Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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3. Bruder Gottlieb

Der gute Bruder Gottlieb! – Ich habe ihn wenigstens nie anders genannt, denn gegen mich war er ein guter Bruder. Er schnitzte mir die ersten Haselstöcke zu Reitpferden, er brachte mir die Pfeife aus dem Rohr, er spielte Pferd mit mir und ließ mich immer Reiter sein. Es war nicht das erstemal, daß er mir beigestanden hatte; mein bester Spielkamerad, den ich den mutigen Fritz nannte, gestand mir in einer vertrauten Stunde, sie würden mich arg gehänselt haben, als ich das erstemal zu ihren Spielen gelassen wurde, weil ich ihnen so apart ausgesehen, wenn nicht der starke Gottlieb dabeigestanden hätte. Sie hatten sich damals in mir geirrt, denn ich wurde bald der Tollste unter ihnen. Wie manche dumme Streiche, die von mir ausgingen, wurden vom starken Gottlieb durchgeführt. Er sah mir die Lust an den Augen ab, und nie, wenn es herauskam, gab er jemand an.

Gottlieb galt für einen verlorenen Sohn, für einen, der eigentlich nicht mehr zur Familie gehöre. Einige Familienglisder rechneten die Kosten nach, die der Ungeratene verursacht, sie tadelten, daß der Vater ihn so lange in seinem Hause geduldet. Einiges Licht über ein Verhältnis, das dem Kinde natürlich nicht aufgeklärt wurde, kam mir durch einen Vorfall, welcher sich ungefähr ein Jahr früher ereignet hatte. Gottlieb kam damals wirklich aus dem Hause, und zwar als Alumnus oder Pensionär auf das Joachimsthalische Gymnasium. Bei der Gelegenheit waren unsere mütterlichen Verwandten sehr aufgebracht. Wenn er den Buben eine Profession lernen ließe, so habe der Vater schon übergenug getan, hörte ich laut äußern. Ihn studieren zu lassen, sei Hochmut, eine Kränkung der Familie. Ich erfuhr dann noch, daß meine Mutter nicht Gottliebs Mutter war, und nun schloß ich weiter, daß Gottliebs Mutter eine schlechtere Mutter gewesen sein müsse als meine. Denn sein Rock war von weit gröberem Zeug als meiner, er saß immer unten am Tische und mußte zuweilen aufwarten; ja er putzte dem Vater und mir die Schuhe, und – was mir damals das Merkwürdigste war – er bekam selten etwas von den feineren Gerichten ab.

Auch vom Gymnasium her kamen bald Klagen, Gottlieb sei faul und verführe seine Mitschüler. Der Herr Pate war der gewöhnliche Zwischenträger; doch mußte es wahr sein, denn zuweilen kam ein Herr Inspektor selbst ins Haus und berichtete dem Vater, der dann dem jungen Lehrer schonungslose Strenge anempfahl. »Einen breiten Rücken hat er zwar«, hörte ich einmal den jungen Mann mit bedenklicher Miene antworten, »aber ich unterstehe mich, zu zweifeln, ob Prügel allein erziehen. Der Junge hat einen unruhigen Geist und Riesenglieder, wer weiß, ob ihn die Natur zum Studieren bestimmt hat.« – Da wurde mein Vater sehr zornig, der überhaupt das Wort Natur nicht leiden mochte. Er sagte, der Vater habe zu bestimmen und müsse wissen, was für den Sohn tauge und wofür der Sohn tauge. Die Eltern schon seien zu nachsichtig gegen ihre Kinder, was sollte aber aus der Erziehung werden, wenn fremde Lehrer noch weichherziger sein wollten? Nur die Strenge und die Furcht mache den Mann, und wehe der Nachkommenschaft, wenn die alte Zucht und Sitte nicht mehr mit eiserner Festigkeit gehandhabt werde. Der junge Mensch mußte schweigen, von Bruder Gottlieb wurden aber die Nachrichten immer böser. Er stiftete Aufruhr, verhöhnte die Lehrer, preßte durch körperliche Übergewalt Schwächere zu seinen Komplotten, verkaufte seine Schulbücher und ging oft, was wir nennen: hinter die Schule. Dabei fehlte es denn nicht an wöchentlichen Zeugnissen, wie er dafür gezüchtigt worden, im Karzer gesessen, und es schien mir oft, als sei der Vater mehr über die abgemessene Richtigkeit der letzteren erfreut als über jene Nachrichten betrübt.

