Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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9. Das Abenteuer

Es schlug die Mitternachtsstunde von der Marienkirche, als Stephan erwachend die Augen aufschlug. Es war dunkle Nacht um ihn her. Wie er hergekommen war, das sich zu erklären, kostete schon einige Mühe, größere, aus dem Labyrinth, in das er geraten war, einen Ausgang zu finden. Er hätte ruhig den Tagesanbruch erwarten können, allein es trieb ihn ein starkes Gefühl fort, das weder Besorgnis, Ahnung noch Gespensterfurcht hieß, sondern – Hunger. Er hatte gestern den ganzen Tag nichts gegessen. Den Weg, den er hergekommen, versperrte ihm die Nacht; wo sollte er auch dort hin? Er gelangte nach einigem Umhersuchen an eine steile Bodentreppe und an deren Ende an eine Tür, welche man glücklicherweise vergessen hatte zu schließen, allein im weiten Hause herrschten nur Nacht und Totenstille. Durch ein Gitter fiel einiges Dämmerlicht vom Treppenfenster, aber die Treppentür war fest verschlossen, der Schlüssel abgezogen. Türen ringsum; aber durfte ihm nicht der Ruf »Diebe!«, wo er anpochte, antworten, konnte nicht eine Einquartierung ihm öffnen? Hier schnarchte es, dort war es totenstill. Aus diesem Schlüsselloch kam etwas angenehmer Speisegeruch, es war eine Küche, und – die Tür war nur eingeklinkt.

Etwas minder vorsichtig als bisher tastete er hier umher. Vergebens, es war eine gute Wirtschaft, alles fortgeschlossen, und in keinem Topf, in keiner Schüssel ein Rest geblieben, der einem preußischen Kavallerieleutnant für vierundzwanzigstündiges Fasten den dürftigsten Trost gewährt hätte. Die Wandschränke, die Küchenspinde alle fest zu, nicht einmal das Hausbackenbrot der Köchin war auf dem Schapp zu finden. Die Asche auf dem Herde war noch heiß, er pustete, um eine Kohle anzufachen, blies sich aber nur die Asche ins Gesicht, ohne Licht zu erhalten. Als ihn ein letzter verdeckter Napf, der ihm in die Hand gefallen war, auch täuschte, verführte ihn fast der Unmut, ihn auf Art und Weise einquartierter Soldaten fortzustellen, wenn ihnen die Speisen nicht nach Geschmack gekocht sind, als ihm ein Lichtsstrahl oder vielmehr ein Lichtpunkt auffiel. Er kam aus einem Schlüsselloch – im Nebenzimmer brannte Licht, mehr konnte er nicht sehen, da der Schlüssel von innen steckte. Er legte das Ohr an. Es war kein Schnarchen, sondern das sanfte Atmen eines Schlummernden. Sollte er pochen? Schlaf oder Essen? fragte er sich, die Klinke in der Hand. Da ging die Tür auf, sie war nicht verschlossen, nicht verriegelt gewesen. Sie knarrte nicht in ihren Angeln, und der Leutnant Etienne stand in dem kleinen, behaglichen Zimmer, ohne daß die Lichter auf den Armleuchtern, beschwert von langen Schnuppen, aufflackerten und die schlafende Person auf dem grünen Kanapee aufwachte.

