger als vierundzwanzig Stunden zu bleiben! Die Fenster gehen auf den großen Kanal, die Möbel können passieren, es ist sogar eine ordentliche Chaiselongue da und ein tiefer Stuhl zum Lesen – gut und schön ... Und des Abends um halb zehn fängt nebenan ein Schwede an zu schnarchen ... oder, wenn niemand schnarcht und nicht einmal eine Wasserleitung in der Nähe taktmäßig tropft, dann hat vielleicht die Tapete ein so verwirrend sinnloses Muster, daß es der reine Selbstmord ist, hinzublicken, – und doch müssen Sie hinblicken, Sie müssen sogar das abgedrehte elektrische Licht wieder andrehen, nur um hinzublicken ...«
Er lehnte sich wie erschöpft tiefer in den Schatten zurück ... Es war einen Augenblick lang still; auf dem Platze bewegte sich beinahe niemand mehr.
»Sie denken vielleicht, Herr Direktor, ich habe kein abgehärmtes Neurasthenikergesicht ...? Aber ich sage Ihnen, das täuscht. Augenblicklich wohne ich wieder einmal im Hotel Britannia, – wer weiß, ob das zwei Tage lang dauert ... Vielleicht hängt dort in meiner Nähe irgendwo eine Wanduhr, und morgen kommt der Direktor auf die Idee, sie aufzuziehen ... Dann ist es aus, – man kann sich ja nicht lächerlich machen und verlangen, eine drei Zimmer weit entfernte Uhr solle aufhören zu ticken. Und doch, gibt es denn etwas Gräßlicheres, als das Ticken einer Wanduhr in stiller Nacht? Sie wissen, man hat hier früher eine Todesmarter für Sträflinge gehabt, die bestand darin, daß die Leute unter einer Traufe angefesselt wurden, und daß ihnen von fünf zu fünf Sekunden ein Wassertropfen auf den Schädel fiel ... Alle wurden wahnsinnig ... Wissen Sie das ...?«
Einem schärferen Beobachter als Herrn Steingräber wäre es vielleicht aufgefallen, in welch ungleichmäßiger Weise der Oberleutnant sich während seiner leidenschaftlichen Auseinandersetzungen des Gebärdenspiels bediente ... Er hob wie flehend seine Hände empor, ballte die Fäuste, öffnete sie wieder, um seine Finger demonstrierend zu spreizen, er zog, – zumal wenn sein Gesicht eben in den Lichtzirkel der Laterne kam, – seine Stirn kraus oder biß sich in die Lippen oder ließ an seinen Wangen unterhalb der Augen ein krampfhaftes Muskelspiel sichtbar werden ... Doch plötzlich war es dann wieder mit all dem genug: sein Gesicht – im Schatten nun – trug eine verhältnismäßige Ruhe auch bei heftigen Worten, und die Hände lagen friedlich, eine über der andern, auf der Tischkante ... Er bot, bis er sich dann wieder zu erinnern schien und von neuem begann, durchaus ein ähnliches Bild wie ein Sänger, der sich am Klavier selbst begleitet, plötzlich aber daran vergißt und ohne Begleitung weitersingt ...
Er schwieg, und wie er nun so dasaß, in etwas müder Haltung und die Augen ohne Teilnahme auf einen entfernten Punkt gerichtet, sehr gepflegt, aber nicht mehr ganz jung und ersichtlich, der Geiernase zum Trotz, recht matt und resigniert, da wurde der Direktor, im unbestimmten Gefühl, daß sie beide auf eine gewisse Art doch Kameraden seien, gerührt und zu ihm hingezogen, und er fing, tröstende und freundschaftliche Worte in sich vorzubereiten ...
›Dieser Oberleutnant ist ja ein Kind,‹ dachte er und gab etwas Verbindliches zur Antwort, ›ein empfindliches, heftiges Kind, dem es augenscheinlich nicht sehr gut geht im Innern ... Angenehm übrigens für mich, hier zu sitzen und dergleichen über ihn denken zu können, ohne daß er es merkt ...‹
Herr Steingräber fühlte vielleicht an diesem Abend zum erstenmal eine Befriedigung von der Art, die er sich von dieser Reise erhofft hatte ...
»Ganz leer ...,« sprach Herr von Slozek und deutete auf den verödeten Platz. Aber dann lehnte er sich zurück, so daß sein Gesicht im Halbdunkel lag, und begann von neuem zu sprechen.
»Es ist doch schön,« – Herr von Slozek sprach mit nachdrücklicher Wärme – »einem Menschen zu begegnen, dem gegenüber man es aussprechen, zu dem man auch über etwas Besseres reden kann als über das sogenannte Leben ... Der Tod, der Tod ist ja die große Linse, die heimlich – heimlich doch alle Blicke in sich zieht ...«
»Wahr,« sagte Herr Steingräber. Aber dabei beschäftigte ihn, halb wider Willen, die Frage, warum der Oberleutnant plötzlich wieder, wie es ihm öfters passiert war, aufgehört hatte, im österreichischen Tonfall zu reden ...
Herr von Slozek, der aus seiner Dunkelheit hervor jeden Zug in des Direktors Gesicht zu erkennen vermochte, deutete sich die kleine Störung vielleicht richtig aus, – jedenfalls fand er sich schon im nächsten Satz zu einem völlig wienerischen Tonfall zurück ...
Nachdem er tief, aber lautlos Atem geholt hatte, fing er zu sprechen an, eindringlich, rasch, abrupt, ohne allzuviel Ordnung in dem, was er vorbrachte, mit augenscheinlicher Leidenschaft, – wie ein Jüngling, der sich das Herz entlädt. Und, einem anfänglichen leichten Widerstreben zum Trotz, fanden seine Worte bald Widerhall bei Herrn Steingräber, sie ergriffen ihn, ausgesprochen von diesem fremden Mann zu nächtlicher Stunde auf einem verödeten Platze in Venedig ... Herr Steingräber saß gesenkten Blickes da, und bei einzelnen Sätzen des Oberleutnants nickte er langsam mit dem Kopfe.
Herr von Slozek sprach. Er sprach wie einer, der hoffnungslos an den Rätseln des Daseins leidet, von der großen Ziellosigkeit alles Lebens ... Er versäumte nicht, das Infusorium zu erwähnen, dessen großes Problem es sei, die Reise im Wassertropfen nach rechts hin oder nach links hin zu unternehmen, noch die mit unbegreiflicher Mannigfaltigkeit bemalten Muscheln, die das Meer fortwährend millionenfach an den Strand wirft, – und er stellte die unerklärte Existenz des Menschen mit dem Dasein dieser so wenig bedeutenden Geschöpfe zusammen ... Was waren wir? ... Wozu waren wir da? ... Welche unfreundliche Macht nötigte uns, gegen den Widerstand der äußeren Umstände, der körperlichen Gebrechen und der bösen Triebe mit schwerer Arbeit uns von einem Tag auf den andern zu erhalten, nur um morgen wieder auf die gleiche Art zu beginnen? Und das alles zudem mit jener grauenhaften Aussicht vor den Augen ...
Herr von Slozek erwähnte hier das »Land, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt« ... Und als er an dieser Stelle seinen Zuhörer eine Kopfbewegung vollführen sah, die als zustimmend nicht gedeutet werden konnte – vielmehr war es eine Bewegung, ähnlich der eines Pferdes, das die Bremsen wegscheuchen will –, fügte er eilends hinzu: »Wie tut es wohl, für solche fremden, ungreifbaren Dinge die Worte unserer Großen vorzufinden ...!« Und während seine Blicke klar und hart auf Herrn Steingräbers geneigtes Gesicht gerichtet blieben, fuhr er fort, mit weicher, umschleierter Stimme in die Nacht hineinzusprechen ...
