Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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5. Der nächtliche Besuch

Der Graf war ein Höfling, alt im Leben und alt in Kabalen geworden. Und doch hatte ihn ein so langes Studium nicht vollkommen gelehrt, Herr über sich zu werden. Er konnte dreihundertsechzig Tage im Jahr seine Miene beherrschen, wenn er traurig war, vergnügt, wenn er froh war, verdrießlich aussehen; aber am dreihunderteinundsechzigsten wurde die Natur plötzlich Herrin über die Kunst, und ein Neuling in der großen, die Menschen aus ihren Gefühlen zu studieren, konnte auf das merkwürdigste überrascht werden. Solche Augenblicke der Schwäche ließen ihn zweifeln, ob unter dem Monde etwas vollkommen sei.

Wenn er heute nacht vorm Zubettgehen sich eine Viertelstunde im Spiegel besah, war dies nicht eine törichte Eitelkeit, die er längst überwunden hatte. Er war unzufrieden mit sich, daß, wie er sich auch Mühe gab die Stirn zu runzeln, die Augenbrauen zusammenzuziehen, dem Auge einen ernsten Ausdruck zu geben und die Oberlippe über die Unterlippe hängen zu lassen, sein ganzes Gesicht doch einen heiteren Ausdruck behielt. Die Runzeln verschwanden, die Brauen zogen sich auseinander, die Lippe wich, und das Auge lachte. Er wurde noch unzufriedener, wenn er sich entsann, daß er während des ganzen Abends so freundlich ausgesehen und vermutlich auch freundlich gesprochen hatte.

Mit der verdrießlichsten Miene ließ er sich vom Kammerdiener entkleiden; aber als dieser ihm zum letztenmal im Bette leuchtete, war plötzlich ein so wohlgefälliges Lächeln über seines Herrn Antlitz ausgegossen, daß der Diener vor diesem ungewöhnlichen Anblick fast erschreckt zurückfuhr.

»Wann befehlen Sie, daß ich morgen ...«

»Wann du willst« unterbrach ihn der Graf. Daß der Wille des Kammerdieners beim Aufstehen seines Herrn in Betracht käme, war, wenn es auch wie in der ganzen Welt, so in Meronis Hause mitunter vorkam, doch etwas, das weder dort noch hier jemals mit Worten ausgesprochen worden war. Der Kammerdiener ging kopfschüttelnd hinaus.

Der Graf horchte, wie er Tür um Tür zuklinkte, er glaubte bei der tiefen Stille seine Schritte selbst noch zu hören, als er die Treppe hinaufstieg, obgleich sein Verstand ihm hätte sagen müssen, daß dies unmöglich sei. Er fühlte, daß jemand über den Hof ging und am Brunnen plumpte, im nächsten Augenblick war er bei sich gewiß, Eugenie lege sich zu Bett und schüttele die Eiderdaunen zu Füßen, sie machte jetzt das Licht mit der Putzschere aus; er hörte die schweren Tritte des Nachtwächters vom Neuen Markte her, und als es jetzt Mitternacht schlug, unterschied er jeden Metallklang von der Frauenkirche, der Kreuzkirche, dem Dom und selbst aus der Neustadt über die Elbe her. Die Glockenschläge waren ein Zauberspiel, sie wollten nicht aufhören, die Luft, die Nacht lebte, er fühlte sich in seinen elastischen Kissen gehoben, als schwebte er auf den Frauenkirchturm und blickte in den Sternenhimmel und durch die weggenommenen Dächer in die Häuser seiner Dresdener Freunde und Feinde.

Von der Frauenkirche schlug es eben drei Uhr, es war hell im Zimmer, und vor seinem Bett stand eine sonderbare Gestalt. Im flatternden Nachthemd, mit bloßen Beinen, die Mütze vom kahlen Scheitel gefallen, in der Hand einen Armleuchter, grinste ihn der Marquis an. Er mußte selbst eben aus dem Bett gesprungen sein, sich nicht Zeit genommen haben, einen Schlafrock umzuwerfen, und doch durch mehrere Zimmer und einen Korridor gelaufen sein.

»Ermuntern Sie sich ...« sprach der Marquis.