Zu essen fand er auch hier nichts, als er die Lichter vorsichtig geputzt hatte, dagegen einen Anblick, den er nicht erwartet, den er in den Feldlagern und auf der kriegerischen Heerstraße lange entbehrt. Ein junges Frauenzimmer von ebenso feinen Gesichtszügen wie zartem Körperbau ruhte schlummernd auf dem Kanapee. Nicht daß der Schlaf sie etwa bei der Lektüre oder beim Auskleiden überrascht hätte, sie war nicht hingesunken im Kampf mit ihm, das Gesicht im Arm, die Wange auf der Sofalehne, halb sitzend, wie die müde Natur ihr Recht will. Nein, sie saß aufrecht, so zierlich und hübsch, als wäre vorm Einschlafen jede Falte ihres Kleides, jede Miene ihres lieblichen Gesichtes zurechtgelegt, geordnet worden, die Hände auf dem Schoß verschlungen, die Füßchen in den hochhackigen Atlasschuhen auf einem Polster, das Köpfchen mit seiner hohen Frisur, zweimal so lang wie das Gesicht, über dessen weißer Stirn sie sich aufwärtstürmte, gegen Kissen gelehnt, daß sie sich nicht eindrücke. Es war alles gemacht bis auf den Ausdruck von Unschuld, Frieden und Seligkeit in dem holden Gesicht, und ohne das sanfte Wallen des Busens unter dem Taftkleide hätte man die ganze Gestalt für eine gelungene Wachsfigur im Brautstaate ansehen mögen. Ja, es war eine Braut, eine glückliche Braut, morgen war ein froher Tag; das sprach ihre Miene, das verkündeten Myrten und Rosen im Haar. Es forderte einen Kenner seiner Zeit, um zu wissen, daß die seltsame Positur der jungen Dame nur ihre Frisur zur Ursache hatte. Noch perlte der frischgestreute Puder an dem aufgestrichenen Haar, noch sah man die kunstreich zitternde Hand des Friseurs in den anmutigen Etagen, hier, wo er die Myrtenblüte, dort, wo er die Rose, das Band, die Schleife eingenestelt; ein architektonisches Genie gehörte zur Erfindung eines solchen Bauwerks, mehrere Stunden, um es auszuführen; war nun die gute Erhaltung zu teuer erkauft von der glücklichen Besitzerin mit dem unbequemen Schlaf einer einzigen Nacht, damit es morgen in der ernstesten Stunde ihres Lebens noch glänzend sei und frisch?

Etienne blickte mit steigendem Wohlbehagen das anmutige Geschöpf an, dessen zarte Form eingepreßt war im unnatürlichsten Modezwang und dessen Seele doch in den reinsten Gefühlen der Lust zu schwimmen schien. Es war unmöglich, sie nicht selbst mit Lust anzusehen, und doch scheuchte der Friede, der unter ihren Augenlidern schlief, jeden bösen Gedanken fort, der hätte aufsteigen können. Wie nett und appetitlich war alles vorn Zeh bis zum Wirbel, wie im Einklang mit der Ordnung im kleinen Zimmer, wo nichts Reichtum, aber alles Geschmack, Behaglichheit atmete. Und wie sah er dagegen aus, abgerissen, unrein, verstört von wochenlangem Umhertreiben! Der Gedanke, sie zu wecken, empörte ihn. Aber er wollte auch nicht weggehen. Er leuchtete ihr behutsam ins Gesicht, ein Lächeln schwebte über den Lippen. Es kräuselte hin über die Grübchen der Wange, die Schönheitspflästerchen bewegten sich. Sie träumte wohl von ihrem Geliebten! Wie bekannt sie ihm vorkam! Er mußte das hübsche Kind schon einmal gesehen haben. Auf ihrer Brust schaukelte sich etwas Blankes, ein Medaillon. Er kannte das Bild darin, er kannte die Einfassung, das Bild in Wasserfarben stellte seine Tante, die königliche Rätin, in ihren jüngeren Jahren vor. Er hatte es als Kind zu oft in ihrem Hause gesehen, und es war ihm immer gesagt worden, es sei ein schönes Porträt und einmal sehr ähnlich gewesen. Die Gold- und Perlmuttereinfassung kam von ihm; er selbst hatte sie für sein Taschengeld in Wien bei einem Goldschmied gekauft und mit anderen Geschenken nach Berlin geschickt, denn seine Mutter hatte ihm, dem zehnjährigen Knaben, geschrieben, er möge doch seinen Verwandten eine Erinnerung senden, und besonders der kleinen Stephanie, seiner lieben Kusine, die ihm noch immer so gut wäre und immer frage, ob Etienne denn nicht zurückkäme. – Da lag sie vor ihm. Die Schläferin, das holde Mädchen, die Braut, war seine Kusine Stephanie.

Nein, er konnte sie nicht erschrecken. Er wollte hinaus auf den Flur, dort die Zeit zubringen, bis der Tag anbrach. Aber ein Kuß zum Abschied der lieblichen Freundin seiner Kinderjahre war keine Sünde, er wollte ihn sanft über ihre Lippen hauchen mit seinem Segenswunsche zum Tag, der morgen anbrechen sollte. Er hatte vergessen, daß seit einer Woche kein Rasiermesser an sein Kinn gekommen war. – Sie fuhr zusammen – sie erwachte – sie schlug die Augen auf.