Es war bei Gott drei Uhr, als sie aufbrachen ... Das Café hinter ihnen war längst geschlossen, und in den Gassen zeigte sich keine Seele.
»Nein, ich begleite Sie,« sagte Herr von Slozek. »Der Spaziergang wird mir gut tun, – ich bin ein bißchen ... sagen wir: bewegt.« Und er lachte geniert. Dann schwiegen sie beide, vielleicht aus verschiedenen Gründen ... Was Herrn Steingräber anbetrifft, so war er bewegt. Sie überschritten die Rialtobrücke.
Auch hier begegnete ihnen kein Mensch. Nur ganz unten auf der letzten jenseitigen Stufe, im Schatten eines der Verkaufsläden erblickte Herr Steingräber ein Mädchen, ein großes, starkgebautes Geschöpf, das, den warmen Fransenschal um die Schultern und um die Brust, wer weiß wieviele Stunden schon unbeweglich hier gewartet haben mochte ...
›Ob auch sie nicht nach uns hinsieht ...?‹ Und Herr Steingräber drehte sich um. Der Schein der Brückenlaterne fiel auf ihre Züge und auf die des Oberleutnants, der einen Schritt zurückgeblieben war ... Die beiden tauschten eben einen Blick aus und ein ganz flüchtiges Lächeln ...
›Sieh da,‹ – Herr Steingräber hatte sich wieder geradeaus gewendet – ›eine zarte Beziehung! Ein Mädchen, das an den Brücken wartet ...‹!
»Wir Menschen sind seltsam konstruiert,« sprach Herr von Slozek, der nun wieder an seiner Seite herschritt, »– es ist vieles in uns nebeneinander ...!« Und er lachte schüchtern und kindlich. Als sie aber an der ungeheuren, finsteren Backsteinmauer der Frarikirche vorüberkamen, blieb er stehen, erfaßte Herrn Steingräbers Hand und rief, wie jemand, der seine Empfindungen nicht länger mehr zu beherrschen imstande ist, mit innigem, ja dringlichem Tonfall: »Ich bin so froh, Sie kennen gelernt zu haben, mein lieber Herr Direktor!«
Und Herr Steingräber, in empfänglicher Verfassung ohnehin und vollends gerührt durch diesen Ausbruch eines einfachen Gefühls, erwiderte mit herzlichen Worten, ohne etwa für die riesenhaft bedrohlichen Schattenbilder ein Auge zu haben, die von der gebuckelten Nase des Herrn von Slozek an der schwacherhellten Kirchenmauer hervorgerufen wurden.
Der Oberleutnant brachte ihn bis an sein Haus.
*
Am nächsten Morgen trafen sich die Herren verabredetermaßen zum zweiten Frühstück. Der übernächste Nachmittag sah sie auf San Michele, der Friedhofsinsel.
Herr von Slozek hatte das lebhafte Verlangen ausgedrückt, wieder einmal einem venezianischen Leichenbegängnis beizuwohnen ... Am Landungsplatz von San Michele würde man warten, bis ein Kondukt schwarzer Barken erschiene, aus deren vorderster verhüllte Träger den schwarzen Schrein heraushöben ... Es verging eine lange Zeit, ohne daß sich ein Leichenzug gezeigt hätte, und Herr von Slozek füllte einen großen Teil dieser Zeit mit allgemeinen und melancholischen Betrachtungen aus ... Schließlich erfuhren sie bei dem Wächter, daß in Venedig nur am Morgen Tote zur Ruhe bestattet würden.
Im Gegensatz zu dem Oberleutnant, der große Enttäuschung merken ließ, war Herr Steingräber trotzdem nicht unzufrieden mit der unternommenen Fahrt, und vollends geriet er in Entzücken, wie ihnen dann, bei der Rückkehr, Venedig im milden Licht und in den tiefen Farben eines warmen Herbstabends mit seiner vollkommensten Schönheit aus der Lagune entgegenstieg.
Als er sich, in einem Moment, da der Eindruck ihm besonders rein und mächtig schien, zu seinem Begleiter hinwandte, um sein Entzücken zu äußern, sah er diesen ganz ohne Teilnahme dasitzen, seine Taschenuhr in der Hand, die er mit einem ärgerlichen und gewissermaßen ängstlichen Ausdruck betrachtete.
»Diese Gondoliere,« sagte er verwirrt, als er Herrn Steingräbers Blick bemerkte, »wie die Schnecken ...«
»Aber was haben Sie denn?« sagte der Direktor lachend ... »Sehen Sie doch dorthin ...!«
»Ja, das hat Größe ...« Herr von Slozek antwortete mit nicht völlig freier Stimme.
Der Gondelführer hatte seine Bewegungen verlangsamt, um den Fremden Zeit zu lassen ... nun tat er einen Schritt vorwärts auf dem Schiffsschnabel, näherte sich so seinen Passagieren, beugte sich über Herrn von Slozek, der ihm zunächst saß, und begann, ausgestreckten Armes, mit plötzlichem Enthusiasmus irgend etwas Selbstverständliches zu erklären.
Hier aber wurde es Herrn von Slozek unmöglich, länger an sich zu halten ...
»So fahr doch zu, Dummkopf!« schrie er mit gutem venezianischem Akzent ...
Worauf sich der eingeschüchterte Gondoliere verstummt mit beiden Armen in sein Ruder legte.
»Schade,« sagte Herr Steingräber, der nicht verstanden hatte, »warum kann er nicht langsam fahren und dabei den Mund halten?«
Sie fuhren, in geringer Entfernung vom Ufer, am Hotel Britannia vorüber ...
»Nun, Herr Oberleutnant, wohnen Sie noch hier drin ...?«
»Leider nein,« erwiderte Herr von Slozek mit traurigem Lächeln, »– heute früh um acht bin ich ausgezogen.«
»Aber was war nun da wieder?« rief Herr Steingräber beinahe erschrocken. Er hatte leichthin und fast im Scherz gefragt.
»Ja ... neben mir im Zimmer wohnte eine alte Dame. Sie sehen mich fragend an, lieber Direktor? Ach, Sie Glücklicher wissen nicht, was es heißt, eine alte Dame im Zimmer neben sich zu haben? Um acht Uhr früh bin ich ausgezogen ... meine Sachen stehen beim Spediteur.«
»Aber heute nacht ...?« Der Stimme des Direktors war das Mitleid anzuhören.
Der Oberleutnant zuckte die Achseln ... »Sagen Sie: morgen früh. Ich bin ja ein rechter Nachtschwärmer ... Nun, es gibt schließlich Hotels genug, in denen man auch um drei, vier Uhr noch ein Bett findet ...«
»Ja, aber ...«
Doch Herr von Slozek fuhr mit unbeirrter Stimme fort: »Bloß, – da habe ich dann etwas Merkwürdiges, nein ... Es ist nicht besonders ehrenvoll, darüber zu reden ... Eine wahre Bettangst, das ist's. Ich fürchte mich, merken Sie wohl: ich fürchte mich, irgendwo in einem stillen Haus mit dem halbangekleideten Hausknecht die Stiege hinaufzugehen in ein unbehagliches, steifes Zimmer und mich da hinzulegen ... Es ist eine Angst, allein zu sein ...«
»Eine nervöse Sache ...«
»Ja, – und werden Sie mir glauben, daß zum Beispiel drei Viertel von allen meinen Dummheiten mit Frauen keine andere Ursache haben als eben diese »nervöse Sache« ...? Sie wissen selbst, daß die sogenannten »Abenteuer« alles andere sind, nur nicht amüsant ... Aber was wollen Sie: unsere Schwächen regieren unser Leben ... Meinen Sie denn, ich hätte jemals eine Karte angerührt, wären nicht solche bösen Nächte zu vertreiben? Das Spiel läßt mich ganz kalt, ne me dit rien, es degoutiert mich nicht selten ... und doch ... was habe ich hier in Venedig schon Karten gedreht! Und das Monströse ist,« fügte er mit Nachdruck hinzu, »ich gewinne eigentlich immer.«
»Nicht so unangenehm,« sagte Herr Steingräber.
