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Der Frack saß ausgezeichnet. Flannagan betrachtete voller Aufmerksamkeit sein Spiegelbild, aber er fand nichts Tadelnswertes an seinem Frack. Es war eben ein Frack aus seinen besseren Zeiten.
Das Gesicht, das Flannagan aus dem Spiegel entgegensah, war hager, mit scharfen, ausgeprägten Zügen. Die Gesichtsfarbe war bräunlich, machte also durchaus keinen ungesunden Eindruck. Also die Augen? Flannagan wußte, daß sein Blick in letzter Zeit unklar, verschwommen geworden war; wenn er jedoch diesen Blick im Spiegel aufzufangen suchte, so mißlang ihm das. Er wußte auch, daß es unmöglich sei, seinen eigenen Blick im Spiegelbild irgendwie anders als starr und scharf zu sehen, dennoch bemühte er sich lange Zeit um das Unmögliche. Endlich begnügte er sich damit, festzustellen, seine Verkommenheit sei äußerlich nur an den dunklen Ringen um die Augen zu bemerken.
»Tamara!« rief er laut. »Herzenskind, wo bleibst du denn?« Er setzte sich auf einen Stuhl, den einzigen sauberen im Zimmer – er selbst hatte ihn vorher für diesen Zweck abgewischt.
Das Zimmer machte noch immer denselben verwahrlosten Eindruck wie vor sechs Stunden, als Harrogate den Detektiv hier überfallen hatte. Die einzige Veränderung, die darin stattgefunden hatte, bestand darin, daß in der Ecke der Spiegel stand und auf dem Sofa in wildem Durcheinander alle Kleider lagen, die Flannagan eben abgelegt hatte.
Eine Weile wartete Flannagan auf Antwort, dann wurde er ungeduldig.
»Ta – maaa – ra!« schrie er. »Wo bleibst du, alte Hexe?«
»Ich komme ja schon«, hörte er jetzt ihre Antwort, und gleich darauf trat Tamara ein.
Starr sah Flannagan sie an, starr und mit einem seltsam verblüfften Ausdruck im Gesicht. Nach einer Weile aber verbreiterte sich sein Mund zu einem zufriedenen Lächeln.
»Ist es so richtig?« fragte Tamara mißtrauisch.
»Ausgezeichnet«, erwiderte er sofort sehr bestimmt.
Tamara trug ein weit ausgeschnittenes kanarienfarbenes Kleid ohne Ärmel. Das Kleid selbst machte keinen allzu billigen Eindruck und war nach der neuen Mode gearbeitet, Tamara jedoch nahm sich darin aus wie ein Droschkengaul, den man zum Rennpferd machen will. Ihre dicken, feisten Arme quollen aus dem etwas schmalen Ärmelausschnitt üppig hervor, Brust und Rücken waren mit Sommersprossen übersät, und die Zipfel und vielerlei Falten des Kleides hingen an ihren Hüften herab wie die Vorhänge auf der Veranda eines Sommerhäuschens nach einem ergiebigen Gewitter. Das schwarze Haar hatte sie glatt nach hinten gestrichen und es so reichlich eingefettet, daß sie auf vier Schritt Entfernung nach billiger Haarsalbe roch.
»Zeig deine Hände her, mein Liebling«, sagte Flannagan mit ungewohnter Zärtlichkeit.
»Warum?« widersprach sie störrisch und versteckte die Hände hinter dem Rücken.
»Die Pfoten vorzeigen, habe ich gesagt!« brüllte er sie an, und sofort gehorchte sie dem Befehl.
Aufmerksam prüfte Flannagan diese groben, derben Hände, die heute vielleicht dazu bestimmt waren, Austern zu öffnen und kostbare, feingeschliffene Weingläser zu halten.
»Wo sind die Fingernägel?« fragte er streng.
Sie wurde rot.
»Wozu brauche ich Fingernägel?« fragte sie mürrisch.
Sie erwartete einen neuen Ausbruch seines Unwillens, aber sie hatte sich getäuscht.
»Recht hast du, mein Täubchen«, sagte er sanft. »Wozu brauchst du Fingernägel?« Er lachte polternd auf.
An der Tür klopfte es. Tamara ging ins Vorhaus und kehrte gleich darauf in Begleitung der drei Männer wieder, die heute vormittag mit Flannagan Karten gespielt hatten. Sie nahmen schweigend ihre Mäntel ab und zeigten sich in ihren Fracks.