»Barmherziger Himmel!« wimmerte ihre Silberstimme. Die Händchen preßten sich, der zarte Körper zuckte zusammen, als wollte er vor Schreck versinken, das Blut erstarrte, sie konnte nicht den kleinen Finger bewegen.

Der nächtliche Gast, selbst nicht minder erschreckt, beeilte sich, den Leuchter hinzusetzen und ihr Stille zuzuwinken. Er mochte es in seiner Bestürzung ungeschickt machen oder sie in ihrem halbwachen Zustande es falsch auslegen. Sie schrie auf. Zum Glück dämpfte die Angst, die dumpfe Gewißheit, verloren zu sein, die Stimme. Wer aber malt ihr Entsetzen, als der schreckliche Mann, rasch umgewandt, ihr Armgelenk faßte und den Finger ihr an die Lippen legte. »Will Er mich ermorden? – Ach! – Barmherzigkeit!« war alles, was sie hervorbringen konnte. Auch wenn es ihr Mörder, dies der letzte Augenblick ihres Lebens war, der Mensch, um Mitternacht in ihrem Schlafzimmer, sein Anblick war zu furchtbar und wild, sie konnte ihn nicht ansehen, die Augen schlossen sich unwillkürlich, die Lippen bebten, die Lebensgeister zuckten zwischen Sein und Nichtsein. Sie ergab sich willenlos in ihr Schicksal.

Lange mochte er mit so sanften Tönen, wie ihm möglich war, den sanften Namen: »Stephanie! Liebe Stephanie!« ihr ins Ohr flüstern; sie hörte nicht oder nicht wie eine Wachende. »Ich bin kein Mörder, kein Räuber«, fuhr er fort, »in keiner bösen Absicht bin ich hier – ich bin ein Verirrter – ein Preuße – ein alter Bekannter – ein Freund, ein Anverwandter.«

Noch mit gläsernem Blick sah sie den häßlichen Menschen mit dem großen Husarenschnauzbart, dem langen Kinnbart, dem von Kohle und Rauch geschwärzten Gesicht in einem groben, unförmlichen Mollrock neben sich auf ihrem Kanapee sitzen, wo nie ein Mann gesessen hatte, und um Mitternacht mit ihr allein! Und der Mann hielt ihren weißen, vielbewunderten Arm in seiner braun aufgesprungenen Soldatenhand und sah sie groß an, aber das Auge war nicht böse, vielmehr freundlich, teilnehmend. »Wie hübsch du geworden bist«, brach es mit einemmal von seinen Lippen, wie unwillkürliche Bewunderung, und sie schrie nun nicht mehr auf, und das Blut kehrte zurück, das Herz schlug wieder, die Finger waren nicht mehr eiskalte Gelenke, und die Wangen röteten sich.

»Ach Gott, wie ist mir! – Was soll das?« kam es allmählich aus dem gedrückten Herzen, und eine Träne stand ihr im Auge.

»Ich bin unschuldig, liebe Kusine.«

Sie blickte ihn, tief atmend, genauer an. »Wer sind Sie?«

»Ich war nicht immer ein Fremder in Ihrem Hause, liebe Stephanie. Ich heiße Etienne. Meine Mutter ist tot; sie war die Schwester deines Vaters.«

Die eine Träne in Stephanies Auge wich einer Flut. Galt sie der Überraschung, der Erinnerung, oder machte der Schreck sich Luft? Die Brust bebte, aber es war eine wohltätige Erschütterung. Er preßte die kleine Hand an seine Lippen.

»Ach, lieber Herr Etienne«, sagte sie, »wer hätte das gedacht!«

»Teure, liebe Kusine«, sprach er und näherte seinen Mund den Rosenlippen der Wachenden; »Sie haben mich nicht vergessen«, aber sie wehrte ihn hastig ab.

»Ich bin Braut.«

»Doppelt willkommen«, entgegnete Etienne. Sie aber hatte Kraft gewonnen, aufzustehen, und verhüllte ihr Gesicht, gleichwie um, ungestört durch den fremden Anblick, zur Besinnung über alles das Unerhörte zu kommen, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel sie in ihrem friedlich-stillen Leben überrascht hatte.

