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Auf dem sogenannten Trieb bei Gießen, rechts von der Straße nach Grünberg, sah man noch vor wenigen Jahren eine Fläche von vielen Morgen, die mit Eichen bepflanzt war; aber merkwürdigerweise hatten die Bäume alle keine rechte Kraft, keinen frischen Saft, und ihre Wipfel waren dürr. Das war einem Fluch zuzuschreiben, der auf den Bäumen lag.
Vor vielen, vielen Jahren, so berichtet die Sage, tauchte nämlich ein fremder Mann in Gießen auf, der weinend und wehklagend sein Weib und seine Kinder suchte. Damals muß ein unglückseliger Rat In der Stadt geherrscht haben; denn anstatt dem Manne in seiner Verzweiflung beizustehen, beschuldigte man ihn, er habe Weib und Kinder getötet. Als er die Tat bestritt und seine Unschuld beteuerte, wurde er auf die Folter gespannt. Um von der Qual befreit zu werden, gestand er im höchsten Schmerze, er habe es getan, was er in Wirklichkeit nie ausgeführt hatte. Nach dem Geständnis wurde der Fremde sofort auf den Richtplatz hinausgeführt. Bevor ihm dort,die Augen verbunden wurden, beschwor er aufs neue seine Schuldlosigkeit und rief: »Und zum Zeichen meiner Unschuld werdet ihr sehen, wie diese Eichbäume von heute an gipfeldürr werden; daraus mögt ihr dann erkennen und mir glauben, daß ihr unschuldig Blut vergossen habt.«
So starb der Fremdling und wurde unter dem Galgen begraben. Wenige Tage nachher schon bewährte sich des Mannes Unschuld auf eine erschütternde Weise; denn die von ihm gesuchte Frau kam auf einmal mit ihren Kindern daher, um nach dem vermißten Vater zu forschen. Da entstand große Trauer in der Stadt. Man gab dem Hingerichteten sofort ein ehrliches Begräbnis, der Frau und ihren Kindern aber wurde das Bürgerrecht gewährt. Damit war aber die Tat nicht gesühnt. Und als es Frühling wurde, da schlugen alle Bäume in und um Gießen aus, nur die Eichen kränkelten, manche starben sogar ab, und wie viele man auch nachpflanzte, nicht eine gedieh. So schwer lastet der Fluch des Fremden auf diesen Bäumen.