Flannagan war aufgestanden und umschlich die drei wie ein Raubtier seine Beute.
»Alle drei Fracks sind natürlich geliehen?« fragte er stirnrunzelnd. Die Frage war eigentlich überflüssig, denn irgend etwas stimmte an allen diesen Fracks nicht. Dem einen der Männer war die Hose zu kurz, bei dem zweiten spannte sich die Weste so, daß sie jeden Augenblick zu platzen drohte, dem dritten vollends hing der Frack, der viel zu groß war am Leibe wie an einer schlecht ausgestopften Vogelscheuche.
»Nein«, widersprach gerade dieser dritte eifrig. »Dieser Frack ist mein Eigentum. Ich habe ihn von meinem Bruder geerbt. Mein Bruder war etwas stärker, aber ich habe die Hoffnung, es auch noch zu werden.«
»Es ist gut«, sagte Flannagan kurz. »Nun noch einiges über die Unterhaltung. Ihr dürft nicht wie Stockfische stumm am Tische herumsitzen. Jeder muß seine Gelegenheit wahrnehmen, um zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Los nun! Jeder sagt mir, worüber er in der Lage ist, sich am besten zu unterhalten. Ich werde dann das Gespräch so leiten, damit jeder zu seinem Teil kommt. Jim, was weißt du?«
Jim bewegte verlegen seine Schultern.
»Wie … wie meinst du das, lieber Dick?« erkundigte er sich. »Ich soll ein bißchen was erzählen? Zum Beispiel über was denn?«
Flannagan stampfte wütend mit dem Fuß auf und sah nach der Uhr.
»Na, irgend was wirst du doch wissen. Was erzählst du denn sonst deinen Freunden?«
Ein freudiges Lächeln erhellte die gewöhnlichen Züge Jims.
»Mein Bruder hatte mal einen Prozeß über Leichenraub«, rief er hoffnungsvoll. »Er war unschuldig, aber es ist eine großartige Geschichte.«
»Ausgezeichnet: Leichenraub!« erklärte Flannagan. »Das ist ein sehr geeignetes Thema für ein Abendessen im Pennsylvania. Und du, Tom?«
Tom war der junge Mann, dem die Hose nicht paßte. Er legte seine Stirn in ernste Falten und dachte nach.
»Ick möchte wat zur Bildung mit beitragen«, sagte er in einem schauerlichen Englisch, denn er war erst kürzlich aus Italien eingewandert. »Mein Onkel hat mal bei 'nem Gastronom jearbeitet und hat ihm viel abjeguckt. Ick bin in der Lage, stundenlang über Sterne und so 'nen Quark zu erzählen.«
»Ein sehr guter Gedanke«, lobte Flannagan. »Mr. Harrogate wird sich freuen, seine Bildung vervollständigen zu können. Und du, Hubert?«
Hubert war sofort bei der Sache.
»Vielleicht etwas über Mädchenhandel?« rief er freudig und strahlte übers ganze Gesicht. »Ich denke, es muß auch etwas für die Damen dabei sein.«
»Das hatte ich noch nicht überlegt«, stimmte Flannagan zu. Dann sah er Tamara zweifelnd an. »Du, Tamara? Na, vielleicht taut deine Zunge beim Wein von selbst auf. Aber leg' dir ein Tuch um die Schultern, sonst lassen sie dich nicht ins Hotel. So, und jetzt los. Jim, geh voraus und pfeif' 'ne Kutsche herbei.«
Vor dem Weggehen tranken die Männer noch jeder ein mit Bier vermischtes Glas Spiritus, und nur Jim kam für seine Gutmütigkeit um diesen Genuß. Dann zogen alle ihre Mäntel an und begaben sich auf die Straße, wo Jim mit seinem Mietwagen schon auf sie wartete.
»Und jetzt wollen wir mal richtig lustig sein!« rief Flannagan aus. »Einen Abend wollen wir erleben, von dem wir alle noch unseren Enkelkindern erzählen werden. Mr. und Miß Harrogate sollen es nicht bereuen, unserer Einladung Folge geleistet zu haben.«
»Nein, das sollen sie nicht!« riefen die drei Männer fast einstimmig. Nur Tamara schwieg.