»Das kommt auf die Umstände an ...! Sie erinnern sich an den kleinen Galap, – vorgestern in der Fenice. Es ist eine wirkliche Schande, was ich dem seit zwei Monaten abgenommen habe. Übrigens – er ist ein Narr, il s'emballe ... Trotzdem fängt es an, mich zu genieren ... Freilich« – er schlug den Blick auf – »ich verdanke den schlaflosen Nächten ja auch manches Gute ... Der vorgestrigen zum Beispiel,« fügte er hinzu, erhob sich und ließ mit einer liebenswürdigen Geste dem Direktor den Vortritt, denn die Gondel hatte vor dem Gasthof angelegt, in dessen Restaurant man speisen wollte.
Herr Steingräber schob seinen Arm in den des Offiziers. »Wir lassen uns irgendwo in einem Seitenraum servieren, wie?« fragte er, während sie auf dem roten Teppich des langen Vestibüls ins Haus hineingingen. »Vermutlich wäre es Ihnen auch nicht lieb, wenn uns irgendein Bekannter von mir drei Stunden lang mit Kuxen oder Patentgeschichten unterhielte ...?«
»Nein, es ist mir ganz recht eben draußen,« sagte Herr von Slozek, schien aber die kleinere Tür, die der Kellner bereits vor ihnen öffnete, nicht zu bemerken, sondern überschritt so rasch, daß der Direktor ihm eben nur folgen konnte, die Schwelle des Speisesaals.
›Wie unangenehm, man ist nicht einmal für den Abend angezogen ...‹ Herr Steingräber sah über die vielen Tischchen hin, die von Herren im Frack und von Damen in ausgeschnittenen Kleidern besetzt waren. Ein einziger brauner Straßenanzug nur ließ sich bemerken; er gehörte einem dunkelblonden Herrn, der allein vor seinen Tellern saß ...
Doch dieser Herr hörte auf zu essen ... Er stemmte, offenbar in höchstem Erstaunen, beide Hände gegen die Tischplatte und beugte sich dabei zurück. Dann aber sprang er auf, stieß seinen Stuhl zurück und hatte plötzlich Herrn von Slozek, der seinerseits mit einem frohen Ausruf stehengeblieben war, an den Händen erfaßt. Sie tauschten überraschte und sehr herzliche Grüße aus ...
›Ihn hat also das Schicksal ereilt,‹ dachte Herr Steingräber, ›es scheint ihn aber nicht sehr böse zu machen.‹ Und er betrachtete den Fremden.
Es war dem Anschein nach ein Mann Ende der zwanziger Jahre, auffällig groß von Gestalt und sehr schlank, mit einem schmalgeschnittenen Gesicht, das keine Spur von Bart aufwies und dem sogar die Augenbrauen völlig fehlten. Das dunkelblonde Haupthaar lag glatt an über der hohen, ganz schmalen Stirn, ließ aber, so dünn war es, bei der starken Beleuchtung des Saales die Kopfhaut deutlich durchschimmern ... Über seinem dunkelbraunen Sakkoanzug trug der junge Mensch eine lange, dünne, goldene Uhrkette, sie war um seinen Hals geschlungen und fiel bis zur Gegend des Magens herab.
»Aber das ist doch ein Wunder, das ist doch mehr als ein Wunder, sagen Sie selbst!« rief er, nachdem Herr Steingräber mit ihm bekannt gemacht worden war ... »Vorgestern reise ich von Riga ab und steige in Warschau in den Expreß ... Vor einer halben Stunde komme ich hier in das Hotel, ich lasse mir nicht die Zeit, mich umzukleiden, fange eben an, meine Suppe zu essen ... der erste Mensch, der zur Tür hereinkommt, muß mein Freund von Slozek sein. Merkwürdig, nein, merkwürdig!«
Er sprach mit stark baltischem Akzent. Als man dann, angenehm untergebracht in einem kokett hergerichteten Nebenzimmerchen, mit den ersten Gängen des Soupers fertig geworden war, erzählte er in dieser weichlich rollenden, ein wenig selbstgefälligen Sprechweise amüsant und mit liebenswürdiger Frivolität sogleich eine kleine Geschichte ... Er hatte heute im Zug, unmittelbar hinter Wien, eine amerikanische Dame kennen gelernt, eine ganz bewundernswert hübsche amerikanische Dame, ja ... Und für Freundlichkeiten nicht ohne Sinn, offenbar ... Man war sich nahegekommen während der langen Fahrt, niemand hatte das angenehme Beieinander gestört, die süßesten Ergebnisse schienen bereits gesichert ...
»Was aber passiert da,« sagt der Balte aufgeregt, »ja, was passiert? Sie nimmt plötzlich ihre Tasche, sie grüßt und geht ... Wissen Sie aber auch, wo das war? Nun, soll ich es Ihnen sagen, Herr Direktor? Dir, Slozek? In Pontafel war es ... Gott strafe mich, es ist dort nichts als ein österreichisches Zollhaus ...«
Und Doktor Paulsien nimmt ein Monokel aus der Tasche, klemmt es ein und beginnt mit dem Ausdruck äußersten Erstaunens die beiden Herren, einen nach dem andern, stumm und hilflos anzustarren. Das wirkt sehr komisch und die beiden Herren lachen ...
»Vielleicht, Paulsien, hat sie Landesverbot in Italien?«
»Wirklich, Herr Doktor, am Ende war es eine internationale Diebin, und sie wartet in Pontafel auf den Wiener D-Zug, um zurückzufahren ...«
»Wie nahe hat sie denn bei dir gesessen? Auf deinem Schoß? Sieh nur nach deinem Portefeuille ...!«
Und Doktor Paulsien faßt erschreckt nach seiner linken Brusttasche und nimmt, als er es noch an seinem Platze findet, das kostbare Behältnis sogar heraus, um, in fast übertriebener Sorge, sein Geld nachzuzählen. Ein ganzes Bündel Tausendlirescheine wird sichtbar.
»Oho,« sagt Herr von Slozek – »alles Gage vom Magistrat? Nicht übel ...«
Und mit ein paar geflüsterten Worten klärt er den Direktor darüber auf, daß sein junger baltischer Freund bei der Rigaer Stadtverwaltung als juristischer Beirat beschäftigt ist. »Die rechte Hand des Bürgermeisters,« sagt er mit einer Art von respektvoller Grimasse ...
Aber Doktor Paulsien schüttelt sein langes, schmales Haupt. »Nein, kein Gehalt,« antwortet er treuherzig, »Papa hat mir das alles aufgedrängt ... ›Mein Junge, hat er mir gesagt, ich sitze da auf meinem Gute und bleibe und bin zufrieden, – meine Ernten waren vortrefflich ... Wenn du nun fort willst und dich ein bißchen ausspannen, – du sollst reichlich haben, was du brauchst‹ ... Mein Vater ist der beste Mensch,« fügt er hinzu und bekommt beinahe Tränen in die Augen ...
»Es gibt andere Väter ...« Herr von Slozek bildet die Laute ganz hinten in der Kehle.
Doch der Balte schlingt ihm tröstend den linken Arm um die Schulter – ohne übrigens ein Hühnerbein, das er zierlich in der rechten Hand hält, auf den Teller zurückzulegen ... »Du leidest noch immer unter diesem Zerwürfnis, Kurt?« fragt er mit wahrhaft mütterlicher Stimme.
