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Die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben, schritt Chefinspektor Lincoln in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Bath und noch ein anderer Polizeiinspektor standen mit erwartungsvollen Mienen vor dem Schreibtisch und verfolgten aufmerksam jede Bewegung ihres Chefs.
»Wir müssen es herauskriegen, und wir werden es herauskriegen«, sagte Lincoln endlich und blieb stehen. Er nahm eine Zigarre aus dem Kistchen, brannte sie sich an und ließ sich in seinen Sessel fallen.
»McGregor leidet an Asthma«, sagte Lincoln.
»Nun und?«
»Fenster zu, Türen zu, Zimmer vollgeraucht, und McGregor wird sprechen.«
»Ausgezeichnet!« rief Lincoln und rieb sich die Hände. »Das wird bedeutend schneller gehen.«
Er griff nach dem Hörer des Fernsprechers und gab Anweisungen, den Gefangenen zum Verhör hierher zu bringen. Drei Polizisten sollten ihn führen und zur Bewachung während des ganzen Verhörs anwesend sein.
Lincoln stapfte schwerfällig auf die Fenster zu. Es waren zwei große und breite Fenster, die genügend Licht verbreiteten, um auch den entferntesten Winkel des Zimmers zu erhellen. Lincoln zog die Vorhänge vor und befestigte sie an den Ecken noch mit Reißzwecken. Dann knipste er die Schreibtischlampe an und drehte den Schirm so, daß der Platz vor seinem Tisch hell erleuchtet wurde und er selbst im Dunkeln blieb.
Es vergingen noch fünf Minuten in allgemeinem Schweigen, ehe polternde Schritte im Gang verrieten, daß der Gefangene vorgeführt wurde. Gleich darauf klopfte es, und auf Lincolns »Herein« trat erst ein stämmiger großgewachsener Polizist ein, dann folgte McGregor, zuletzt noch zwei Polizisten.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. McGregor«, sagte Lincoln freundlich. Dann sah er zu den Polizisten auf: »Sie und Sie bewachen je ein Fenster, Sie – die Tür. Beim geringsten Fluchtversuch wird sofort geschossen.«
Der große Polizist, der als erster eingetreten war, räusperte sich.
»Bitte ergebenst um die Erlaubnis, daß ich an der Tür wache. Die Fenster sind ungefährlich, da dieses Zimmer fünf Stockwerke hoch liegt.«
»Und warum wollen Sie grade auf dem gefährlicheren Posten stehen?« erkundigte sich Lincoln stirnrunzelnd.
Der Polizist lächelte verlegen.
»Weil ich … doch … hm … ein wenig kräftiger bin als meine Kollegen.«
»Es ist gut«, entschied Lincoln. »Ich warne Sie übrigens: Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf Ihre Bärenkraft, sondern schießen Sie, sobald es nötig ist. Ihr Name?«
»Patrolman Gould. Ich verspreche, sofort zu schießen, sowie der Gefangene etwas Verdächtiges unternimmt.«
»So«, sagte Lincoln aufatmend und setzte sich wieder. »Wir haben uns da Ihretwegen ein wenig in Unkosten stürzen müssen, lieber McGregor. Da kommt es auf ein paar Zigarren auch nicht darauf an. Rauchen Sie?«
»Danke, nein«, lautete die Antwort.
»Um so besser, da brauchen wir Ihnen nicht erst die Handfesseln abzunehmen. Lieber Inspektor«, sprach er zu Bath, »reichen Sie doch allen Anwesenden Zigarren. Es wird ohnehin etwas länger dauern, da haben die Herren dann gleich eine kleine Entschädigung.«
Es erwies sich, daß außer McGregor tatsächlich alle rauchten. Und die Zigarren Lincolns waren gut. Kein Wunder, daß der Raum sich schnell mit blauen Wolken füllte.
»Nun, Mr. McGregor, wollen wir uns mal ein bißchen unterhalten«, meinte Lincoln gemütlich. »Sie sind also das langgesuchte Oberhaupt der langgesuchten Bande. Stimmt?«
»Sie müssen es doch wissen«, antwortete der Verhörte zugeknöpft.