Nun hatte ich den Bruder Gottlieb schon recht lange nicht gesehen. Er zerrte mich so hastig fort, daß ich kaum mit seinen langen Beinen Schritt halten konnte. »Hast du auch schon Lust, eine Prügelei anzufangen?« sagte er in dem rauhen Tone, der ihm seit einiger Zeit eigen war. »Da mußt du dir erst andere Knochen anschaffen, du bist doch noch ein Kind.« Das war ein Vorwurf, der mich mit jedem Jahre mehr verdroß. »Bruder Gottlieb!« antwortete ich ihm, »ich hätte nicht geschrien, wenn er mich nicht mit schwarzer Seife reiben wollte.«

»Das wäre freilich ein Elend gewesen, wenn ein so vornehmer Junker gestunken hätte. Du spitzest dich wohl drauf, wenn du einen Hut mit einem Federbusch tragen wirst und einen Degen mit einem Klunker dran?«

So lieblos und rauh hatte er noch nie zu mir gesprochen. Ich warf es ihm vor.

»Ich bin ja kein feiner Herr, und für unsereins braucht nicht so gesorgt zu werden. Habe mir etwas Luft gemacht draußen in der Hasenheide. – Was siehst du mich so bedenklich an, Fritz Hasenfuß? Courage, ich hab einen Schnaps getrunken. – Siehst du's mir an, Junker? Ja, das ist nun mal geschehn, am ›dustern Keller‹. Lauf, was du laufen kannst, Etienne; bin schlechte Gesellschaft für dich.«

Branntweintrinken war mir von der Mutter als das äußerste Maß irdischer Gottlosigkeit vorgestellt worden. Dem Herrn Paten Advokaten wurde wohl des Morgens ein Glas Likör präsentiert, das trank er aber nur für seine Gesundheit. Unsern betrunkenen Küster hatte ich einmal vor Vaters Haustür gesehen im Rinnstein liegen, und ihn fluchen gehört auf die Leute, die ihn forttragen wollten. Das Bild hatte mehr gewirkt als alle Vorstellungen meiner Mutter. Und nun trank Gottlieb auch Branntwein! Jetzt erst fiel mir ein, was sie damit sagen wollten, als sie ihn einen verlornen Sohn nannten. Ich sah ihn schon von der Bank fallen, im Rinnstein liegen, gegen die Bürger losschlagen: Ich umfaßte ihn und bat ihn mit Tränen im Auge so sehr, nicht mehr Branntwein zu trinken.

»Sei ohne Sorge, ich habe keinen Dreier mehr in der Tasche.«

Ich fragte ihn, ob er denn Erlaubnis erhalten, heut nachmittag vors Tor zu gehn?

»Was sie uns nicht geben, muß man sich nehmen. Wird so bald damit aus sein. Wenn mich der Vater nicht losläßt, lauf ich fort. Ich mag nicht ein solcher roter Federfuchs werden, und einen Priesterrock zieh' ich auch nicht an, weiß oder schwarz. Ich will nicht studieren und will sehen, wer mich dazu zwingen kann. Der Vater hat auch nicht studiert, sein Vater auch nicht, was soll ich's denn ausbaden? Ein Gelehrter ist nie ein ganzer Kerl, hat der König selbst gesagt; darum nur sperren sie mich ein, sie wollen mich immer am Gängelband haben und keinen Mann aus mir machen, sondern einen Hund, der ihnen apportiert. Ich will's ihnen aber beweisen, daß man selbst wollen muß. Warum geben sie mich nicht zu einem Förster in den Wald, da hätt' ich hingehört. Hinter dem alten Könige drein, Wetter, wie hätt' ich wollen über Stock und Block peitschen, die Sau hetzen, ihr das Messer an die Gurgel halten, und ›Vivat der König!‹ hätt' ich geschrien aus voller Kehle, wenn die alte Majestät einen Keiler niederstach.«

Er gab mir einen herzhaften Kuß: »Das versprich mir, Fritz«, sagte er, »wenn du mal ein großer Herr und ich Gott weiß was bin, schäm' dich nicht, wenn ich dich dann ›Fritz‹ anrede. Denn wenn ich dich Etienne heißen muß, so bist du nicht mehr mein Bruder.«

Ich bin nämlich außer Etienne und einigen anderen französischen Kalendernamen auch Friedrich getauft, meinem Vater oder dem Königshause zu Ehren. In der Familie wurde ich aber nie so gerufen.

»Aber du«, sagte Gottlieb im Scheiden, »mach', daß du nach Hause kommst, denn bei dir wär's zu früh, wenn du ihnen so antworten wolltest wie ich. Laß dich nur nicht sehen vor dem Paten, und wenn sie von deinem Streich schon wissen, so steck' dich hinter die Mutter.«

Er ging langsamen Schritts über den Lustgarten der Friedrichsbrücke zu. Es war dunkle Nacht geworden. Ein sanfter Regen fiel herab, und ein ferner Donner verkündete ein heranziehendes Gewitter, aber noch immer war Bewegung auf den Straßen, Militärpatrouillen marschierten, Reiter mit Fackeln sprengten über die Brücke, und an den Fenstern des großen Schlosses und in den meisten Häusern war Licht. So machte auch ich mich auf den Rückweg nach Hause.


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