»Brennt es?«

»Noch nicht, aber ein Gewitter steht über unseren Köpfen; es könnte einschlagen. – Es ist Ernst ... Stehen Sie auf!«

Der Graf war aufgestanden. Während er schlaftrunken in die Kleider fuhr, spazierte der nächtliche Gast die Stube auf und ab. Die kleine, nicht schöne Gestalt im zerknitterten Hemd, wie sie, die Arme auf dem Rücken, in immer hastigeren Sprüngen die Zimmerlänge maß, hatte etwas Gespenstisches. Es war totenstill, und der Nachtwächter sang, und am Pirnaischen Tor ward die österreichische Wache abgelöst.

»Sind Sie fertig?« fragte jetzt der Marquis in weit ruhigerem Tone, als man bei seiner heftigen Sprechweise gewohnt war. »So nehmen Sie Platz, ich trage Ihnen vor, und Sie entschließen sich.« Sie hatten sich kaum auf die Ottomane gesetzt, als es auf dem Hofe lebendig ward. Man zog Wagen aus der Remise, Stallknechte fluchten, des Jägers verdrossene Stimme ließ sich hören.

»Müssen Sie fort, Marquis?«

»Noch eh' der Tag anbricht.«

»Was ist vorgefallen? Es ist kein Kurier angekommen. Es klopfte nicht ein einziges Mal an die Haustür. Sie haben geträumt.«

»Ist das Alltagsleben wahrhaftiger als ein Traum? Er soll gerettet werden.«

»Wer?«

»Etienne.«

»Darüber waren wir schon gestern einverstanden.«

»Ich bin mit nichts einverstanden, was Sie getan haben, Graf. Sie haben laviert. Man muß nicht lavieren, wenn Sturm ist. Das Schiff liegt nun im Feindeshafen. Hinaus im Dunkel der Nacht, ehe die Batterien uns empfangen.«

»Sie setzen ihn einer Lebensgefahr aus.«

»Er ist frisch und munter. Übermorgen kann er schon reiten; heute wird er noch in Kissen eingepackt. Nach den Pässen ist geschickt. Die zweite Frage ist nur: bleiben Sie hier oder kommen Sie mit? Ich bitte Sie um letzteres.«

»Bei alledem begreife ich Ihre heutige Sorgfalt nicht. Sie konnten sich ein Jahr lang nicht um ihn kümmern, Sie ließen es zu, daß er im feindlichen Heere unter einem verhaßten König diente, Sie wußten kaum, wo er war ...«

»Die kurze Frage ist: wollen Sie die Partie oder nicht? Entscheiden Sie sich. Hier sind Ihre Beinkleider.«

Es lag etwas so Entschiedenes in den Worten des Marquis, daß der Graf, der offenen Widerstand niemals liebte, sich gedrungen fühlte, seinem Verlangen nachzugeben.

»Aber Sie selbst, teuerer Freund?« sagte der Graf bei dem anempfohlenen Geschäfte.

»Sie können sicher sein; für den Fall, daß ich sterbe, ist mein Testament gemacht. Er ist Universalerbe, aber wissen soll er's noch nicht, er soll es verdienen. Ich will ihn zwingen – zwingen zur Vernunft.«

»Daß er Ihr leiblicher Sohn ist, habe ich seit gestern vermutet, aber Söhne dieser Art, mein verehrtester Freund – unsere Gesetze mögen schlecht sein und das Blut nicht gehörig berücksichtigen, indessen ...«

»Er ist auch, bei Licht besehen, mein legitimer Sohn, aber schnell, daß Sie fertig werden. Ich höre schon die Damen.«

Während der Marquis, nicht ohne Widerstreben des Grafen, ihm den Hosenbund zuschnallte, fuhr er fort:

»Es ist gut, daß sie sich lieben; was der Vater nicht vermochte, wird ihr gelingen – ihn auf den Weg der Ehre zurückzuführen. Ich bitte Sie, wie kann man den König von Preußen lieben?«

»Ich liebe ihn nicht, er hat meine Erwartungen getäuscht, allein ich fürchte, wir täuschen uns auch, wenn wir auf Eugenies Beistand rechnen. Sie wird uns nicht die Hand bieten.«