›Viel Empfindung die beiden, wirklich sehr viel Empfindung,‹ denkt Herr Steingräber, und ein wenig geniert erkundigt er sich eifrig nach den Umständen, unter denen die beiden Herren vormals Bekanntschaft geschlossen hatten. Er erfährt, daß das in Wien geschehen war, – Herr von Slozek hatte dort einen Urlaub verbracht, Doktor Paulsien ein Studienjahr, und ...
»Du warst nicht glücklich damals, Kurt ...«
»Nein, wirklich, Hugo ...«
»Und das hast du uns büßen lassen, mein Lieber,« rief der Balte, nun plötzlich im muntersten Ton, und schlug Herrn von Slozek auf die Schulter. »Jede Nacht saßest du über den Karten, mit einem so traurigen Gesicht, als wolltest du à tout prix dich selber ruinieren, – aber du hast uns ruiniert, beinahe ruiniert in zwölf oder dreizehn Nächten: Klittering, Rohlmann, mich, Galap ...«
Bei dem letzten Namen aber sprang Herr von Slozek auf. Er streckte den Arm vor, mit weitgespreizten Fingern, er öffnete den Mund ... Allein er sagte nichts, mit völlig verstörter Miene nahm er wieder Platz.
»Es geht wirklich zu Ende mit mir,« sprach schließlich seine gebrochene Stimme, und er schüttelte langsam den Kopf hin und her. »Diese Gedankenschwäche, diese Gedankenflucht ... das ist der Marasmus, es beginnt ...«
Der Balte war tief erschrocken ... »Aber was ist dir, Kurt?« fragte er, und seine Aussprache war noch weicher und war noch trüber gefärbt als sonst. »Du erschreckst mich, Kurt ...«
» Dire que j'ai oublié ...,« begann Herr von Slozek, auf französisch, was den mitleidswürdigen Eindruck von Verstörung erhöhte. »Denke dir, Hugo, ich vergesse, daß Galap hier ist, Victor Galap hier in Venedig! Ich vergesse, dir das mitzuteilen ...«
Aber nun war die Reihe, sich zu erregen, an dem Balten.
»Galap hier? Wo? Seit wann? Und du sagst mir nichts ...?«
Und man brach eilig auf, um Herrn Galap noch beim Konzert auf der Piazza anzutreffen, wo er jeden Donnerstag – und es war Donnerstag – an einem bestimmten Cafétischchen mit Sicherheit zu finden war.
*
Er war noch da und alsbald voll Seligkeit. Doktor Paulsien wieder einmal im Leben zu begegnen, schien, so betrug er sich, immer seine strahlendste Hoffnung gewesen zu sein, und es hätte höchstens befremden können, daß diese Begeisterung ihn offenbar nicht dahin vermocht hatte, während der Zeit des Getrenntseins irgendeine Verbindung zu suchen oder aufrechtzuerhalten ... Sehr bald indessen fanden sich beide Parteien aus lautem Enthusiasmus in vollkommene Ruhe zurück. Ja, was Herrn Galap anbetrifft, so bemerkte der Direktor nicht ohne Wohlgefallen, um wieviel zurückhaltender und bescheidener er sich betrug, als sein erstes Auftreten im Theater hätte vermuten lassen. Kein einziges Mal sogar gebrauchte er, wenn er außer seinen Freunden auch den Direktor meinte, die Anrede »Ihr« ...
Als die Musik verschwunden war und der Platz anfing sich zu leeren, brach man auf und schickte sich an, auf einem kleinen Spaziergang die schöne Nacht noch ein wenig zu genießen. Man ging paarweise, voraus der Direktor mit Herrn von Slozek, hinter ihnen, sogleich in größerem Abstand, die beiden anderen ...
»Nun, Herr Direktor,« sagte der Offizier, während sie die Piazzetta überschritten, »wie gefallen Ihnen meine Freunde?«
»O, recht gut, recht gut ...«
»Sie sind nicht eben glücklich, die beiden ... Paulsien wenigstens nicht, er nicht,« fügte Herr von Slozek hinzu, – es wurde ja wohl ein wenig viel des unbestimmten Elends.
Doch auf dem Ponte della Paglia blieb er stehen und atmete schwer auf ... Herr Steingräber lehnte sich neben ihm an die Brüstung, und sie blickten auf das dunkelglänzende Wasser des Rio di Palazzo und auf den flachen, gedrungenen Bogen der Seufzerbrücke ...
Herr von Slozek sagte, auf die Balustrade gestützt, während ganz hinten, bei den Markussäulen noch, die Schatten des andern Paares zögerten, verweilten:
»Haben Sie die Gefängnisse gesehen, Herr Direktor? Nein, nicht hier rechts die modernen, in denen zwanzig Meter von uns und von der wundervollen freien Nacht eben jetzt die Gefangenen sitzen, sondern hier, hier« – er wies nach links hin – »die Kerker unten im Palast, die das Volk in der Revolution zerstört hat und von denen nur noch drei oder vier als Beispiele da sind ... Nein? Sie haben einen großen und schrecklichen Eindruck versäumt.«
»Stellen Sie sich einen nackten Steinsarg vor,« fuhr er mit leiser und scharfer Stimme fort, »einen nackten Sarg, zwei Schritt breit und einen hoch, mit Mauern so dick, so dick ... Stellen Sie sich vor, daß man Sie dort, auf irgendeine anonyme Denunziation, hineinstößt ... ganz plötzlich, ganz heimlich, ohne daß Ihnen irgendein Mensch sagt, warum das geschieht ... Es ist dunkel dort. Sie sind allein, so elend allein ... Sie schreien ein paarmal, aber der Schrei geht unter an den starken, unbehauenen Wänden, – Sie hämmern gegen die Steine, aber das gibt kaum einen Laut, und Sie fühlen im Dunkeln, wie Ihr warmes Blut Ihnen von der Faust fließt ...«
»Oh,« sagte der Direktor ...
»Ja, Sie fühlen es nur, denn Licht haben Sie nicht ... Als ich dort herumgeführt wurde, hatte der Aufseher eine Idee, – vielleicht macht er es auch bei jedem Fremden so: er drehte, als ich mitten in der Zelle stand, plötzlich das elektrische Licht ab ... Ich bekam einen Begriff. Ich erschrak sehr ... Denken Sie, denken Sie ... Da ist der Gefangene nun ganz allein, er tastet im Dunkeln, um wenigstens einen Sitz zu finden, er findet keinen ... Er will sich Bewegung machen, mit raschen Tritten hin und wieder gehen, denn so kommen trostreiche Gedanken, – aber die Zelle ist viel zu kurz dazu, er rutscht auch aus auf dem schlüpfrigen Boden. Und alles was sich ihm darbietet, ist ein Bett ...
Ja, ein Bett ...! In einer Ecke findet er, um des Nachts seinen Kopf darauf zu legen, einen etwas erhöhten, eingemauerten Stein am Boden – oh, keinen barmherzigen Stein, der schräg nach oben liefe, der es ihm erlaubte, sich einen Augenblick lang auf seinem Kopfpolster zu glauben ..., sondern einen ganz unglaublich tückisch behauenen Block, der dort, wo der Arme sich aufstützt, steil und eckig sich erhebt und ihm in den Nacken schneidet ... Das aber ist der erste Abend für den Gefangenen. Unzählige Nächte wird er ohne Hoffnungen daliegen ... das ist es ja, das Schrecknis der Zeit, was sich gar nicht ausdrücken läßt ... er wird daliegen und mitunter, wenn ein Fest beim Dogen gefeiert wird, auf das undeutliche Geräusch leichter und froher Tritte hören, während eine finstere Krankheit schon unterwegs zu ihm ist, irgendeine scheußliche Krankheit, an der er ohne Arzt und Pflege leiden und an der er wahrscheinlich ganz im stillen verenden wird ...«
Der Offizier atmete stöhnend ...
