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Ein Hausknecht trug Friederikes Brief ins Wirtshaus und fragte dem Bankier von Hahn nach. Der Kerl war schnell gegangen; er hoffte den vielbesprochenen toten Gast bei dieser Gelegenheit aus der Ferne zu sehen. Indem er aber die Tür vom Zimmer des Bankiers öffnete, wie man ihn angewiesen hatte, fuhr er plötzlich zusammen, als er den langen, schwarzen, blassen Herrn gegen sich zuschreiten sah und fragen hörte mit hohler Stimme: was willst du? Die Gestalt schien ihm jetzt noch weit schwärzer, länger und bleicher zu sein, als er sich gedacht hatte.
»Halten zu Gnaden,« sagte der Erschrockene mit einem Gesicht, worin sichtbar Todesangst lag, »ich wollte nicht zu Ihnen sondern zum Herrn Bankier von Hahn.«
»Der bin ich.«
»Sie selbst?« sagte der arme Mensch zitternd, weil ihm zumute ward, als klebten seine Fußsohlen fester am Boden. »Um Gottes willen, lassen Sie mich wieder gehen.«
»Ich halte dich nicht. Wer hat dich geschickt?«
»Fräulein Bantes.«
»Weswegen?«
»Diesen Brief sollen Sie...« Mit diesen Worten, die er nicht vollendete, weil der Bankier einen Schritt näher kam, warf er demselben den Brief vor die Füße und lief in vollem Sprunge davon.
Der Bankier sagte halblaut für sich: »Sind die Leute hierzulande allesamt närrisch?« Er las Friederikes Zeilen, runzelte die Stirn, nickte mit dem Kopfe und ging pfeifend im Zimmer auf und ab.
Indem ward wieder leise an die Tür gepocht. Schüchtern trat der Wirt herein, ehrerbietig die Mütze in der Hand, unter vielen Verbeugungen.
»Sie kommen zu rechter Zeit, Herr Wirt; ist das Essen fertig?« sagte der schwarze Herr.
»Das Essen bei uns wird Ihrer Gnaden ohne Zweifel zu schlecht sein.«
»Nichts weniger als das. Es ist gut gekocht. Ich freilich esse nie viel, aber das soll keinen Vorwurf gelten.«
»Man speist im Goldenen Engel besser.«
»Ich mag nichts vom Engel, ich bleibe beim Kreuz. Sie sind bescheidener, als ich je einen Wirt gesehen habe. Lassen Sie bald decken.«
Der Kreuzwirt rieb die Mütze in den Händen herum und schien verlegen, wie er noch etwas anbringen sollte, das ihm auf dem Herzen lag. Der Schwarze bemerkte es anfangs nicht, sondern ging, vertieft in Gedanken, her und hin. So oft er aber dem Wirte zu nahe kam, wich dieser sorgfältig auf vier Schritte aus.
»Wollen Sie noch etwas, Herr Wirt?« fragte der Bankier endlich.
»He, ja! Eure Gnaden wollen es doch aber ja nicht übel deuten.«
»Nicht im geringsten. Frisch heraus mit der Sprache!« rief der tote Gast und streckte den Arm aus, um dem Wirt freundlich auf die Schulter zu klopfen. Dieser aber verstand die Bewegung unrecht und vermutete das Ärgste. Er mochte sich wohl gar einbilden, der Gast wolle an seinem Kopfe und Genicke den Versuch machen, den derselbe vor hundert und zweihundert Jahren an manchem Mädchen gemacht hatte. Drum duckte sich der Bedrohtglaubende wetterschnell mit dem ganzen Leibe nieder, drehte sich um, nahm einen Satz und war mit einem einzigen Sprunge zur Tür hinaus.