»Sie muß wollen. Wir haben zu wollen, Weiber nur zu müssen.«

Der Graf zuckte die Achseln: »Wenn sie nun selbst den König von Preußen liebt?«

Der Marquis stand einen Augenblick wie betroffen. Es zuckte über seine Lippen und leuchtete aus seinen kleinen Augen – gewöhnlich das Anzeichen, daß eine neue Vorstellung die vorige verdrängte –; dann tauschte er plötzlich seine Positur, die Miene wurde eine andere, und auch der Ton der Stimme war es, als er leicht und heiter plötzlich anhub: »Desto besser! Wissen Sie was? Er soll ihn auch lieben. Wir lassen ihn bei den Preußen. Er zeichnet sich aus, er avanciert. Mut fehlt ihm nicht, eine schöne Gestalt gab ihm die Natur, adligen Sinn sein Vater, Geld soll er haben, um sich wie ein ungarischer Magnat vom Kopf bis zur Zeh in Gold zu kleiden, die schönsten Pferde, Kopf hat der Junge. Er avanciert vom Rittmeister zum Major, Obrist, vielleicht schon General – doch besser bis nachher. Er hat dem König das Leben gerettet, er muß es noch einmal tun, ein drittes Mal. Eine Schlacht, wo alles auf dem Spiel steht. Dem König wird sein Pferd unterm Leibe erschossen, er gibt ihm seines. Friedrich ist in Gefahr, gefangen zu werden, Etienne deckt ihn mit seinem Leibe wie der Rittmeister Prittwitz bei Kunersdorf. Er sammelt die Husaren, macht eine Attacke, schlägt die Sieger, rettet die Schlacht, Friedrich fällt ihm um den Hals, die Generale stehen mit abgezogenem Hut da: 'Dieser Mann hat den Staat gerettet, meine Herren', sagt der König ...«

»Und?«

»Das übrige steht bei uns. Er ist dem König unentbehrlich, wir haben über ihn zu disponieren. Was sagen Sie dazu?«

»Ich bewundere diesen außerordentlichen Plan, meine aber, daß wir vorerst, wie Sie vorhin beschlossen, ihn sicher und gesund aus der Stadt schaffen.«

Der Marquis nickte billigend mit dem Kopfe und fuhr zur Tür hinaus, denn die Damen verkündeten schon ihre Ankunft im Vorzimmer. Eugenie trat, reisefertig angezogen, ein.

»Es wird so am besten sein, lieber Vater«, sprach sie, ihm die Hand reichend, und ihr Gesicht strahlte von der ersten Morgenfrische.

»So scheint alles ohne mich nicht allein beschlossen, sondern schon ausgeführt. – Wohin reisen wir denn?«

»Doch nur nach unseren Gütern in der Lausitz. Wir sind alle einig.«

»Und dein Freund, liebes Kind – vorgestern noch war die Reise sein Tod ...«

»Sehen Sie ihn selbst«, antwortete sie und öffnete die Tür. In den Saal, wo unter Amalies Aufsicht Kisten, Schachteln und Koffer gepackt und gebunden wurden, war der kranke Offizier, vom Jäger geführt, getreten. Die entwichene Krankheit war wohl noch in der blassen Farbe, in den gläsernen Augen zu erkennen, aber seine aufrechte Haltung, sein fester Blick, die Röte der Lippen sprachen von einer glücklichen Genesung. Der Graf verdrängte den Jäger von seinem Platz und faßte den jungen Offizier unter den Arm.

»Sie sind zu gütig, Herr Graf«, sagte dieser. »Ich hoffe, Ihnen bald keine Sorge mehr zu machen.«

»Sie sind wunderbar seit vorgestern zu Kräften gekommen.«

»Wenn ich nicht alles der liebenswürdigen Pflege in Ihrem Hause verdanken soll, so bekenne ich, daß die Erscheinung meines väterlichen Wohltäters sehr günstig gewirkt hat. Ich war es meinem Vaterlande und meinem König schuldig, nicht länger krank zu sein.«

»Reden Sie davon nur jetzt nicht, mein teurer junger Freund. Ehe Sie nicht vollkommen hergestellt sind, ehe nicht alles zwischen uns«, setzte der Graf leiser hinzu, »ausgeglichen ist, lasse ich Sie nicht aus meiner Familie. Ja, ich möchte Sie eigentlich niemals entlassen. Wer sich in solchen Stunden der Gefahr kennengelernt, ist eigentlich für das Leben verbunden.«