In diesem Augenblick erschienen Galap und der Balte auf den Stufen der Brückentreppe, und außer sich vor Wut, alles vergessend, schrie Herr von Slozek: »Was kommt ihr daher? Ich habe zu reden mit dem Direktor, – sperrt eure Augen auf!«
Aus seiner ergriffenen Versunkenheit auffahrend, starrte der Direktor mit jähem Mißbehagen in das verwandelte Antlitz ... Aber dann glaubte er an die Gereiztheit einer Dichters, der gestört wird, und sprach, jenes Arm in seinem, beruhigend auf Herrn von Slozek ein, während das Paar langsam die Treppe der andern Seite hinabstieg und über die Riva degli Schiavoni voranschritt.
»Sie sind wirklich ein Dichter,« sagte Herr Steingräber, »ja, Sie sehen das alles mit den Augen eines Dichters an, für den die Vergangenheit so lebendig wird wie das, was er mit seinen Händen fassen kann ...«
Herr von Slozek warf ihm einen schnellen Seitenblick zu.
»Es ist unfaßlich,« sprach er mit leidender Stimme, »wie wir es fertig bringen, neben so unsagbar Schrecklichem dahinzuleben ...«
»In Wirklichkeit ist es ja doch vergangen, lieber Slozek ...«
»Nichts ist vergangen ... Schleier und Schein sind Zeit und Ort, und alles Elend schreit von Ewigkeit zu Ewigkeit ... Und nur darum vermögen wir ja die Erinnerungen an vergangene Schrecknisse so leichten Sinnes zu ertragen, weil der Ring um unsere Seele her so eng ist, so erbärmlich eng ... das ist es.«
»Wir dürften,« sagte er dann noch, mit trockener Stimme und langsam, als besänne er sich, »wir dürften nicht ruhig schlafen in unsern Betten, während in Persien irgendwo ein Tier gequält wird, sozusagen ...«
»Ja ...,« antwortete Herr Steingräber ein wenig gedehnt. Herr von Slozek zuckte bei diesem Ja ärgerlich mit der Nase, sagte aber mit Leichtigkeit und lachend:
»Übrigens, – ich weiß ja gar nicht, wo ich für meine Person heute nacht ein Bett finde, um über dieses Tier in Persien nachzudenken ...«
»Ach Herrgott, das ist ja wahr,« rief Herr Steingräber. Es war nur für den Augenblick ein kritisches Gelüst in ihm aufgestiegen, – noch immer war er benommen von dem, was er gehört hatte ...
Sie stiegen, den anderen nach, die Treppe hinunter. Doktor Paulsien schwenkte schon von weitem seinen langen Arm und rief etwas Unverständliches ... Als man beisammen war, faßte er den Offizier an der Achsel: »Weißt du auch, mein Lieber, was Galap und ich beschlossen haben? Nein? Du ahnst nichts?«
»Nichts,« antwortete Herr von Slozek.
»Daß wir heute nacht Revanche spielen ... Wenn wir dir fünfzehntausend Lire abgenommen haben, wollen wir es genug sein lassen ... Es ist noch nicht einmal die Hälfte ... Einmal muß es ja wohl sein. Und dann darfst du ins Bett ...«
Herr von Slozek lachte. »Ich habe gar kein Bett für heute nacht ... Aber das mit dem Spiel ist natürlich Unsinn. Wir werden noch länger zusammen sein hier in Venedig. Und übrigens ... es wäre Herrn Steingräber gegenüber mehr als unhöflich. Ein anderes Mal.«
An dieser Stelle griff der Ungar ein. »Warum denn ein anderes Mal und nicht heute? Du kannst bei mir schlafen hernach, ich habe einen Schlafdiwan, großartig ...«
»Und was den Herrn Direktor anbelangt,« fuhr Doktor Paulsien auf baltisch fort, »... vielleicht machen Sie ganz einfach mit? Ein kleines Bakkarat ...«
»Kann Ihnen ja überhaupt gar nicht imponieren, als Weltmann ...« Dies war Galap, – er empfing für seine Bemerkung insgeheim einen unfreundlichen Blick des Oberleutnants.
»Zwar – man weiß wahrhaftig nicht, wo man sich niederlegen soll,« sprach nun dieser mehr zu sich selbst ... Und lauter, halb klagend, halb im Scherz, sagte er zu dem Direktor: »Das sind so die Versuchungen, sehen Sie!« Dann setzte er lebhafter hinzu: »Sie können sich gleich einmal von meinem Glück überzeugen ... feststellen, daß ich nicht aufgeschnitten habe. Mitzutun – davon rate ich Ihnen geradenwegs ab. Die beiden Herren da werden später auch ein bißchen zornig sein über ihre ›Revanche‹ ... Was meinen Sie also, Herr Direktor?«
»Nun, ich komme mit. Sie machen mich ja neugierig,« erwiderte Herr Steingräber, und paarweise, wie zuvor, wandte man sich zum Molo zurück, um dort eine Gondel zu nehmen ...
Die Gondel landete, nach einer vielleicht halbstündigen Fahrt, die ziemlich schweigsam verlief, an einem gleichgültig aussehenden, entweder nicht alten oder oft renovierten Haus, das nach des Direktors flüchtiger Mutmaßung nahe bei San Giobbe und dem Bahnhof gelegen sein mußte. Nachdem von einer alten Frau geöffnet worden war, erstieg man zwei wohlbeleuchtete, mit roten Läufern belegte, schmale Treppen und gelangte durch eine unverschlossene Tür in Herrn Galaps mäßig großes, trotz der Oktoberwärme schon kräftig geheiztes Wohnzimmer.
Auf dem Tisch in der Mitte stand hier, bereits angezündet, eine mit gelber Seide verhängte Lampe, die ihren Schein über eine Garnitur grüner, symmetrisch umherverteilter Plüschmöbel breitete, über einen etwas schiefgezogenen, nicht sehr reichlich gefüllten Blumentisch aus Metall und über zahlreiche Damenphotographien, die sämtlich kunstvolle Frisuren, breite Gesichter und bedeutende Décolletés aufwiesen.
»Man nimmt an Wohnungen, was man bekommen kann, Herr Direktor, haha,« bemerkte Galap, und dann begab er sich durch das anstoßende Zimmer – sein Schlafzimmer? – nach außen, um eine Erfrischung zu befehlen.
Er kam zurück in Begleitung einer vielleicht fünfzigjährigen Person von robustem Aussehen, die auf einem Tablett eine Flasche, Gläser sowie eine Schachtel mit Zigaretten vor sich hertrug und die keineswegs grüßte ...
»Wünschen sonst noch etwas?« fragte, sie, nachdem sie ohne weitere Umstände alles niedergesetzt hatte. Sie fragte auf deutsch, mit einem Akzent, wie er sich nur in gewissen östlichen Teilen der österreichischen Monarchie erlernt.
»Eine Landsmännin wohl, Herr Galap?« fragte der Direktor verbindlich, während die Frau sich entfernte und schallend die Tür zuschlug. »Das ist angenehm ...«
Doch Herr Galap antwortete kaum. Er hatte eingeschenkt und beschäftigte sich nun, seine feurigen Augen konzentrierten Blicks gesenkt, mit den Karten, die er »mischte«, »schnitt«, wieder »mischte« und wieder »schnitt« ...
»Ich denke, das genügt,« sagte er endlich, – »wollen abheben?«
»Danke,« sagte der Direktor.
»Wer nimmt zuerst die Bank? Du, Slozek? Ist nur eine Anstandspflicht ...«
»Wir müssen Herrn Direktor fragen,« gab der Balte mit weichen Tönen zu bedenken.