»O ja, wir wissen einiges; vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist. Sehen Sie, wenn ich Sie frage, so geschieht es eigentlich nur zu Ihrem Besten. Sind Sie nämlich McGregor, das Oberhaupt der Bande, so ist alles in Ordnung; falls aber nicht, so wäre es wohl ratsam, es uns schleunigst mitzuteilen, damit wir Schutzmaßnahmen ergreifen. Sie verstehen mich doch?«
McGregor hüstelte ein wenig, dann schüttelte er heftig den Kopf.
»Ich verstehe gar nichts, will auch gar nichts verstehen. Geben Sie sich keine Mühe: Aus mir bekommen Sie nichts heraus, nichts!«
»Warum gleich so böse?« fragte Lincoln vorwurfsvoll. »Da Sie nicht rauchen, darf ich Ihnen vielleicht ein Schokoladenkonfekt anbieten? Es ist ganz harmlos, nicht aus der Schachtel, die heute für Sie abgegeben wurde …«
»Wovon reden Sie da? Ich begreife nicht …«
»Ich rede von den vergifteten Konfekten, die für Sie heute früh abgegeben wurden.«
»Für mich? Das ist nicht wahr!«
»Es ist doch wahr«, beharrte Lincoln. »Tja, lieber Freund, das ist der Segen der guten Taten: Jemand will Sie um die Ecke bringen. Da Sie das Oberhaupt der Bande zu sein scheinen, ist mir das übrigens nicht recht verständlich. Wären Sie nur ein untergeordnetes Mitglied der Bande, so läge der Fall natürlich anders: Ihr Herr Chef hätte alle Ursache, zu wünschen, daß Sie entschlafen, bevor Sie plaudern konnten.«
»Und Ihr Wunsch geht dahin, daß ich sanft entschlafe, nachdem ich geplaudert habe«, sagte McGregor giftig. »Nein, mein Herr, ich glaube Ihnen kein Wort. Und Sie brauchen sich auch weiterhin nicht zu bemühen, mich zu überlisten, denn … Aber kann man hier nicht für einen Augenblick das Fenster öffnen?«
»Nein«, antwortete Lincoln hart. »Man kann nicht.«
»Aber dann … Aber dann bitte ich, doch das Rauchen ein wenig einzuschränken. Ich bin ein kranker Mensch und verlange eine gewisse selbstverständliche Rücksicht …«
»Wieviel Menschen haben Sie umgebracht ohne jede selbstverständliche Rücksicht?« fragte Lincoln scharf.
McGregor hustete heftig, aber er antwortete kein Wort.
»Sie leiden an Asthma, nicht wahr?« erkundigte sich der Chefinspektor nach einer Weile wieder sehr liebenswürdig.
»Ja«, sagte der Gefangene tonlos.
»Eine bekannte Dame von mir litt auch daran«, fuhr Lincoln fort. »Sie konnte es für den Tod nicht leiden, wenn man ein Fenster dicht verhängte. Sie sagte, sie habe das Gefühl, als lege sich eine Zentnerlast auf ihre Brust und sie müsse ersticken. Es muß ein furchtbares Gefühl sein, wenn man glaubt, ersticken zu müssen. Stellen Sie sich einen Raum wie diesen hier vor: Im ganzen Zimmer finden Sie nicht einen Kubikzentimeter reine Luft mehr. Sie atmen das Gift ein, ununterbrochen! Sie wissen, Sie müssen ersticken, elend ersticken! Ihre Hände sind gefesselt, und rundherum sind lauter Bösewichte, die sich über Ihre Leiden noch freuen …«
»Ich kann nicht mehr!« schrie der Gefangene gequält auf. »Haben Sie doch ein wenig Mitleid mit einem kranken Menschen … Luft, Luft! …«
»Ich habe von Hause aus ein mitleidiges Herz mitbekommen, Mr. McGregor«, erzählte Lincoln. »Aber ich habe auch etwas Verstand. Und dieser Verstand sagt mir, daß Mitleid mit einem mehrfachen Mörder, der seine Spießgesellen nicht verraten will, damit sie ungestört weitermorden können, – daß Mitleid mit einem solchen Menschen nicht angebracht wäre. So, und jetzt nennen Sie uns gefälligst den Namen des wahren McGregor.«
»Nein.«
»Nicht? Nun, wir haben Zeit. Wünscht noch jemand von den Herren eine Zigarre? Alle haben noch? So. Aber bitte melden Sie sich ruhig, sobald die Zigarren zu Ende sind.«
Auf der Stirn McGregors stand in winzigen Perlchen der Schweiß. Der Ausdruck seines Gesichts war erschreckend. Man sah, daß er sehr litt.