Es war mehr zu tun, mehr zu besorgen, als man erwartet hatte. Das Wichtigste war über Nebensachen vergessen, die Kommandanturpässe verspäteten sich, die Postpferde waren falsch bestellt, und das helle Sonnenlicht eines kalten Herbstmorgens schien bereits über die Dächer der Moritzgasse bis auf das Straßenpflaster, ehe die drei Reisewagen bespannt und bepackt waren. Die Augen der Neugierigen peinigten den Grafen. Seine Blicke schalten Eugenie, Amalie, die Dienerschaft, den Marquis, dessen Ruhe, mit der er den Kaffee trank, ihm unbegreiflich dünkte. Er schien nur mit einem zufrieden, mit dem Kranken, und verdoppelte seine Sorgfalt und Teilnahme für ihn. Endlich bliesen die drei gelben Postillone, man sprang auf und dachte doch jetzt erst daran, wie man sich in den Wagen verteilen wolle.

»Der Kranke kommt in meine Equipage, sie ist die bequemste«, sagte der Marquis, »aber er bedarf weiblicher Pflege und Gesellschaft.«

»So tauscht meine Tochter gern mit Ihnen den Platz, und Sie kommen zu mir«, sagt der Graf.

Mehr mit einem Blick als mit Worten, aber einem Blick, der bis dahin im gräflichen Hause als letzte Autorität gegolten hatte, entschied sich Eugenie dagegen. »Amalie wird mit dem Leutnant fahren. Sie weiß besser, was er nötig hat.«

Die Jäger öffneten die Flügeltüren und bald darauf die der Reisekutschen. Der Genesende saß in seinem Wagen, und Amalie schlug die Tür hinter sich zu. Fast im nämlichen Augenblick war aber auch jemand herzugestürzt, dessen Erscheinen etwas früher sehr unwillkommen gewesen wäre. Der Marquis winkte, sobald er das Fräulein von Klinkauf in der Haustür sah, seinem Kutscher einen Befehl zu, den dieser verstand, und einen stummen Gruß Amalie, den diese ebenso verstand. Der erste Wagen rollte schon dem neuen Markte zu, und der Marquis war im Begriff, zum Grafen einzusteigen, als die Klinkauf hastig herantrat: »Was bedeutet das?«

»Wenn Sie mit mir einsteigen wollen«, entgegnete er mit wichtiger Miene, »kann ich Ihnen Dinge anvertrauen, über die Ihnen die Haare zu Berge stehen sollen.«

Das schien der Dame doch zu viel gefordert, indem sie das reisemäßige Ansehen der Wagen betrachtete. »Was kann das sein? – Sie verlassen Dresden?«

»Wohl dem, der Dresden jetzt verlassen kann!«

»Sie meinen, wegen General Wunsch und Finck.«

Der Marquis blickte gen Himmel, aber nur, um den Augenblick zu ersehen, wo er auf gute Manier in die Kutsche springen konnte. Seine Miene mußte etwas so Unwiderstehliches haben, daß die Dame selbst eine machte, ihm zu folgen, auf die Gefahr, bis zur nächsten Station mitgeschleppt zu werden.

»Was haben wir zu fürchten!«

»Alles!«

»Von Friedrich?«

Der Marquis nickte.

»Wer ist der Kranke?« fragte sie, seine Hand pressend. Er zuckte mit den Achseln. »Ich lasse Sie nicht fort, Marquis. Wer ist der Kranke?« Der Marquis sah sich nach Hilfe um. Plötzlich zeigte er mit dem Zeigefinger auf einen Mann, der aus einem der äußersten Häuser der Straße nach dem Pirnaischen Tor zu trat, und mit den Worten: »Fragen Sie den, er weiß alles«, saß er im Wagen. »Herr Rabener! Ist das möglich?« rief die Klinkauf. Der Marquis nickte feierlich aus der Kutsche, und diese rollte noch mit offenem Kutschenschlage fort, während die Klinkauf mit ausgebreiteten Armen dem Manne entgegeneilte.


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