»Danke, danke. Es ist im wesentlichen ja eine Affäre zwischen Ihnen, meine Herren. Ich bin nur so ein bißchen dabei als Outsider ...«
Und Herr Steingräber lehnte sich behaglich im Sessel zurück, mit einer Zigarette, die er aus der Schachtel genommen und angezündet hatte ... ›Aber pfui,‹ dachte er, ›wie schmeckt denn das Zeug ... es ist scharf und parfümiert zugleich – nein danke ...‹ Er legte die Zigarette verstohlen weg.
In diesem Augenblick erst bemerkte er auch, welch ein fader, süßlicher Geruch im ganzen Zimmer herrschte. Er hatte ein ganz leichtes Gefühl von Übelkeit zu bekämpfen, trank einen großen Schluck von dem Weißwein, dessen kratzender Geschmack ihn husten machte, und beschloß, sich nicht allzulange aufzuhalten ...
Herr von Slozek nahm die Karten: »Fünfhundert in der Bank.«
»Nun also, – um anzufangen,« sagte der Direktor, indem er zwei Scheine hinlegte, und dann deckte er die Acht auf.
»Nicht schlecht für den Anfang,« rief er lachend. »Na, jetzt werde ich vernünftig.«
Herr von Slozek hatte auch drüben verloren.
»Noch einmal fünfhundert,« gab er an. Doch als die Karten schon nach beiden Seiten hin verteilt waren, hielt er sie fest ...
»Halt,« sagte er. »Ich erlaube mir eine Gewissensfrage ... Ich möchte den Barbestand der Herren kennen. Hier sind noch fünftausend ...« Und er schlug auf die Brieftasche, die neben ihm lag. »Verzeihen Sie, Direktor! Nun, Galap?«
Galap sagte: »Dreieinhalb Mille.«
»Hm,« bemerkte Herr von Slozek. »Du, Paulsien?«
»Zehntausend, warum?«
»Und darf ich mir erlauben ...?«
»Auch ungefähr so viel,« antwortete Herr Steingräber in schon wieder besserer Laune, »ich habe ja bei meiner Frau Benasseni nicht einmal einen Kasten, den ich ordentlich verschließen kann, und muß also alles herumschleppen, – aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich hier ohne mein Hemd weggehen werde ... Man muß aufzuhören verstehen ... Wollen Sie eine Geschichte aus Ostende wissen, die mir selber als ganz jungem Menschen einmal passiert ...?«
Aber Herr von Slozek schien nicht dazu aufgelegt, sich Geschichten erzählen zu lassen.
»Bitte, nach dem Spiel,« sagte er kurz, und der Direktor, der ihn ziemlich erstaunt betrachtete, machte zum erstenmal die Beobachtung, daß Herrn von Slozeks Kinn, dieses unbestimmt zurückweichende Kinn, Kontur und Ausdruck zeigte.
»Nein,« rief Doktor Paulsien gedehnt, als der Offizier fünfmal seine Bank erneuert und stets verloren hatte, »nein, so etwas erlebe ich bei Gott zum ersten Male mit ihm.«
» Dies irae, dies illa«, sagte der Direktor und lachte wieder, obgleich mit kürzerem Ton, aber niemand stimmte mit ein. Dies verdroß Herrn Steingräber.
Er dachte: ›Ich bin mit den Leuten nicht hergekommen, um Geschäfte zu machen, verdammt noch einmal ...‹
Laut bemerkte er: » Messieurs, ich habe da siebenhundertfünfzig Francs gewonnen. Wenn man mir die Bank lassen will, so nehme ich sie mit diesem Betrag.«
Er übernahm die Bank und gewann. Zwar verringerten die drei Herren ihre Einsätze, doch immerhin lagen nach wenigen Schlägen über zweitausend Francs in Gold und Banknoten vor seinem Platz.
»Man sieht ihre blinde Hoheit, die Kausalität, selbst ein wenig am Werk, wie, lieber Slozek ...?« Dies war ein letzter Versuch.
Herr von Slozek schwieg. Sein Kinn hatte einen vollkommen willensstarken Ausdruck angenommen, Muskeln spielten an seinen Wangen, die weniger fett erschienen. Die Nase war ein Geierschnabel, ohne alle Einschränkung ...
›Nein, mein Lieber, am Spieltisch bist du nicht zu gebrauchen,‹ dachte Herr Steingräber, und er dachte es so intensiv, daß sich bei dem Gedanken seine Lippen bewegten, ›aber ich will hier nicht Tausende wegtragen ...‹
Er fuhr fort Karten auszuteilen und verlor Schlag auf Schlag, nach beiden Seiten hin. Nun lagen noch dreihundert Lire vor ihm.
»Also, das hier noch ...«
Gleichgültig und durch die Kartenbilder ein wenig ermüdet, ließ er seine Augen auf die Tischdecke und dann nach abwärts gleiten, dorthin durch Zufall, wo im Licht der Lampe Herrn von Slozeks rechtes Bein aufreizend bequem über dem linken lag. Zuerst sah der Direktor ohne Blick auf den amerikanisch gekrümmten Lackschuh, der ihn fast berührte, plötzlich aber trat Bewußtsein in sein Auge ...
Waren das noch dieselben dunkelblauseidenen Socken, die Herr von Slozek an jenem Abend im Theater getragen hatte ...? Es schien so. Aber man trug im Grunde seidene Socken nicht so viele Tage ... Unwillkürlich beugte er sich, spähend, ein wenig auf seinem Stuhl zurück ...
Ja, da war auch noch das Loch, das sympathische kleine Loch an der Ferse, das auf Vereinsamung und Unbetreutheit schließen ließ ... Und es war groß geworden, das Loch, es erstreckte sich offenbar über die ganze Ferse ... denn bei der geringsten Bewegung des Fußes erschien oberhalb des hinteren Schuhrandes ein Stückchen Haut ...
›Ob ich am Bahnhof wohl noch eine Gondel finde ...?‹ Herr Steingräber ließ mit einer plötzlichen Bewegung die Karten aus der Hand gleiten. Er erhob sich halb und sagte mit einem flüchtigen Lächeln: »Verzeihen Sie, meine Herren, für mich ist Schluß. Sie nehmen mir's wohl nicht weiter übel, wenn ich die Kröten da mitnehme, wie? Ich bin kaput, schläfrig ... Amüsieren Sie sich noch recht gut zusammen!«
Und ohne jemand von den dreien anzusehen, stand er vollends auf und wandte sich, dem Tisch den Rücken zukehrend, zum Kleiderständer. Das Gesicht nach der Wand, legte er seinen Überzieher an und machte dann wieder kehrt, um sich von den Herren zu verabschieden ...
Aber die drei Herren waren verschwunden ... An ihrer Stelle gewahrte der Direktor drei Tiere, drei reißende, böse Bestien, die, sprungbereit, ihrer Beute gewiß, mit scheußlichem Hohn ihn lautlos betrachteten ... Ob er sich vielleicht einbildete, hier entrinnen zu können ...?
»Du willst also nicht dableiben, mein Junge?« sagte endlich mit einer heiseren und vergnügten Stimme die eine Bestie, die von dem Direktor immer Herr von Slozek genannt worden war ...
»Er wird müssen, haha,« rief die zweite, die mit ihrer frech vornübergebeugten, verächtlichen Haltung nun auch einen recht schrecklichen Eindruck machte.
»Ich ...,« sagte der Direktor.
»Du ...!« schrie der frühere Herr von Slozek, – und er schrie es plärrend, nachäffend, und ließ sogar die Zunge ein wenig heraushängen bei dem einen Wort, das mit Gemeinheit durch und durch getränkt war ...
»Du ...!« brüllte er noch einmal und machte stiere, glotzende Augen, während er brüllte ...
Aber was nun folgte, war kaum mehr als ein einziger Schlag, war ein fast gleichzeitiges Gewirr von Gesten, ein rasendes, blitzschnelles Ineinander ...