»Ach, wie lange ist das her!« seufzte sie endlich auf, nicht mißtrauisch, aber doch prüfend zu ihm hinübersehend.

»Daß ich nicht über diese Schwelle trat!« fiel er ein. »Und wieviel ist seitdem geschehen!«

»Ach, mein Gott, Sie sind wohl sehr unglücklich? – Warum ließen Sie sich nicht melden?«

»Verzeihung«, sprach er, schnell die deutsche mit der französischen Sprache wechselnd – er wußte, das flößte in diesem Hause mehr Vertrauen ein. »Ich wollte nicht hierher kommen, ich bin für niemand, der mich kennt, in Berlin, und mein Leben ist verloren, wenn jemand meinen Namen ausspricht.«

Stephanie schrak zusammen, aber die französischen Laute flößten ihr doch wieder Vertrauen ein. Sie fragte, wie das sei.

In gedrängten Worten erklärte er ihr seine Lage, soviel sie davon begreifen konnte, und wie er hergekommen sei.

»Aber nun ist an mir das Verwundern«, schloß er, »wie kommt es, daß ich meine zarte Kusine, die Tochter einer so musterhaften Wirtin, in der unheimlichen Geisterstunde hier und so geputzt finde?«

Ein Purpurrot, das sich über das ganze Gesicht des holden Mädchens ergoß, sagte ihm auf die deutlichste Weise, daß ihre Lebensgeister wieder zurückgekehrt waren. »Monsieur Jeanson, lieber Herr Etienne«, lispelte sie, »Sie wissen wohl noch, er ist unser Friseur ...« Es erfolgte eine sehr genaue Erläuterung, weshalb Herr Jeanson, der sonst ein sehr pünktlicher Mann sei, gerade morgen nicht pünktlich zur Hand sein könne, und weil Herr Jeanson es doch hätte übernehmen können, wenn man einen anderen gerufen, und da die Familie durchaus nicht Herrn Jeanson vor den Kopf stoßen wollte, darum habe sie sich, damit es morgen keinen Aufenthalt gäbe, schon gestern abend frisieren lassen.

»Und morgen, meine schöne Kusine?«

Der Puls ihrer Hand antwortete statt der Lippen.

»Morgen schon, Stephanie? In so wilder, unruhiger Zeit?«

»Es war schon seit langem angesetzt, lieber Kusin.«

»Und wer ist der Glückliche?«

»Verzeihen Sie, es ist Herr Meran, unser guter Kusin. Sie kennen ihn wohl noch?«

»Der glückliche Herr Meran! Er sollte Theologie studieren.«

»Ach, wenn er das wüßte!« brach es unwillkürlich von ihren Lippen, und sie verbarg wieder ihr Gesicht, auf einen Stuhl sinkend.

»Noch ehe der Tag anbricht, soll er von mir selbst erfahren, wie mein Ungeschick ...«

»Um des Himmels willen! Niemand, niemand darf es wissen!«

Was nun geschah in dem stillen Zimmer des liebenswürdigen Mädchens! Es mochte geplündert, die Tapeten konnten zerrissen, die Möbel zerhackt, zum Fenster hinausgeworfen werden; daran hatte die Familie gedacht, aber nicht, daß ein Husarenoffizier in der netten Stube, wo nie ein Stiefel den Teppich betreten hatte und kaum ein Speisegeruch durch die Küche gedrungen war, einmal um Mitternacht die Reste von drei Mahlzeiten allein verzehren und die Tochter des Hauses ihn bedienen werde! Es war so wunderbar, daß Stephanie selbst, wenn sie auf dem Kanapee die Augen zuschlug, den Vorfall für eine Fabel, für den Traum einer erhitzten Phantasie hielt und sich dann noch Gewalt antun mußte, es zu glauben, wenn eine andere Macht sie zum Lachen zwang über den ungeheuren Appetit des Kusins. Und doch klopfte der Ernst bei ihr und bei ihm mächtig an. Die Unterhaltung stockte, keiner mochte sie auf Gegenstände leiten, welche trübe, schwere Erinnerungen, ernste Fragen, lange Erzählungen heraufbeschworen. Der Augenblick war so kurz, ihr Zusammentreffen so wunderbar, neben dem Schreckhaften so wehmütig-lieblich, daß man es wie ein heiteres Spiel zu Ende bringen wollte. Und doch konnte sich Etienne nicht enthalten, als er aufgestanden war und Abschied nahm, zu fragen: »Wird mein Vater, der Inspektor, unter den Gästen sein?«