Es klopfte an der Tür.
»Herein!« rief Lincoln.
»Hier ist eine eilige Meldung, die ich Ihnen abgeben soll«, sagte er und reichte Lincoln ein Papier.
»Es ist gut, Sie können gehen«, antwortete der Chefinspektor. Er las erst, als der Polizist das Zimmer verlassen hatte, und seine Stirn legte sich in böse Falten.
»Mr. Harrogate am hellichten Tage von Banditen entführt«, meldete er gleich darauf ruhig. »Seine Tochter verfolgte den Wagen der Banditen, wurde unterwegs von zwei anderen Banditen beschossen, so daß sie die Herrschaft über den Wagen verlor und gegen eine Mauer fuhr. Zum Glück ist sie nicht verletzt. Die Banditen sind entkommen, alle! Nette Sachen, lieber Mr. McGregor, was? Die Geschichte geht auch ohne Sie.«
McGregor atmete heftig, stoßweise, sein Gesicht war blau angelaufen, die Augen trübe.
»Ich halte das nicht länger aus«, murmelte er. »Ich … ich kann wirklich nicht … Das … ist eine Folter. Ich … ich will alles sagen, alles sagen, aber … machen Sie die Fenster auf.«
In Lincolns Gesicht malte sich Überraschung. Man sah es ihm an: Er hatte mit längerem Widerstand gerechnet.
»Nennen Sie uns vor allem den Namen des wahren Leiters Ihrer Bande«, sagte er streng. »Über das weitere können wir uns dann bei offenen Fenstern unterhalten.«
McGregor nickte krampfhaft. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, aber immer wieder schloß er den Mund, ohne ein Wort hervorgebracht zu haben. Und dann kam es schrill wie ein einziger Schrei:
»Der Mann heißt – – –«
Ein scharfer Knall unterbrach den Schrei. McGregor bäumte sich auf und sank lautlos wieder zusammen. Ein zweiter Knall, dumpfer als der erste, erscholl. Dann hörte man deutlich, wie ein Schlüssel sich im Türschloß umdrehte.
Alle waren aufgesprungen und starrten einander verständnislos an. Es dauerte fast eine Minute, bis alle begriffen hatten, was geschehen war: Der Polizist Gould, der an der Tür gestanden, hatte auf McGregor geschossen, den Raum sofort verlassen und die Tür hinter sich zugesperrt.
Mit blaurotem Gesicht riß Lincoln den Hörer vom Fernsprecher. Seine Befehle überstürzten sich, er schrie und tobte. Und dann legte er den Hörer auf, und es trat Stille ein.
Bath hatte McGregor untersucht. Achselzuckend hob er den Kopf und sah Lincoln mutlos an. Der Chefinspektor begriff sofort, daß McGregor tot war.
Endlich rasselte ein Schlüssel, die Tür sprang auf, und eine Menge Polizisten drangen ein.
»Habt Ihr den Kerl?« brüllte Lincoln sie an.
»Ja, Officer«, meldete der eine Polizist. »Im letzten Augenblick im Hof erwischt. Er hat zwei Mann niedergeknallt, dann wurde er selbst durch einen Schuß umgelegt.«
»Tot?« fragte Lincoln unzufrieden.
»Nein, aber schwer verletzt«, lautete die Antwort.