Herr Steingräber nämlich, dem für einen Augenblick nahezu das Bewußtsein geschwunden war, vor Schrecken nicht sowohl als vor einer ungeheuer plötzlichen, kaum faßbaren Einsicht, – Herr Steingräber bemerkte, zum Denken zurückkehrend, daß das dritte Tier, das kleine, glatte, widrige mit den glänzenden Augen, im Begriffe war, sich zwischen seinem Rücken und der Wand hindurchzuschleichen ...
Wollte es ihn von hinten fassen, wollte es zur Tür, um den Riegel vorzustoßen? Herr Steingräber machte eine Wendung, sah ihm in die Augen ... Es wich ein wenig zurück, blickte sich nach Beistand um ...
Und er, der Denker, der Melancholiker, der Nervenkranke, den die Wanduhr störte – Herr Steingräber erinnerte sich unbegreiflich rasch an all das –, er bewegte sich nun vorwärts, er stieß ein abscheuliches Lachen hervor, schob die Ärmel seines Jacketts ein wenig zurück ...
»Komm, mein Jung'!« sagte er, und seine Stimme klang durchaus nicht anders, als habe er sein Dasein in einer Hamburger Hafenkneipe verbracht – durchaus nicht anders ...
Und Herr Steingräber kam ... Mit einem Wutschrei stürzte er auf ihn zu und schlug ihm mit beiden Fäusten mitten ins Gesicht. Der andere taumelte, stolperte zurück ... Herr Steingräber sah das nicht mehr.
Er ward von hinten ergriffen, er schlug wie rasend mit den Füßen aus, um ihn drehte sich das Zimmer, er schloß die Augen ... Irgendwo packte er einen Arm mit beiden Händen und bog ihn, toll vor Zorn und vor Grauen ... Er hörte ein Geräusch wie von zerbrechenden Knochen, er spürte im Nacken einen Schlag, warf sich nach rückwärts ... durch die Tür ... die Stiegen hinunter, blindlings ... Eine Stimme gellte durchs Haus. Türen schlugen krachend zu ...
Unten, schon gegen das Ende der Stufen, kam ihm jemand entgegen, – jemand stieg langsam die Treppe herauf.
Es war nicht möglich anzuhalten. Herr Steingräber umfaßte eine weiche Gestalt, wäre fast mit ihr im Arme hingestürzt, sprach »Pardon« und griff an sein bloßes Haar, um den Hut zu ziehen ... Zerbrochenes Glas klirrte auf den Stufen ...
Ja, es war ein halbnacktes Frauenzimmer gewesen, mit Gläsern und einer Flasche ... O, Gott sei Dank, – es galt nur, an der Kette zu ziehen, das Tor ging auf ... Er war draußen, er rannte durch die Galerie davon ... Hinter ihm, nicht fünf Schritt hinter ihm, stürzte ein schweres Etwas, ein steinernes Etwas von hoch oben auf das Pflaster nieder und zersplitterte knallend ...
Und er rannte, rannte – über eine Brücke, eine Gasse hinunter, über noch eine Brücke ...
Er rannte zuerst aus einfacher Furcht, aus nachträglicher körperlicher Furcht ..., weil ihm die grinsenden Fratzen der Drei gräßlich vor den Augen tanzten, – weil er ihm entlaufen wollte, unendlich weit entlaufen, diesem tödlichen Frauenhaus, aus dem ihn ein Anfall von taubblinder Wut wie ein Wunder hatte entrinnen lassen ... Er wollte fliehen, immer fliehen ... er stieß sich wund an den Ecken, er fiel auf einer Brückentreppe, – die Vorstellung, daß seinem Lauf Grenzen gesteckt seien auf diesen Inseln, daß er nicht das Meer durchrennen könne, um in die feste Ebene hineinzufliehen, machte ihn verzweifelt ... Er war rasend vor Angst, so wie er vor Wut rasend gewesen war ... Nahe beim Bahnhof überquerte er, nach irrem Laufen, den Canale Grande, ohne es recht gewahr zu werden.
Aber auch als ihn endlich seine Furcht verließ, als er vielleicht schon wieder imstande gewesen wäre, einem neuen Angriff mit Stärke zu begegnen, auch da verminderte sich sein Verlangen nach Schnelligkeit noch nicht, auch da noch setzte er stürmenden Fußes seinen Weg fort, durch ganz unbekannte Gegenden, wie ihm vorkam, – in Wahrheit zweimal dicht an seiner Wohnung vorübereilend ... Und er war glücklich, als nach dem krummen Hin und Her endlich beim Zattere-Ufer freier Raum für seine erregten Schritte sich auftat ...
Endlich, wider Willen gezwungen vom Blut, das wild in seinem Schädel sauste, hielt er an und nahm dumpf wahr, daß er nicht sicher auf seinen Füßen stand ... Er runzelte die Brauen und blickte, um sich zur Sammlung zu nötigen, starr vor sich hin ...
Das Wasser des Giudecca-Kanals war regungslos, ein paar Barken mit eingezogenen Segeln lagen da und dort am Ufer ...
›Ja,‹ dachte er ›drüben auf der Giudecca gibt es ein paar Fabriken. Es sind aber nicht viele ... In Venedig lebt man von den Fremden ... Venedig ist eine dunkle Pracht, eine dunkle Pracht ... Und die Venezianer denken: Gut also, unsere Stadt ist eine Attraktion für die Fremden. Mögen sie nur kommen und in die Museen und in die Palazzi laufen – merkwürdig, daß sich jemand für das langweilige Zeug interessiert. Aber schließlich, – wenn es uns Vorteil bringt ... Zweifellos, das dachten die Venezianer ...‹
Und plötzlich wurde seine Benommenheit zerrissen durch einen Schrei ... In seiner Erinnerung klang jenes fürchterliche »Du« auf, das plärrende, mit Gemeinheit überfüllte »Du«, das ihm einer ins Gesicht gespien, mit dem ihm ein Verworfener die unnütz gewordene, lästige Maske vor die Füße geschleudert hatte ... Da, du Schafskopf, hast du deine Sterne und dein weltumspannendes Gefühl und deine menschliche Enge ... Du bist in einem netten kleinen Venezianer » ...«, und rückst du nicht gleich mit deinem Speck heraus, dann schneiden wir dir die Gurgel ab und schmeißen dich in den Kanal ...
Ja, was waren hiernach alle Erlebnisse, was waren nun noch alle Ereignisse der Welt, gegen deren Größe unempfindlich zu sein er sich schuld gegeben hatte? Was verschlug es jetzt, ob irgendwo eine verschüttete Stadt aus der Lava gegraben wurde ..., ob es in Indien Büßer gab, so heilig, daß sie das Wasser zu beschreiten vermochten, – was frommte es noch, sich der Größe des Meeres und der Gestirne hinzugeben, wenn das alles nicht mehr war als ein Mittel, dessen sich ein Betrüger, irgendein ganz gewöhnlicher Beutelschneider, mit Geläufigkeit bedienen konnte, um seine Leute zu ködern ... Wenn niedrige, häßlichste Gewinnsucht so weit und groß war, daß alle Träume und Gedanken in ihr Platz fanden und ihr dienten, dann lohnte es sich wahrlich nicht mehr, einen einzigen Blick vom Boden aufzuheben ...
Hätte ihn jemand in dieser Minute danach gefragt, Herr Steingräber hätte sicher geleugnet, daß er der Urheber dieser verzweifelten Idee sei. Er stand da, und die verzweifelten Ideen zogen durch ihn hindurch wie durch ein Tor, und es war ihm zumute, als sei ein ganz anderer gezwungen, so grauenhafte und übrigens unklare Schlüsse zu ziehen ... Es fror Herrn Steingräber sehr.