Stephanie seufzte tief auf und schlug die Augen nieder: »Ach, Sie wissen wohl nicht, wie sich das alles geändert hat?«

»Seit dem Tode meiner Mutter?«

»Gewiß; ach, die gute Frau hat am meisten darunter gelitten!«

»Worunter?«

»An dem Unglück – Ihres Herrn Vaters.«

»Freilicn, freilich!« warf er hin; er wußte selbst nicht, warum er sich den Anschein gab, als wisse er darum. Der abgeschabte Rock des Vaters auf dem Kirchhof fiel ihm ein.

»Der böse Advokat Schlipalius, lieber Kusin, trägt an allem die Schuld.«

»Er wird seiner Strafe nicht entgehen.«

»Ach, er verdient sie um die Härte, mit der er gegen den Inspektor prozessierte. Er war's auch sicher, der die anderen nach dem Prozeß aufhetzte, so unerbittlich streng zu sein. Darum kam es nicht zum Vergleich.«

»Ja, er war ein unerbittlich strenger Mann«, sagte halb mit Hohn der junge Offizier.

»Ach, das waren böse Zeiten, lieber Kusin.«

»Wenn die andere Familie ihn im Stich ließ, den armen, rechtschaffenen Mann, dann, dessen bin ich gewiß, fand er in Ihrem Hause Liebe, Trost, Unterstützung.«

»Wir haben ihn hier sehr beklagt. Mutter und Vater haben oft etwas hingeschickt – aber wie die Sachen standen wegen der Familie und seitdem Vater Geheimrat geworden war, konnten wir den Inspektor doch nicht mehr gut im Hause sehen. Zudem hatte der Papa auch durch den Krieg verloren.«

»O, Sie taten gewiß zuviel für meine arme – meine Mutter, wollte ich sagen. Man hat ihr etwas zugeschickt, ins Haus geschickt!« Etienne war aufgestanden. Er verbarg den tiefen Seufzer, indem er ihre Hand faßte: »Gute Nacht, Kusine. Morgen ist der feierlichste Tag Ihres jungen Lebens, voll Morgenrot und Maiengrün. Liebe Stephanie, kein besseres Hochzeitsgeschenk wünsche ich Ihnen von Ihrer ganzen großen, respektablen Familie, als daß Sie nie dahin kommen, daß man Ihnen etwas ins Haus schicken muß wie meiner armen Mutter. Und wenn es so in den Sternen beschlossen wäre, darben Sie lieber, dulden Sie lieber, Sie finden immer einen Quell in der Brust, aber lassen Sie sich nichts ins Haus schicken von der Mildtätigkeit Ihrer Familie.«

Die Diele als Nachtlager war ihm hart. Er hörte den Hahn krähen und schlief noch nicht. Er hatte auf jeden Tritt gelauscht, so leise Stephanie auftrat, er hatte sie weinen gehört, und doch hatte sie gewiß das Tuch so vorgedrückt, daß jede schluchzende Bewegung unterdrückt wurde, und er hatte mitgeweint. Wie lange, wußte er nicht, als er erwachte; aber nebenan war es laut. Eine fremde ältliche Frauenstimme, die jedoch, je länger sie sprach, ihm nicht mehr fremd blieb, redete zu Stephanie. Das Gespräch wurde französisch geführt.

»Daß ich dich heute würde wecken müssen, wer hätte das gedacht, mein süßes Kind, die jederzeit als die erste im Hause wach ist!«

»Ach, mein Gott, teure Mama.«

»Was ist dir? Du fährst auf und erschrickst?«

»Daß ich so spät aufwache; gewiß, sonst nichts.«

»Du hast böse Träume gehabt. – Du weinst. – Da ist die Myrte heruntergefallen und die Locke verschoben – ach, was ist das für eine Unordnung, der Taft ist zerknickt. Du hast nicht stillgesessen, wie ich dich gestern verließ. Laß das Weinen, es schadet dem Teint; ich wünsche doch, daß meine Stephanie so hübsch vor den Altar treten soll wie damals bei der Verlobung. Alle sagten, sie hätten seit langem kein so schönes Brautpaar gesehen. Du warst so ruhig die Tage über. Hast du etwas auf dem Herzen? Sprich es aus.«