Herr von Hahn konnte sich, wie ärgerlich ihm dies Betragen auch vorkommen mußte, doch des Lächelns nicht erwehren. Er hatte dieselbe wunderliche Schüchternheit an allen Hausgenossen bemerkt; sie war ihm besonders erst seit dem heutigen Morgen aufgefallen. »Hält man mich denn«, sprach er bei sich selbst, »für den zweiten Doktor Faust?«
Es ward abermals an die Tür gepocht, diese nur halb und leise geöffnet, und ein martialischer Kopf mit einer Römernase und dem kräftigsten Schnurrbarte schob sich mit der Frage herein: »Bin ich hier recht? Beim Herrn von Hahn?«
»Allerdings!«
Ein großer baumstarker Mann in Polizei-Livree kam nun hinter der Tür hervor ins Zimmer. »Der Herr Amtsbürgermeister läßt Ihro Gnaden bitten, sich auf einige Augenblicke zu ihm zu verfügen.«
»Verfügen? Das klingt etwas polizeimäßig. Wo wohnt er?«
»Am Ende der Straße, gnädiger Herr, im großen Eckhause mit dem Balkon. Ich werde die Ehre haben, Sie hinzuführen.«
»Nun, das wäre eben nicht nötig, guter Freund. Ich liebe weder militärische noch polizeiliche Eskorten.«
»Der Herr Amtsbürgermeister hat es so befohlen.«
»Gut, und Ihr gehorcht unbedingt. Nicht so, Ihr seid Soldat gewesen?«
»Beim dritten Husarenregiment.«
»Aus welchem Treffen habt Ihr die schöne Narbe auf der Stirn?«
»Hm, gnädiger Herr, aus einem Treffen mit Kameraden um ein hübsches Mädchen.«
»Da wird Eure Frau die Narbe nicht gern sehen, falls sie nicht selbst das hübsche Mädchen war.«
»Ich habe keine Frau.«
»Nun, gleichviel, also ein Liebchen. Denn wer solche Ehrennarben für das schöne Geschlecht zur Schau trägt, der bleibt nicht unempfindlich. Aber nicht so, Eure Auserwählte wird jetzt, wenn sie nun alles weiß, etwas widerspenstig sein?«
Der Schnurrbart runzelte die Stirn. Den Frager belustigte, in den Mienen des Helden eine Art Bestätigung seiner Vermutung zu lesen, und er fuhr daher fort: »Ihr müßt nur nicht den Mut verlieren. Gerade mit Eurer Narbe bringt Ihr Eurer Geliebten den Beweis, was Ihr für einen einzigen Blick ihrer großen schwarzen Augen, ja für eine einzige Locke ihrer braunen Haare wagen würdet.«
Der Polizeibediente verfärbte sich und riß die Augen weit auf. »Ihro Gnaden,« stammelte er, »kennen Sie das Mädchen schon?«
»Warum nicht? Ist's doch gerade das niedlichste Kind in der ganzen Stadt!« versetzte Herr von Hahn lächelnd, den es kitzelte, durch zufälliges dreistes Forschen die Liebeshändel der Polizei so schnell zu erraten. Den Polizeibedienten aber kitzelten die Fragen gar nicht; besonders deuchte ihm das schalkhafte Lächeln des bleichen, totenhaften Antlitzes etwas Gräßliches, Höllisch-Boshaftes zu haben.
»Ihro Gnaden kenne sie schon? Wie ist das möglich? Seit gestern erst sind Sie in der Stadt? Ich habe die Haustür der Putzmacherin mit keinem Auge verlassen, und war ich nicht da, hatte ein anderer acht. Sichtbarerweise kamen Sie nicht ins Haus.«
»Guter Freund, ein artiges Mädchen ist leicht zu kennen, und die Häuser haben auch Hintertüren.«
Der Schnurrbart stand mit verblüfftem Gesicht da, weil er sich in der Tat einer Hintertür erinnern mochte. Herr von Hahn dagegen ward durch die Verlegenheit des Polizeimanns immer mutwilliger und legte es darauf an, ihn ein wenig eifersüchtig zu machen. »Also sie spielt nun«, sagte er, »die Spröde gegen Eure Zärtlichkeiten? Dacht' ich's doch! Die Narbe!«
»Nein, gnädiger Herr, nicht die Narbe! Nichts für ungut; Sie selbst!«
»Was, ich? Laßt Euch das von mir nicht träumen. Pfui, Ihr seid doch nicht schon eifersüchtig? Machen wir beide einen Bund miteinander, versteht mich wohl...«
»Ich verstehe nur zu gut. Daraus wird diesmal nichts! Gott bewahre mich!«
»Ihr führet mich bei Eurer jungen Putzmacherin ein, und ich versöhne sie mit Eurer Narbe.«
Der Polizeibeamte machte eine Bewegung, als ginge ihm ein Schauer über den Leib. Dann lud er mit trockener Amtsmiene den Herrn von Hahn ein, ihm zum Bürgermeister zu folgen.
»Ich werde kommen; aber Eure Begleitung durch die Stadt verbitt' ich mir.«
»Ich habe Befehl so.«
»Und ich befehle das Gegenteil. Also geht und meldet's dem Herrn Bürgermeister. Macht Ihr die geringsten Umstände, so zählt keinen Augenblick mehr auf Euer Mädchen!«
»Herr, um Gottes willen!« sagte der ehrliche Schnurrbart in großer Beklemmung. »Ich gehorche. Aber lassen Sie, gnädiger Herr, um Gottes willen das unschuldige Blut am Leben!«
»Ich hoffe, Ihr traut mir doch nicht zu, ich werde Euch das Mädchen aus purer Liebe fressen?«
»Ihr Ehrenwort, gnädiger Herr, Sie verschonen das arme Kind; dann will ich für Sie tun, was Sie befehlen, und sollten Sie meinen eigenen Tod begehren.«
»Seid ruhig. Ich geb' Euch gern mein Ehrenwort, das artige Mädchen am Leben zu lassen. Aber sagt mir, wie springt Eure Furcht gleich zum ärgsten Stück über? Wer in aller Welt will denn einem schönen Kinde gleich ans Leben!«
»Sie haben Ihr Ehrenwort gegeben, gnädiger Herr. Ich bin zufrieden. Was kann Ihnen auch daran liegen, Dem guten Käterle das Genick umzudrehen? Ich gehe und lasse Sie allein gehen. Auch die Hölle muß Wort halten.«
Mit diesen Worten war der arme Mensch zur Tür hinaus. Er hörte hinter sich den toten Gast laut lachen. Das Lachen drang ihm schneidend durch die Ohren. Es kam ihm wie Hohngelächter des Satans vor. Er lief zum Amtsbürgermeister und erzählte zum Erstaunen desselben seine ganze Geschichte.