Ihm fiel ein, was er den Menschen an diesem selben Abend – noch keine drei Stunden war es her – auf dem Ponte della Paglia hatte sagen hören ... Seine Worte über die unterirdischen Kerker waren durchaus dazu angetan zu ergreifen ... Sie waren gut, wahrhaft gut, eine Art von Größe war in ihnen ... Dieser Bube hatte empfunden, was er aussprach, kein Zweifel ... kein noch so geringer Zweifel. Ja ... er hatte bewiesen, daß man dergleichen empfinden kann, empfinden wie ein Dichter und dabei ein Elender sein, ein Räuber, ein Halsabschneider ... Der Mensch hätte Erziehung, hätte Geist genug gehabt, um es selbst auszusprechen ... »Weißt du,« hätte er Herrn Steingräber zu fragen vermocht, »weißt du, was ich bin? Materia triumphans. Das bin ich. Ich bin der lebendige Beweis dafür, daß dieses Wesen Mensch, das den Himmel und die Erde umspannt und den Himmel und die Erde ausspricht, daß dieses Wesen zusammengehalten ist durch eine Kruste der niedrigsten Roheit. Daß das Himmelslicht, mit dem wir, aus ganz unbekannten Gründen, erhellt sind, in einer stinkenden Höhle voll von Unrat brennt ...«
Herrn Steingräber schien es, als offenbare sich ihm da, fernher, ein sehr tiefes und furchtbares Geheimnis ... Er hatte sich auf den Heimweg gemacht, doch auf dem langen Campo Margherita, wo sein Haus lag, hielt er noch einmal an und begann dann langsamen Schrittes auf und ab zu gehen ...
Er dachte, stoßweise, und indem er bei jeder neuen Erkenntnis stehen blieb: ›Das also war die plötzliche Begeisterung für die Villani und für die Gondeltreppe am Theater ... Er wurde lyrisch – ich sollte den Ungarn kennen lernen ... Und wodurch in aller Welt habe ich ihm dann so deutlich verraten, was mich innerlich beschäftigte ...? Ich muß ja kindisch offen gewesen sein. Auf der Fahrt von San Michele her sah er jede Minute auf seine Uhr, – er wollte den Balten nicht versäumen ... Wie lächerlich bin ich sein dupe gewesen ... Doch nein, ich will mich nicht schämen! ... In seiner Rede am Dogenpalast aber schien das Herz der ganzen Welt zu schlagen, – das Herz der ganzen Welt schlug wirklich darin ... Und dennoch sprach er einzig und allein, um mich vollends einzufangen. Zu Hause (haha »zu Hause«!) waren schon die Karten für das Bakkarat markiert ... oder nein, das lohnte nicht der Mühe ... man würde mich einfach niederschlagen ...‹
»Einfach niederschlagen,« wiederholte er laut und stand da mit trockenem Munde und starren Augen. Endlich ging er auf sein Haustor zu.
Er fühlte sich matt, wie einer, der von einem beschwerlichen Marsche zurückkommt, und stieg nicht ohne Mühe die Treppen hinauf.
Aber seine Tür stand weit offen ... ›Man ist gleichzeitig auch hier gewesen,‹ sagte er sich sofort, ohne alles Erstaunen ...
Und er hob beim Schein des angezündeten Wachsfadens eine Karte auf, die leicht an der Schwelle befestigt war. Diese Karte trug die Zeichnung einer Hand, – die Hand war ungeschickt mit blutroter Tinte bemalt.
»Recht kindliche Allüren,« sagte er vor sich hin, zündete die Lampe an, und ehe er noch seinem Eigentum einen musternden Blick gönnte, betrachtete er den Fund genauer.
Es war aber wirklich nichts Besonderes. In der linken oberen Ecke standen mit einer Art von Köchinnenhandschrift die Worte: »Rote Faust« zu lesen, die Rückseite zeigte auf französisch die Anpreisung einer Hautcreme und ließ erkennen, daß man sich zu dem blutigen Memento einer Geschäftsanzeige von Roger u. Gallet bedient hatte.
Dann wandte sich Herr Steingräber zu seinem Schrank ... Auch er stand offen, aber nichts fehlte. Nur war an den Westen seiner Anzüge das Innenfutter säuberlich aufgetrennt. Ja, es hatte sich um korrekte Halunken gehandelt, um Halunken übrigens, die noch keinen Fünflireschein erbeutet hatten ... Zeit mußten sie im Überfluß gehabt haben, – ohne auch nur die Hausfrau zu stören, hatten sie das Zimmer einfach aufgeschlossen, mit dem Schlüssel, der draußen unter der Matte lag.
Er entkleidete sich und streckte sich unter den Decken aus, beruhigt offenbar darüber, daß sein Abenteuer sich nicht etwa mit einem zweiten Einbruch erneuern würde ... Ohne dieser Möglichkeit auch nur einen Gedanken zu schenken, fiel er bei unverschlossener Tür in einen tiefen Schlaf ...
*
Als er aufwacht, ist es halb zehn Uhr. Er besinnt sich einen Augenblick, springt aus dem Bett, sucht das Kursbuch hervor und stellt fest, daß ein für ihn passender Zug kurz nach zwölf abgeht ...
Wie er, um einzupacken, seinen großen Koffer aufschließt, kommen ihm ein paar gelbgeheftete Bücher in die Hand, die dort, teilweise noch unaufgeschnitten, während der ganzen Zeit gelegen haben ... Er steckt sie in die Handtasche, zu den Gegenständen, deren er auf der Fahrt bis nach Berlin zu bedürfen glaubt.
Eine Gondel wird geholt ... Koffer, Handtasche und Plaid werden die Treppe hinuntergeschafft, aus einem Fenster hoch oben grüßt Frau Benasseni ...
Der Weg zum Bahnhof ist nicht sehr weit, – dort liegt die Frarikirche, dort kommt schon das letzte Brückchen vor dem Kanal ... Niemand zeigt sich, niemand überschreitet die kleine Brücke, niemand zeigt den graziösen Schwung des Emporgehobenwerdens und des Hinabsinkens ...
Da ist ein Hund. Ein Hund läuft über die Brücke, er ist ganz allein. Er steigt gemächlich die Stufen hinauf und geht langsam über den hohen Bogen ... Seinen Abstieg zu sehen ist unmöglich, schon durchfährt die Gondel das Brückenjoch, und wenn sie wieder hervortaucht, wird er in der Gasse verschwunden sein ...
Er war so groß wie ein deutscher Schäferhund. Aber er kannte sich aus, das Terrain erschreckte ihn nicht ... Er überschreitet die Brücke wie jemand, für den das Land keine Wunder birgt ... Er hat in Mecklenburg Hasen gejagt, und vielleicht war das amüsanter als hier zwischen Steinen und Wasser beschäftigungslos einherzutrotten ... Doch wenn sich Menschen darauf kaprizieren, möglichst unbequem und verzwickt mitten im Wasser zu wohnen, und wenn sein Herr und seine Herrin hinreisen müssen, um sich das anzusehen, – ihn soll das nicht verblüffen. Am Tage und am Abend geht er bereits allein aus und amüsiert sich, so gut es bei der mangelhaften Gesellschaft sich machen läßt. Er wendet nicht mehr den Kopf nach den schwarzen Kästen, die vorüberfahren ... er läuft seines Wegs. Bei der vierten Tür rechts wird er laut bellen, damit man ihm öffne ... Das Leben ist nur für den kompliziert, der es selbst dazu machte ...
Da ist der große Kanal, da kommt der Bahnhof. Auf den freien Platz vor der Halle brennt die Sonne herunter ... Getümmel herrscht ... Am Kai stoßen sich die bepackten Wasserdroschken ... Zeitungsjungen brüllen ... Es pfeift ein Zug.
Mit Erlaubnis des Verlages Albert Langen in München dem Novellenband »Flüchtlinge« von Bruno Frank entnommen.