»Ach, liebe teure Mama.«

»Da bist du wieder in der Küche gewesen, hast mir nicht getraut, hast selbst deine Nase hineinstecken müssen, daß die Kohlen ausgebrannt sind. Das ist recht hübsch von meiner ordentlichen Tochter, aber vor einem solchen Tage war das nicht nötig. Ein Glück nur, daß es dem Kleide nichts geschadet hat. – Ach, und die Fußtritte auf der Decke, Sand und Asche...«

»Ach, Mama, liebe Mama, wenn Sie mein Gefühl kennen würden ...«

»Liebes Kind, das ist ein Gefühl, das wir alle haben, wenn wir an den Altar treten. Es denkt sich schwer: das elterliche Haus verlassen zu müssen. Aber dein Bräutigam ist dir nicht fremd, ihr seid ja wie Bruder und Schwester seit früh auf. Er ist gut, fromm und gehorsam, du liebst ihn, er ist ein geachteter Mann und kann es weit bringen. Überdies weißt du, welch einen Respekt er vor uns hat, und ich versichere dir, du sollst auch bei ihm noch sein, als wärst du im elterlichen Hause. Ich werde täglich bei euch mich sehenlassen. Hast du über etwas zu klagen, so wende dich nur dreist und offen an mich, ich will die Mutter auch bei ihm nicht aufgeben. Allein, August gehört nicht zu dem jungen, wilden Geschlecht, das seinen eigenen Willen fordert. Ach, ich weiß nicht, wie dankbar und gerührten Herzens ich jetzt gegen den gütigen Himmel sein soll, daß dieser Neffe mein Schwiegersohn wird, während meine eitlen Wünsche dich sonst dem kleinen Etienne bestimmten. O, du brauchst nicht so feuerrot zu werden. Du warst ihm als Kind außerordentlich gut, und das dauerte noch lange nach, daß mir ordentlich um dich bange wurde.«

»Liebste Mama, nicht so laut, nicht so laut!«

»Ei, wer hört uns denn? Du hast doch nicht deinen Bräutigam bei dir versteckt?«

»Ich bitte Sie, um Gottes willen.«

»Gerade in dem Augenblick, wo du deinem künftigen Gemahl ewige Treue gelobst, ist es deine Pflicht, recht offen gegen dich selbst zu sein. Und da gestehe dir nur, daß dein kleines Herz für den unartigen Kusin Etienne lauter geschlagen hat, als recht war. Ja, ja, du wußtest freilich nicht mehr viel von ihm selbst, da hattest du dich in den Gedanken von ihm verliebt. Wie ihr Mädchen seid, auch die Gesitteten unter euch, die Keckheit der jungen Männer blendet, besticht. Was wir Schlimmes von dem Eigensinn hörten, der, aller Bande los und ledig, gern die Ordnung über den Haufen geworfen hätte, das behagte meiner sittsamen Stephanie, da pochte ihr kleines Herz, wenn es hieß: der Kusin ist zur See gefahren, er ist unter die Husaren gegangen. Als gar die Nachricht kam: er ist übergegangen zu uns, was doch niemals recht war, da er einmal bei den Kaiserlichen sein Patent hatte, da wollte dasselbe kleine Herz zerspringen. Nun sei still, ich war auch einmal jung. Es hört's niemand, August soll es nicht erfahren, und du schlägst dir den Gedanken aus dem Sinn, wie du längst getan hast. Bist ja eine glückliche Braut, und der tolle Etienne, wer weiß, ob er jemals nach Berlin kommt. – Gütiger Himmel, was ist dir? – Du zitterst ja wie im Fieber – sie fällt – eine Ohnmacht. – Hilfe, Hilfe, herbei!«

Stephanie fiel nicht in Ohnmacht, aber rückwärts übergelehnt, mit starren, weit offenen Augen sah sie den Vater, an der Hand den Bräutigam, eintreten.

»Es ist nur ein Schwindel«, sagte der Bräutigam. »Wie ist Ihnen, holde Kusine?«

Sie antwortete durch einen Seufzer, der aus der tiefsten Brust kam, und reichte ihm ihre kalte Hand.

»Anfechtungen, lieber Herr Schwiegersohn«, sagte der königliche Geheime Rat. »In ihrer Lage wohl erklärlich. Die Stunde kann nicht schnell genug den Mädchen herbeikommen, aber wenn sie da ist, wünscht man um alles in der Welt, daß sie nicht da wäre.«

»Das bitte ich mir doch aus«, sagte die Rätin in etwas hartem Ton, »unsere Stephanie nicht unter die ›Mädchen‹ rechnen zu wollen, die solche Wünsche hegen oder gar aussprechen. Unsere Tochter ist das würdige Kind ihrer Familie, ganz in den sittsamen Grundsätzen erzogen, die ihre Eltern und Großeltern zu bewahren sich zur Ehre anrechnen. Hätten wir die Hochzeit um ein Jahr, noch um zwei, um drei Jahr ausgesetzt, sie würde keinen Wunsch dagegen ausgesprochen haben; ja, hätten wir für gut befunden, daß die Verlobung auseinanderginge, auch dann würde unsere Tochter ohne Einrede sich in den Willen ihrer Eltern ergeben haben. Sie hat keinen Willen als die Sitte und die Ehre ihrer Familie. So, Herr Meran, übergeben wir sie Ihnen. Werden Sie das Kleinod zu würdigen, werden Sie das Teuerste, das Schönste, was ein Mutterherz Ihnen bieten kann, nach seinem vollen Werte zu schätzen wissen?«

»Brauche ich einen schöneren Beweis?« rief der glückliche Bräutigam und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

Die Türen wurden aufgerissen, die Brautführer traten ein: »Der Prediger wartet schon unten!« – »Aufrecht! Standhaft!« rief die Mutter, »die Frisur kommt in Unordnung.« – »Meine Herren – meine Damen« – mehr hört Stephan nicht in seinem Verschlage. Einige scharrende Tritte, dann schlugen die Türen zu. Es war niemand im Zimmer nebenan zurückgeblieben, und die Tapetentür zum Kleiderverschlag war verschlossen wie vorher.

Einspruch konnte er nun nicht mehr tun. »Die arme Stephanie!« murmelte er, den Kopf in die Hand stützend. Er verfolgte in Gedanken die Seelenqualen, welche sie während des Gesprächs erlitten haben mochte, jedes Wort der Mutter, jede Rede des Bräutigams verschloß ihr den Mund, so bereit er war zum schweren Bekenntnis. Sie konnte nicht anders handeln, gab er ihr das Zeugnis, und doch, mit welcher Schuldenlast auf ihrem jungfräulichen Herzen mußte sie vor den Altar treten!

Da stürmte etwas die Treppe herauf, die Türen wurden aufgeschlossen, ein Männertritt drang in das Zimmer, ein Druck am leichten Schloß der Tapetentür, und sie flog auf. Der Bräutigam am Eingang sah sich im Dunkel nach dem Gefangenen um: »Herr Kusin! Teurer Kusin!« Er reichte ihm die Hand, riß ihn hervor und drückte ihn an die Brust.

»Tausendmal willkommen, o, mein wertester Anverwandter! Stephanie hat mir beim Einsteigen in den Wagen alles anvertraut – mir allein. – Es ließ sie nicht so zur Kirche fahren. Vergeben Sie der jungfräulichen Befangenheit der eingeschüchterten Braut. Unter dem Vorwand, daß sie etwas vergessen, stahl ich mich herauf. Es weiß niemand, es soll auch niemand darum wissen. – Man kennt Sie hier nicht – heraus! – Retten Sie sich, wenn Sie fliehen müssen, kommen Sie wieder, wenn es Ihnen erlaubt ist – treue Freundesherzen schlagen hier für Sie – jetzt aber leben Sie wohl – jede Sekunde ist gestohlen – man darf keinen Verdacht erregen – Sie kennen uns, Sie kennen die Familie.«

»Edler, werter Vetter!« sprach Stephan. »Gott lohne es Ihnen, und er wird es Ihnen lohnen an der Hand einer solchen Gattin. – Wir sehen uns wieder.«

»Gott schütze und schirme unseren erlauchten großen König«, rief der Kandidat, »verleihe ihm wieder den Sieg und segne seine tapferen Streiter. Gott mit Ihnen, Kusin. Sie wissen, wo Sie Freunde finden.«


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